Eine Frau sitzt im Büro mit ihrem Laptop und isst während des Arbeitens Salat.
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Gesundheit
Woran man suchthaftes Arbeiten erkennt

Professor Christian Ebner war an einer großen deutschen Studie zu suchthaftem Arbeiten beteiligt. Zehn Prozent der Erwerbstätigen seien betroffen.

Von Christine Vallbracht 23.02.2024

Forschung & Lehre: Professor Ebner, woran erkenne ich, dass ich unter suchthaftem Arbeiten leide? 

Professor Christian Ebner: In dem von uns genutzten Ansatz liegt suchthaftes Arbeiten vor, wenn Arbeitnehmende erstens exzessiv arbeiten und zweitens auch noch zwanghaft arbeiten. Exzessives Arbeiten bedeutet im Kern, dass eine Person sehr viel und hart arbeitet. Zwanghaftes Arbeiten, das auch noch vorliegen muss, bedeutet, dass sich die Leute auch noch permanent getrieben fühlen, arbeiten zu müssen – damit einfach auch nicht aufhören können.

Ein Mann in blauem Anzug sitzt auf der Lehne eines Klappstuhls in einem Hörsaal.
Professor Christian Ebner ist Leiter des Instituts für Soziologie an der Technischen Universität Braunschweig und spezialisiert auf Arbeits- und Organisationssoziologie. TU Braunschweig

F&L: Das Exzessive am Arbeiten, wie wird das gemessen? 

Christian Ebner: Die Dimension "exzessives Arbeiten" wird bei der von uns genutzten Skala über fünf Aussagen erfasst. Die Befragten geben Auskunft, in welchem Maße eine Aussage bei ihnen zutrifft oder eben nicht. Ein Beispiel wäre "Es kommt vor, dass ich weiterarbeite, nachdem meine Kollegen Feierabend gemacht haben." Da sind aber auch andere Aussagen dabei, zum Beispiel so etwas wie "Ich bin stets beschäftigt und habe mehrere Eisen im Feuer". Es wird also nicht nur die aufgewendete Zeit erfragt, sondern auch dieses Viel-auf-einmal-schaffen-Wollen ist enthalten. Das Vorgehen ist beim Erfassen des zwanghaften Arbeitens im Prinzip genauso. Eine der fünf Aussagen zum zwanghaften Arbeiten ist zum Beispiel "Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir frei nehme". Am Ende hat man als erwerbstätige Person einen Durchschnittswert für exzessives und zwanghaftes Arbeiten und wird dann entsprechend klassifiziert.

F&L: Welche anderen Formen des Arbeitens haben Sie in Ihrer Studie als Abgrenzung zu suchthaftem Arbeiten formuliert und definiert? 

Christian Ebner: Wir haben analog zu anderen, auch internationalen Studien, vier Typen identifiziert. Das sind einmal eben die, die suchthaft arbeiten – also exzessiv und zwanghaft. Und dann gibt es noch jene, die exzessiv arbeiten, aber nicht zwanghaft. Entsprechend arbeiten manche zwanghaft – das sind aber sehr wenige – ohne gleichzeitig noch exzessiv zu arbeiten. Als gelassen Arbeitende beschreiben wir Personen, die weder exzessiv noch zwanghaft arbeiten. 

"Suchthaftes Arbeiten, oder Arbeitssucht, ist kein offizielles Krankheitsbild und wird nicht als Suchterkrankung klassifiziert."
Professor Christian Ebner, TU Braunschweig

F&L: Ist es eine Krankheit, suchthaft zu arbeiten? 

Christian Ebner: Suchthaftes Arbeiten, oder Arbeitssucht, ist kein offizielles Krankheitsbild und wird nicht als Suchterkrankung klassifiziert. Es gibt mehrere anerkannte Süchte. Typischerweise sind das dann stoffgebundene Süchte, also Abhängigkeiten von Substanzen wie Alkohol, Canabis, Heroin. Dann gibt es auch nichtstoffgebundene Abhängigkeiten. Diese sind häufiger nicht als Sucht anerkannt. Es gibt aber bei den zuständigen Stellen eine Tendenz, das immer mehr zu tun, also zum Beispiel bei Glücksspielsucht oder neuerdings auch Computerspielsucht. 

F&L: Wodurch wird suchthaftes Arbeiten hervorgerufen? 

