Illustration von vier Kompassen und einer Landkarte
mauritius images / Creative Images / Alamy

Wissenshierarchien
Wie sich Wissenschaft und Demokratie ergänzen

Wissenschaft und Bildung halfen, die Demokratie zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Ihr Verhältnis hat sich dabei immer wieder verändert.

Von Michael Hagner 03.02.2021

In ihrer Bundestagsrede vom 9. Dezember 2020, in der sie eindringlich für eine Verschärfung der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie warb, hat Angela Merkel daran erinnert, dass sie sich als junge Frau für das Studium der Physik entschieden habe, weil man zwar Vieles außer Kraft setzen könne, aber keine Fakten wie die Gravitation oder die Lichtgeschwindigkeit. Und sie bekannte sich dazu, dass das heutige Europa ohne die Aufklärung und ohne den Glauben an die Realität wissenschaftlicher Erkenntnisse so nicht existieren würde.

In diesen Sätzen kommen Überzeugungen zum Ausdruck, die sich in das Verhältnis von Wissenschaft und Politik tief eingeschrieben haben. Zum einen der Hinweis, dass zwar in einer Diktatur auch die Wissenschaften Repressalien ausgesetzt sind, gleichwohl aber eine exakte Wissenschaft wie die Physik denjenigen Halt bieten kann, die einen ideologisch beliebigen Umgang mit der Wahrheit verabscheuen. Das heißt, dass in der exakten Wissenschaft über die eigentliche Lehr- und Forschungstätigkeit hinaus ein Orientierungsversprechen liegt, das die weltanschauliche Leerstelle ausfüllt und kritisches Denken vermittelt.

Zum anderen schwingt in der Vorstellung, dass die Wissenschaften durch ihre spezifischen Erkenntnisse und durch ihre rationale Denkweise, die zu diesen Erkenntnissen geführt hat, die Ansicht mit, dass das moderne Europa den Wissenschaften nicht nur seinen Wohlstand zu verdanken hat. Vielmehr haben die Wissenschaften und die ihnen zugrundeliegende Bildung auch an der Etablierung und Aufrechterhaltung der Demokratie einen wesentlichen Anteil.

Worin genau der Nutzen der Wissenschaften für die Demokratie besteht, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Denn es ist nicht zu bestreiten, dass in einer Demokratie politische Handlungen der Zustimmung von Mehrheiten bedürfen, die über Abstimmungen erzielt werden. In der Wissenschaft wiederum, in der es um die Produktion neuer Erkenntnisse geht, haben demokratische Prinzipien keinen Platz. Auch wenn über wissenschaftliche Theorien oder den Wert von Forschungsergebnissen unter Experten leidenschaftlich diskutiert wird, so kommt es doch nicht zur Abstimmung.

"In der Wissenschaft haben demokratische Prinzipien keinen Platz. Wissenschaft und Demokratie verhalten sich jedoch keineswegs indifferent zueinander."

Daraus folgt jedoch keineswegs, dass Wissenschaft und Demokratie sich indifferent zueinander verhalten. Der Aufstieg beider seit dem 18. Jahrhundert weist Interdependenzen auf, die im 20. Jahrhundert, im "Zeitalter der Extreme", ihren bisherigen Höhepunkt gefunden haben. Angesichts von Faschismus und Stalinismus ging es um die Verteidigung der Autonomie der Wissenschaften gegen ideologische Vereinnahmung. Nur in einer Demokratie, so das Argument, könne die Wissenschaft ihrer Aufgabe, der allgemeinen Erkenntnis, der Gesellschaft und am besten der ganzen Menschheit zu dienen, nachkommen. Umgekehrt sind die Wissenschaften für die Demokratie unverzichtbar, weil sie in eigenständiges, kritisches Denken einüben, das vor Mystifizierungen und Simplifizierungen schützt und verantwortungsvolle Staatsbürger hervorbringt.

