Newtons Pendel
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Erfolgreiche Wissenschaft
Gehört Schönheit in die Physik?

Bei vielen großen wissenschaftlichen Erkenntnissen hat Ästhetik eine Rolle gespielt. Eine Spurensuche zu schönen Experimenten, Theorien und Beweisen.

Von Olaf L. Müller 16.08.2019

Viele Beobachter der Physikgeschichte sind sich einig: Hätten die Physiker aus Neuzeit und Moderne einen völlig anderen Schönheitssinn gehabt als im tatsächlichen Verlauf, oder hätten sie überhaupt keine Schönheit gekannt, so hätte sich die Physik auf völlig anderen Pfaden entwickelt als 'de facto'; der Sinn für Ästhetik hat den Erkenntnisfortschritt der Physik in erstaunlichem Ausmaß geprägt, und zwar gerade bei den umstürzenden Errungenschaften von Genies wie zum Beispiel Kopernikus und Kepler, Einstein und Heisenberg. Was hat das zu bedeuten?

Soweit ich sehe, gibt es auf diese Frage bislang keine restlos überzeugende Antwort; manche Autoren versuchen, den historischen Befund herunterzuspielen oder zu leugnen; andere wollen ihn rational wegerklären; und wieder andere greifen zu einer Tat der Verzweiflung, indem sie von einem unerklärlichen Mysterium sprechen. Angesichts dieses diagnostischen Durcheinanders könnte es sich lohnen, einen Schritt zurückzutreten und zu klären, was die Rede von Schönheit mit Blick auf physikalische Errungenschaften überhaupt bedeutet.

Wenn die Physiker ein Experiment, eine Theorie oder eine mathematische Struktur als schön bezeichnen – meinen sie dann vielleicht etwas völlig anderes als die Kunstfreunde mit ihrer Rede von schönen Skulpturen, Gedichten, Filmen, Musikstücken oder Gemälden? Der Verdacht erscheint berechtigt, denn eine Theorie ist etwas völlig anderes als eine Skulptur; wie soll man da beides in exakt demselben Sinne als schön bezeichnen?

"Auch in der Physik könnte der Schönheitssinn auf ähnliche Weise funktionieren wie etwa in der Poesie."

Doch ist diese Überlegung zu streng; sie beweist zuviel. Auch eine Skulptur und ein Gedicht sind völlig unterschiedliche Gegenstände, die wir trotz aller Unterschiede mit unserem Schönheitssinn zu beurteilen, zu loben oder zu tadeln wissen. Um bei Poesie und Bildhauerei mit Fug und Recht von schönen Künsten zu sprechen, brauchen wir hier wie da keine komplette Gleichheit der Kriterien zu verlangen; es genügt, wenn sich zeigen lässt, dass der Schönheitssinn in dieser künstlerischen Disziplin auf ähnliche oder verwandte Weise funktioniert wie in jener. Und was mit Blick auf die verschiedenen Künste gilt, könnte auch bis in die Wissenschaften hinein Bestand haben: Auch in der Physik könnte der Schönheitssinn auf ähnliche oder verwandte Weise funktionieren wie etwa in der Poesie. Tut er das?

Die Frage lässt sich nicht im philosophischen Lehnstuhl entscheiden; stattdessen muss man querfeldein nach schlagenden Beispielen fahnden. Dabei kann sich zum Beispiel herausstellen, dass wir die sorgfältig inszenierte Überraschungskraft eines bestimmten ikonischen Experiments aus Newtons Fundus auf ganz ähnliche Weise ästhetisch schätzen wie die sorgfältig inszenierte Pointe eines japanischen Haikus. Oder dass wir angesichts der Systematisierungsleistung der Maxwell-Gleichungen für ein unüberschaubar großes Feld von Phänomenen auf ähnliche Weise ins Staunen geraten wie angesichts der "Kunst der Fuge" von Bach, deren ungeheurer Detailreichtum sich auf ein einziges Grundthema zurückführen lässt.

Suche nach der Weltformel

Der zuletzt angesprochene Gesichtspunkt gilt als ein wichtiges Kriterium in der Ästhetik; nicht anders in der Physik. So sagte Max Planck: "Von jeher, solange es eine Naturbetrachtung gibt, hat ihr als letztes, höchstes Ziel die Zusammenfassung der bunten Mannigfaltigkeit der physikalischen Erscheinungen in ein einheitliches System, womöglich in eine einzige Formel, vorgeschwebt".
Einheit in der Vielfalt, bei Lichte besehen ist das ein uraltes ästhetisches Desiderat in den Künsten, das aber auch der physikalischen Grundlagenforschung ein dezidiertes Ziel aufgibt: die Suche nach der Weltformel.