Christian Ebner: Grundsätzlich kann suchthaftes Arbeiten durch eine große Zahl von Faktoren hervorgerufen werden. Es hängt zum Beispiel von Persönlichkeitsmerkmalen ab. Manche Personen sind anfälliger für suchthaftes Arbeiten, weil sie besonders gewissenhaft und perfektionistisch sind. Auch Personen mit einer sehr starken Karriere-Orientierung sind eher betroffen. Familie und Erziehung können eine Rolle spielen bei der Entstehung von suchthaftem Arbeiten. Es gibt Hinweise darauf, dass wenn zum Beispiel exzessives Lernen früh gefördert wird, dass das potenziell so durchschlagen kann, dass diese Personen später zu suchthaftem Arbeiten neigen. Auch das Vorbild der Eltern spielt mit rein. Dann gibt es ebenso kulturelle Einflüsse wie den gesellschaftlichen Stellenwert von Erwerbsarbeit und die Erwartung, dass Leute viel und hart arbeiten und dies auch Vorrang hat vor anderen Lebensbereichen. Das, worauf wir in unserer Studie fokussiert haben, ist aber das betriebliche, organisationale Umfeld.

"Grundsätzlich kann suchthaftes Arbeiten durch eine große Zahl von Faktoren hervorgerufen werden."
Christian Ebner

F&L: Welche zusätzlichen Informationen wurden durch Ihre Befragung noch erfasst? 

Christian Ebner: Um suchthaftes Arbeiten zu erfassen, haben wir die "Dutch Workaholism Scale" aus den Niederlanden, eine aktuellere Skala, verwendet. Sie ist international auf Reliabilität, also Verlässlichkeit, geprüft worden und auch auf Validität, also ob das, was da gemessen wird, zum Beispiel auch tatsächlich widerspiegelt, was gemessen werden soll. Darüber hinaus wurden in der Befragung Persönlichkeitsmerkmale, Merkmale des Arbeitsplatzes und des Betriebs, aber auch sehr umfassend gesundheitliche Aspekte der Erwerbstätigen erfasst. Wir haben uns auch angesehen, ob die erfasste Arbeitsweise, das suchthafte Arbeiten, mit anderen Angaben korreliert. 

F&L: Können Sie noch etwas mehr dazu sagen, wie die Befragung konzipiert war? 

Christian Ebner: Wir hatten das Glück, an eine sehr umfassende und für Deutschland repräsentative Erwerbstätigen-Befragung mit insgesamt 20.000 Befragten anzudocken. Wir konnten davon 8.000 Erwerbstätige ergänzend zu suchthaftem Arbeiten befragen. Wir haben von allen Personen Angaben zu Persönlichkeitsmerkmalen, soziodemografische Merkmale wie etwa Bildung und sämtliche Arbeitsplatzmerkmale. Wir haben außerdem eine große Fragenbatterie zu gesundheitlichen Beschwerden von psychosomatischen bis muskel-skelett Beschwerden vorliegen einschließlich einer allgemeinen gesundheitlichen Selbsteinschätzung. 

"Wir haben von allen Personen Angaben zu Persönlichkeitsmerkmalen, soziodemografische Merkmale wie etwa Bildung und sämtliche Arbeitsplatzmerkmale."

F&L: Von wie vielen Erwerbstätigen sprechen wir, die suchthaft arbeiten? 

Christian Ebner: Wir kommen auf ungefähr zehn Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland, die suchthaft arbeiten. Das deckt sich im Übrigen mit einer früheren Erhebung. Die Gruppe der rein zwanghaft Arbeitenden ist verschwindend klein. Das sind unter drei Prozent. Wir haben aber relativ deutlich noch die exzessiv Arbeitenden mit ungefähr einem Drittel, sprich: 33 Prozent aller Befragten. Ein bisschen mehr als die Hälfte arbeitet weder exzessiv noch zwanghaft – also sogenannt gelassen. 

F&L: Wie sieht es denn mit den Beschäftigungsmerkmalen aus? Gibt es welche, die suchthaftes Arbeiten fördern? 

Christian Ebner: Zunächst sieht man, dass suchthaftes Arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen auftritt. Häufungen sind zu finden bei den Selbstständigen. Das lässt sich unter anderem begründen mit Einkommensunsicherheiten und wirtschafltichem Erfolgsdruck. Auch bei den Führungskräften ist die Wahrscheinlichkeit suchthaften Arbeitens größer – insbesondere auf der oberen Führungsebene. Dort gibt es neben hohem Leistungsdruck auch viel Verantwortung, zum Beispiel für Unternehmensstrategie, Personal und Budgets. Auch in der Landwirtschaft tätige Personen stechen übrigens hervor. Das kann sicherlich auch damit zu tun haben, dass große Teile auch Selbstständige sind. Dann kommt natürlich noch mehr dazu: Sie wohnen quasi oft nahe ihrer Arbeit, können also jederzeit arbeiten und haben natürlich auch Verantwortung gegenüber Tieren, Pflanzen und teils auch Angestellten. Interessant ist auch die Gruppe von Erwerbstätigen, die sehr viel im Homeoffice arbeiten. Im Homeoffice kann man im Prinzip jeder Zeit arbeiten. Viele machen das auch und können schwieriger abschalten. 