Objektivität als Bestandteil aufgeklärten Denkens

Gewiss sind an diesen idealtypischen Zuschreibungen immer wieder Abstriche zu machen, aber zumindest in Europa herrscht noch weitgehend Einigkeit darüber, dass beispielsweise der Biologieunterricht davor bewahren soll, die biologische Herkunft des Menschen aus der Weisheit eines göttlichen Plans abzuleiten. Analog dazu sollen die Vermittlung physikalischen, medizinischen, historischen oder literarischen Wissens Kriterien dafür an die Hand geben, fliegende Teppiche von der Gravitation, eine Impfung von homöopathischen Kügelchen, Meinungen von Fakten und eine schnell hingeworfene Befindlichkeitsartikulation per Twitter von Poesie zu unterscheiden – und auch zu erkennen, wo sich das, in Ausnahmefällen, nicht mehr so genau unterscheiden lässt. Genau aus diesem Grund gehören erkenntnistheoretische Erwägungen darüber, dass beispielsweise Begriffe wie Fakten, Wahrheit oder Objektivität nicht ganz so unproblematisch sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, nicht zum akademischen Privatissimum. Sie sind vielmehr Bestandteil eines aufgeklärten Denkens, das sich der unterschiedlichen Zugänge zur Welt bewusst ist. Es ist kein Zufall, dass solche Fragen im Zeitalter der Extreme mit besonderem Nachdruck gestellt worden sind, als diese Pluralität grundsätzlich in Frage gestellt wurde.

Das Bündnis zwischen Wissenschaft und Demokratie gehörte also zum politischen Rüstzeug westlicher Demokratien in Zeiten des Kalten Krieges. Spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer ist dieses Bündnis marode geworden. Wenn man so will, traten Wissenschaft und Demokratie in ein postmodernes Stadium ein, in dem es nicht mehr darum ging, große politisch-gesellschaftliche Ziele zu verwirklichen. Eine andere Dimension des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft schob sich in den Vordergrund, nämlich die Fixierung wissenschaftlichen Wissens als quasi-ökonomische Ressource mit einer gleichzeitigen Erosion traditioneller Wissenshierarchien. Natürlich war dieses Kriterium auch vorher wirksam, aber es wurde nicht so unverblümt als wesentliche Aufgabe der Wissenschaften herausgestellt.

Wissen als quasi-ökonomische Ressource

In idealtypischer Verkürzung lässt sich diese Transformation in vier Schritten rekonstruieren: Zunächst wurden seit den 1960er Jahren die Investitionen in Bildung und Wissenschaft signifikant erhöht, wobei alle Bereiche profitierten. Dann kam es, zweitens, zu einer gezielten Förderung derjenigen Bereiche, von denen man sich die stärksten ökonomischen Effekte versprach. Die massive Förderung der biomedizinischen Wissenschaften seit den 1980er Jahren ist keineswegs nur dadurch motiviert gewesen, die Gesundheitssituation der Bevölkerung zu verbessern, sondern hatte mindestens ebenso sehr zum Ziel, neue Märkte zu schaffen, die die wirtschaftliche Kraft der Industrienationen stärkten. Drittens wurde die immer schon problembehaftete Unterscheidung zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung so sehr aufgeweicht, dass die Grundlagenforschung auf einmal als ideologisch aufgeladene Schimäre dastand, der eine immer geringere Daseinsberechtigung zugebilligt wurde. Mit der Marginalisierung dieser traditionellen Unterscheidung wurde, viertens, der Boden für eine neue Differenzierung bereitet: diejenige von innovationsrelevantem und innovationsirrelevantem Wissen, begleitet von einer forcierten Delegitimierung des letzteren.

In diesem Stadium befinden wir uns immer noch – mit der Konsequenz, dass die Inanspruchnahme des Wissens als (ökonomisch verwertbare) Ressource zum selbstverständlichen gesellschaftlichen Mandat geworden ist. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht die in Kauf genommene Verkümmerung der kritischen Dimension des wissenschaftlichen Tuns und Denkens zu einer erheblichen Schwächung der Wissenschaften in der Gesellschaft geführt hätte.