Um Missverständnissen vorzubeugen – nicht alle herausragenden Kunstwerke lassen sich unter das Ideal von Einheit in der Vielfalt subsumieren; viele Künstler sind anderen ästhetischen Idealen nachgejagt. Und längst nicht alle Naturwissenschaftler sehen die Weltformel als Ziel ihrer Forschung. Doch bei der Suche nach ästhetischen Verwandtschaften zwischen Künsten und Wissenschaften geht es nicht darum, ein einziges Schönheitskriterium auszurufen, an dem sämtliche ästhetischen Errungenschaften gemessen werden könnten; es geht einfach nur darum, exemplarische Ähnlichkeiten aufzuweisen. Und dass die Einheit in der Vielfalt unter Physikern eine größere Rolle spielt und gespielt hat als unter Künstlern, tut meiner Verwandtschaftsthese keinen Abbruch.

Abgesehen davon haben wir nicht die geringste Garantie dafür, dass sich unser Universum am Ende des Tags mittels einer einzigen Formel beschreiben lässt. Es ist aber verblüffend, wie weit die Physiker mit ihrer Suche nach Vereinheitlichung der unterschiedlichsten Phänomenbereiche vorangekommen sind. Unsere schönsten Hoffnungen haben sich schon jetzt erstaunlich gut erfüllt, und wir stehen längst nicht am Ende der Entwicklung. (Vielleicht hat Sabine Hossenfelder mit ihrem brillanten Lamento über die Sackgasse, in der sie die augenblickliche Grundlagenphysik infolge von überzogenem Schönheitskult sieht, bloß zu früh die Geduld verloren? Das letzte Wort in dieser Sache ist noch lange nicht gesprochen).

Kriterien für Schönheit

Bis hierher ging es nur um zwei Gesichtspunkte, die wir angesichts vieler (aber nicht sämtlicher) künstlerischer und naturwissenschaftlicher Errungenschaften heranzuziehen pflegen, um unsere ästhetische Begeisterung festzumachen: Überraschungskraft und Einheit in der Vielfalt – ist das alles? Keineswegs; es gibt eine Reihe weiterer ästhetischer Gesichtspunkte, die sich mit Gewinn in beiden Feldern dingfest machen lassen: Unter anderem reagiert unser Schönheitssinn sowohl in den Künsten als auch in den Wissenschaften manchmal auf Klarheit, manchmal auf Einfachheit, dann wieder auf Sparsamkeit, sogar auf Rätselhaftigkeit, zuweilen auf sinnenfrohe Pracht und – gerade in der Physik – besonders stark auf Symmetrie.

Die Liste ist nach oben offen, und ihre Elemente zeigen nicht immer in dieselbe Richtung. So ist ein bestimmtes Experiment Newtons zur Weißsynthese, das dieser mit britischem 'understatement' "nicht unelegant" genannt hat, weniger einfach und doch schöner als eine andere seiner diversen Weißsynthesen. Warum? Weil sie mehr Symmetrien enthält, die den Verlust an Einfachheit mehr als ausgleichen.

Auf den ersten Blick wirkt die Vielzahl der newtonischen Weißsynthesen rätselhaft, und man fragt sich: Nachdem es Newton im Anschluss an sein ikonisches Experiment zur spektralen Weißanalyse geschafft hatte, die Spektralfarben wieder zum Weiß zusammenzubringen – warum gab er sich nicht mit dem ersten dieser Experimente zufrieden? Warum veröffentlichte er im Laufe seines Lebens ein halbes Dutzend an Weißsynthesen?

Ein Teil der Antwort dürfte damit zusammenhängen, dass er es geradezu magisch fand, wie sich bunte Farben weiß wiedervereinigen; davon konnte er nicht genug kriegen, wie es scheint. Aber das ist nach meiner Einschätzung nur die halbe Anwort; ihre andere Hälfte ergibt sich nach einem kurzen Blick in die Mathematik.

Mathematische Eleganz

Wieder und wieder kommt es vor, dass mathematische Fachzeitschriften Beweise für Theoreme veröffentlichen, die längst bewiesen sind. Wozu das? Steigt dadurch die Glaubwürdigkeit der fraglichen Theoreme? Kein Stück! Beweis ist Beweis; durch die neuen Beweise werden die alten weder besser abgesichert noch erschüttert – sie werden lediglich von etwas Schönerem verdrängt.

Offenbar ist es den Mathematikern nicht allein um beweisbare Theoreme zu tun, sondern auch um die mathematische Eleganz ihrer Beweise. So schrieb der Mathematiker Godfrey Harold Hardy in seiner Autobiographie: "Für hässliche Mathematik ist auf Dauer kein Platz auf Erden – there is no permanent place in the world for ugly mathematics". Das bedeutet auch, dass am Ende die schönsten Beweise eines Theorems kanonisiert werden, während man ihre hässlichen Vorläufer mit Stillschweigen übergeht.