"Zunächst sieht man, dass suchthaftes Arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen auftritt."

F&L: Gibt es – ähnlich wie das reine Remote-Arbeiten – weitere betriebliche oder inhaltliche Bedingungen einer konkreten Arbeitsstelle, die das Phänomen begünstigen? 

Christian Ebner: Es gibt tatsächlich einige Dinge, die das Phänomen im Betrieb begünstigen. Dazu zählen starre Leistungsvorgaben, Termindruck, ein Übermaß an zu erledigenden Aufgaben, aber eben auch hohe Verantwortung auf der Arbeit. Dann auch prekäre Arbeitsbedingungen, also Arbeitsbedingungen, die niedrige Löhne oder unsichere Beschäftigungen mit sich bringen. Auch eine Betriebskultur oder ein Arbeitsklima, was vor allem jene, die viel arbeiten, wertschätzt, kann Erwerbstätige zu suchthaftem Arbeiten antreiben.

Ein Mann ist wütend und hat eine Gedankenwolke mit vielen Ausrufungszeichen über seinem Kopf.
mauritius images / Bulat Silvia / Alamy / Alamy Stock Photos

F&L: Dann sind das ja geeignete Stellschrauben, um suchthaftes Arbeiten zu vermeiden. Was können speziell Vorgesetzte tun? 

Christian Ebner: Ihre Aufgabe wäre unter anderem Aufklärung, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es suchthaftes Arbeiten gibt und es negative Konsequenzen haben kann, im Übrigen letzten Endes ebenso für den Betrieb. Suchthaft Arbeitende sind öfters erschöpft und entsprechend auch nicht mehr so leistungsfähig. 

Weiterbildungsangebote oder Beratungsangebote zu Zeitmanagement oder Task Management können hilfreich dabei sein, wie man mit Aufgaben umgeht. Als Vorgesetzte oder Vorgesetzter kann ich natürlich auch kulturell in meiner Abteilung ein bisschen was machen, indem ich eine Kultur fördere, die Wert darauf legt, dass man Pausen macht, die dann der Erholung dienen. Dass man Überstunden keinesfalls als Standard erwartet. Als Führungskraft würde ich auch schauen, dass ich die Ziele meiner Mitarbeitenden und auch die Arbeitslasten überprüfe, diese dann gegebenenfalls auch anpasse und auch die richtigen Personen mit den passenden Aufgaben betraue.

"Suchthaft Arbeitende sind öfters erschöpft und entsprechend auch nicht mehr so leistungsfähig."
Christian Ebner

F&L: Wo sehen sie speziell für Angestellte im Hochschulbetrieb Komponenten oder Abläufe, die suchthaftes Arbeiten begünstigen? 

Christian Ebner: Wir haben den Hochschulsektor nicht im Speziellen untersucht. Aber es gibt natürlich mehrere Aspekte in diesem Sektor, die suchthaftes Arbeiten fördern können. Wahrscheinlich ist es auch sinnvoll, Statusgruppen innerhalb des Sektors getrennt zu betrachten. Wenn man jetzt zum Beispiel die Professorinnen und Professoren betrachtet, dann würde ich auf die große Vielfalt und Menge an Aufgaben auch jenseits von Forschung und Lehre, zum Beispiel was Administration betrifft schauen. Hinzu kommt die Verantwortlichkeit etwa für Mitarbeitende oder Finanzen. Die wissenschaftlichen Mitarbeitenden auf der anderen Seite sind ja sehr häufig in prekären, befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Das ist ein typischer Grund für suchthaftes Arbeiten. 

F&L: Dann kämen wir ganz konkret zu den gesundheitlichen Folgen. Welche sind das im Einzelnen? 

Christian Ebner: Das ist einerseits all das, was man als psychosomatische Beschwerden bezeichnen würde. Dazu zählen Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder eben auch emotionale Erschöpfung, körperliche Erschöpfung, Nervosität oder Reizbarkeit. Auch Muskel-Skelett-Beschwerden sind bei suchthaftem Arbeiten deutlich häufiger ausgeprägt: Rücken- und Gelenkbeschwerden beispielsweise. 

"Dazu zählen Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder eben auch emotionale Erschöpfung, körperliche Erschöpfung, Nervosität oder Reizbarkeit."