Bereits 1938 hat der Soziologe Robert Merton davor gewarnt, dass der Platz der Wissenschaft in der Gesellschaft nicht nur gefährdet wird, wenn ihr Wert nach politischer Angemessenheit taxiert wird, sondern auch, wenn ihr ökonomischer Nutzen im Vordergrund steht. Diese Diagnose trifft nach wie vor zu. Wenn nur die ökonomische Seite betont wird, kann es nicht ausbleiben, dass die Wissenschaften in der Gesellschaft genau danach bewertet und Wissen bzw. Erkenntnis nach quantitativen Parametern vermessen werden. Ihr Beitrag zur demokratischen Emanzipation und zur argumentativen Wappnung gegen Fundamentalismen aller Art droht dabei in Vergessenheit zu geraten. In diesem Zusammenhang ist es zudem schwierig, die diskursive Funktion der Wissenschaften zu legitimieren, wenn ihr Dialog mit Politik und Gesellschaft zunehmend über Corporate Communication abgewickelt wird. Niemand sollte sich wundern, wenn sie dann letztlich nach Kriterien beurteilt werden, die auch für Politik, Wirtschaft, Medien oder Celebrity Culture gelten.

Der unauflösbare Widerspruch der Wahrheitssuche

Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind gravierend, weil sie ins Herz des wissenschaftlichen Selbstverständnisses zielen. Der unauflösbare Widerspruch, dass die Wissenschaften stets nur vorläufige, revidierbare und nicht selten einander widersprechende Ergebnisse präsentieren, die innerhalb der Fachgemeinschaft entsprechend kontrovers diskutiert werden, während von außen stabile, zuverlässige und verwertbare Ergebnisse erwartet werden, ist keineswegs neu. Schon der Bakteriologe und Wissenschaftssoziologe Ludwik Fleck hatte 1935 zwischen einer esoterischen, auf den kleinen Kreis von Spezialisten zielenden, und einer exoterischen, an die Laien gerichteten Kommunikation der Wissenschaften unterschieden. Erstere verläuft laut Fleck tentativer, kontroverser und ergebnisoffener als letztere, die tendenziell dogmatisch ist, um die Wahrheits- und Konsensansprüche der Wissenschaften zu demonstrieren.

Eine derart differenzierte Kommunikation ist legitim und wohl gar nicht zu vermeiden, aber sie ist störanfällig, vor allem dann, wenn die Selbstsicherheit der Außendarstellung mit den Vorläufigkeitsüberzeugungen der Binnenkommunikation in einen realen oder scheinbaren Konflikt gerät. Wenn von außen kommende Akteure mit eigenen Interessen einen genaueren Blick auf die Forschungspraxis werfen und die strukturelle Vorläufigkeit und Uneinigkeit thematisieren, erwischen sie die Wissenschaften auf dem falschen Fuß, selbst wenn in zentralen Fragen wissenschaftlicher Konsens besteht. Die Klimawissenschaften waren auf den massiven und perfiden Widerstand, der nicht nur ihre Ergebnisse anzweifelte, sondern ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zog, erst einmal nicht vorbereitet, obwohl doch in der Frage, ob der unbezweifelbare Klimawandel anthropogen verursacht sei, spätestens seit 2000 kein Zweifel mehr herrschte. Dass die Klimaforschung ihre Ergebnisse trotz aller Anfeindungen behaupten konnte, ist ein Erfolg, der ohne die Rückbesinnung auf argumentative und kritische Fertigkeiten sowie eine produktive Zusammenarbeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vielleicht nicht erreicht worden wäre – womit der Klimawandel natürlich noch nicht gestoppt wird.