Ganz ähnlich dürfte Newton mit seinen früheren Weißsynthesen – trotz ihrer Beweiskraft – ästhetisch unzufrieden gewesen sein; nicht anders als die Mathematiker suchte er nach der schönsten Version seiner experimentellen Beweise. Und er war darin erfolgreich. Selbst aus dem verfeindeten Lager der Leibnizianer wurde ihm das Lob höchster Eleganz gezollt, und noch Jahrhunderte später sollte Einstein die Schönheit seiner Experimente preisen.

Willkür bricht mit Schönheit

Einstein selber hat seine Arbeit immer wieder mit besonderer Konsequenz an ästhetischen Vorzeichen orientiert. Ihn störten gewisse Willkürlichkeiten an den damals herrschenden Theoriegebäuden, die er deshalb hässlich fand. Er strebte nach einem Bau von größter Geschlossenheit: Kein Element sollte sich aus der Theorie herausnehmen lassen, ohne sie insgesamt zum Einsturz zu bringen. Die Einleitung zu seiner frühesten Präsentation der Allgemeinen Relativitätstheorie beendete er mit den Worten: "Dem Zauber dieser Theorie wird sich kaum jemand entziehen können, der sie wirklich erfaßt hat".

Obwohl Zauber nicht dasselbe ist wie Schönheit, muss Einstein diese Bemerkung ästhetisch gemeint haben; ihm ging es ja nicht um Hokuspokus im Zirkus oder um echte Zauberei. Einstein hatte sein Publikum nicht unterschätzt; noch ohne jede empirische Bestätigung sind viele seiner Fachkollegen innerhalb kürzester Zeit zu Anhängern der Theorie geworden.

Man mag fragen, ob wir uns nun nicht doch allzuweit von dem entfernt haben, was die alltägliche Rede über die Schönheiten dieser Welt bedeuten mag. Bricht meine Ähnlichkeitsthese nicht spätestens bei hochabstrakten Errungenschaften wie der Allgemeinen Relativitätstheorie zusammen?

"Symmetrie ist ein wichtiger Zug der Ästhetik dessen, was Einstein erreicht hat, und in der Wissenschaftsgeschichte von größter Bedeutung gewesen."

Ich glaube nicht; Symmetrie ist ein wichtiger Zug der Ästhetik dessen, was Einstein erreicht hat. Und Symmetrie ist in der Wissenschaftsgeschichte von größter Bedeutung gewesen; sie kommt auch in den Künsten immer wieder zum Zuge – vielleicht nicht in dem Umfang wie in der Physik, aber immer noch prominent genug, um einer ästhetischen Ähnlichkeit beider Bereiche das Wort zu reden.

Perfekte Symmetrie

Nun hört man oft, dass der Symmetriebruch in den Künsten von entscheidender Bedeutung sei: Perfekte Symmetrien seien leblos und genau kein Zeichen ästhetischer Exzellenz. Doch bei näherem Hinsehen sprechen Symmetriebrüche nicht gegen die Ähnlichkeitsthese. Einerseits sind sie auch in der Physik von großer Bedeutung; dort kursiert das Argument, wonach sich in einer Welt perfekter Symmetrien überhaupt nichts Interessantes ereignen könnte – die Symmetriebrüche der chaotischen Kaonen wurden deshalb nicht ohne Enthusiasmus begrüßt.

Andererseits sollte man sich stets vor übereilten ästhetischen Generalisierungen hüten. Gibt es wirklich keine Beispiele großer Kunstwerke, denen perfekte Symmetrie innewohnt? Es gibt sie, zum Beispiel in der Musik. So hat Bach für den Alten Fritzen einen zweistimmigen Kanon komponiert, von dem er nur die eine Stimme notiert hat. Ganz ans Ende dieser Stimme setzte er mit spiegelverkehrter Taktangabe, spiegelverkehrtem Notenschlüssel sowie spiegelverkehrten bs eindeutige Signale dafür, wie die Sache gemeint war: Man soll einen Spiegel neben der Partitur aufstellen und die im Spiegel sichtbare Simme gleichzeitig mit der Stimme vor dem Spiegel abspielen. Das läuft darauf hinaus, ein und dieselbe Stimme vorwärts und rückwärts zugleich zu spielen – Krebskanon heißt sowas.

Voilà, mehr Zeitsymmetrie geht nicht. Und in den Worten des schweizerischen Physikers Hans Frauenfelder ist Zeitsymmetrie eine "geheiligte Symmetrie" der Physik. Schade nur, dass die Zeitsymmetrie selbst auf der fundamentalsten Ebene nicht zu gelten scheint; doch bedenken Sie: Kein Pianist kann Bachs Krebskanon perfekt symmetrisch spielen. Ähnlichkeiten, wohin man nur schaut ...