Zukunft der Arbeit – Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"

Die Märzausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt der "Zukunft der Arbeit".

Die Beiträge:

  • Im Gespräch mit Hartmut Rosa: "Eigentlich sind wir immer auf dem Weg zum Flugzeug...". Zur Beschleunigung und Entfremdung in unserer Arbeitswelt
  • Michael Homberg: Maschinen- und Automationsträume: Der Wandel der Arbeitswelten im digitalen Zeitalter aus historischer Perspektive
  • Hannes Zacher: Schattenseiten der "New Work": Wie lässt sich die psychische Gesundheit erhalten?
  • Im Gespräch mit Nicola Fuchs-Schündeln: Verbreitetes Phänomen: Über den Trend zur Reduzierung der Arbeitszeit

Auch haben wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefragt, wie sich ihre Arbeit verändert hat. Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!

F&L: Würden Sie bestätigen, dass suchthaft Arbeitende sich tatsächlich gesundheitlich schlecht fühlen? 

Christian Ebner: Der Anteil von Erwerbstätigen, der den eigenen Gesundheitsstatus als weniger gut oder schlecht einschätzt, ist bei suchthaft Arbeitenden etwa doppelt so hoch wie bei den gelassen Arbeitenden. Ein ganz interessanter Befund aus unserer Studie ist vielleicht auch, dass suchthaft Arbeitende, obwohl sie tendenziell mehr Beschwerden haben, seltener deswegen zum Arzt gehen. 

F&L: Es gibt also sowas wie ein Aushalten und Ausharren; ein "Ich muss das jetzt ertragen, ich muss da jetzt durch"? 

Christian Ebner: Möglicherweise steckt dahinter einfach die Überzeugung, sie könnten sich auch nicht freinehmen, also dieses schlechte Gewissen sich freizunehmen. Wenn sie nicht zum Arzt gehen, kann das kurzfristig vielleicht auch für den Arbeitgeber erst einmal gut erscheinen, weil die Person da ist. Da suchthaft Arbeitende aber auch sonst schon deutlich häufiger erschöpft sind, stellt sich die Frage, wie leistungsfähig sie eigentlich sind. Eine andere Sache ist natürlich auch, ob diese Arbeitnehmenden langfristig noch zur Verfügung stehen oder einfach für längere Zeit ausfallen, zum Beispiel wegen Burn-out oder Depressionen. Allein schon wegen des Fachkräftemangels in vielen Branchen müssen sich Arbeitgebende überlegen, ob sie dem nicht besser entgegenwirken. 

F&L: Wem schadet suchthaftes Arbeiten über der betroffenen Person hinaus? 

Christian Ebner: Das kommt natürlich darauf an, mit welchen Personen die suchthaft arbeitende Person interagiert. Wenn es außerhalb der Erwerbsarbeit eine Partnerschaft gibt, kann suchthaftes Arbeiten, also die fast ausschließliche Konzentration auf Erwerbsarbeit natürlich zu Konflikten mit dem Partner oder der Partnerin führen. Wenn dann auch noch Kinder mit im Spiel sind, und sich jemand aus Familien- und Hausarbeit komplett rauszieht, kann das natürlich ebenfalls sehr problematisch für das Familiensystem werden. Freundinnen und Freunde werden häufiger gar nicht mehr erst kontaktiert. Obwohl die Freundschaft im Sinne einer Ressource eine wichtiges Element ist, um wieder Kraft und vielleicht auch Orientierung zu bekommen. 

"Freundinnen und Freunde werden häufiger gar nicht mehr erst kontaktiert."

F&L: Wie sah in der Design- und Erhebungsphase Ihrer Studie die Arbeitsteilung zwischen Ihnen als Professor der Arbeitssoziologie an der Universität Braunschweig und dem Bundesinstitut für Berufsbildung aus? 

Christian Ebner: Die Konzeptions- und Erhebungsphase hat gemeinschaftlich mit zwei Kolleginnen vom Bundesinstitut für Berufsbildung stattgefunden. Bis dato gab es schon mehrere Studien zu suchthaftem Arbeiten für unterschiedliche Länder, die aber eben oft sehr kleine Stichproben haben oder sich nur für bestimmte Branchen interessiert haben. Wir wollten das Phänomen gezielt auf einer bevölkerungsrepräsentativen Basis erheben, um erst einmal festzustellen, wie verbreitet es in Deutschland ist. Darüber hinaus war uns vor allem wichtig, auch mögliche berufliche und betriebliche Einflüsse auf suchthaftes Arbeiten zu untersuchen und können nun auch auf einen großen Pool von Angaben dazu zurückgreifen.