Hypothesen als wissenschaftlicher Normalfall

Selbstverständlich ist eine solche Entwicklung nicht. Als vor einigen Jahren die vergifteten Reden von alternativen Fakten, post truth und Fake news salonfähig wurden, ging man weltweit auf die Straße: March for Science. Dagegen ist nichts zu sagen, aber die Plakate verrieten bisweilen eine naive Rückwendung zum Fakten-Positivismus des 19. Jahrhunderts, dem man nur kopfschüttelnd entgegnen konnte: Wir sind doch schon mal klüger gewesen, indem wir in Rechnung stellten, dass es die Wissenschaften eher mit Nicht-Wissen als mit Wissen zu tun haben und dass es keineswegs nur um auf der Straße liegende Fakten geht, sondern um Messungen, Modelle, Instrumente, mangelhafte Datensätze, Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten, die den Spezialisten oft genug unterschiedliche Deutungen nahelegen. Dieser wissenschaftliche Normalfall ist für das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie dann relevant, wenn er in der Öffentlichkeit mit gereizter Aufmerksamkeit wahrgenommen wird.

"Die Corona-Pandemie ist ein gigantisches Realexperiment, welches das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie auf die Probe stellt."

Eine solche Situation erleben wir gegenwärtig mit der Corona-Pandemie, deren Präzedenzlosigkeit nicht in der Pandemie als solcher besteht. Die gab es bekanntlich früher auch schon. Präzedenzlos sind die täglich wechselnden Verschiebungen an der Grenze von Wissen und Nicht-Wissen, die durch die wissenschaftliche Forschung selbst überhaupt erst generiert werden, die aber in der Öffentlichkeit ebenso schnell ein kontrovers diskutiertes Thema werden wie in den Wissenschaften selbst. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass die Menschheit in dieser Situation dringend auf die Wissenschaften angewiesen ist, aber deren Aktionen beschränken sich nicht auf Experimente im Labor und Simulationen am Rechner, sondern betreffen auch ihre Auftritte in der Öffentlichkeit. So gesehen ist die Corona-Pandemie ein gigantisches Realexperiment, welches das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie auf die Probe stellt.

Mit ihren Empfehlungen erfüllen individuelle und institutionelle Experten wie zum Beispiel die Leopoldina – die vor Weihnachten einen harten Lockdown nahelegte, auf den die Bundeskanzlerin sich in ihrer eingangs erwähnten Rede bezog – als Nationale Wissenschaftsakademie zweifellos den Auftrag, den Politik und Gesellschaft ihnen gegeben haben, und er basiert im besten Fall auf einem Konsens unterschiedlicher Disziplinen und Forschungskulturen. Damit erübrigt sich das Engagement der Wissenschaftler in der Öffentlichkeit aber keineswegs. Agieren in der Demokratie heißt, eine Stellungnahme der Leopoldina als Handlungsgebot, aber nicht als Diktat anzusehen, und das schließt auch ein, sie mit begründeten Argumenten zu kritisieren. Das ist weder Frevel noch Nestbeschmutzung, sondern zeigt, was eine solche Stellungnahme ist, auch wenn sie von der Exekutive in die Tat umgesetzt wird: eine Schlussfolgerung aus dem gegenwärtigen Stand des Wissens.

Heikler Grenzbereich von Wissen und Nicht-Wissen

Für das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie ist viel gewonnen, wenn sich in den Wissenschaften die Erkenntnis durchsetzt, dass es nicht nur eine esoterische und exoterische Kommunikation gibt, sondern dass es auch in der öffentlichen Kommunikation unterschiedliche Rollen gibt. Die autoritative Akademie, die als Expertenversammlung mit einer Stimme spricht – und wohlbegründete abweichende Stimmen nicht unterdrückt – ist eine Rolle, die kritische Intervention eines unabhängigen und kompetenten Wissenschaftlers eine andere. Und diese beiden Funktionen gilt es auseinanderzuhalten. Um noch einmal auf Flecks Unterscheidung zurückzukommen: So, wie es in der esoterischen Wissenschaftskommunikation auch Einigkeit geben kann, können und sollten in der exoterischen Kommunikation auch Dissens und Ungewissheit in dem stets heiklen Grenzbereich von Wissen und Nicht-Wissen zugelassen werden. Nur in dieser Komplexität können die Wissenschaften ihren Beitrag zur Demokratie leisten. Wie diese sich dafür erkenntlich zeigt, wäre dann vielleicht ein Thema für die Post-Pandemie.