Das Bild zeigt einen Tafeleisberg in der Antarktis
Thomas Ronge/AWI

Interview
Das Meer, das große Unbekannte

Ein Gespräch über die Meere und den Einfluss des Menschen mit Professorin Karin Lochte, Direktorin des Alfred Wegener Instituts für Meeresforschung.

Von Felix Grigat Ausgabe 11/17

Forschung & Lehre: Frau Professor Lochte, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich mit den Meeren. Was fasziniert Sie so sehr daran?

Karin Lochte: Das große Unbekannte! Wir wissen noch herzlich wenig vom Ozean, gerade über die Tiefsee. Wir können immer noch viele Entdeckungen machen.

F&L: Erinnern Sie sich an ein besonderes Erlebnis auf oder am Meer, bei dem Sie merkten: "Das ist mein Lebensthema"?

Karin Lochte: Da gibt es zwei, die mich fasziniert haben: Das eine war der Anblick des Planktons, der kleinen im Meerwasser treibenden Algen und Tiere, unter dem Mikroskop. Das ist einfach wunderschön, eine ganz eigene Welt. Dann hat mich fasziniert zu verstehen, was diese Organismen bewirken und später erkannte ich, dass der Stoffumsatz, den diese kleinen Algen haben, ein riesiger Beitrag zum Globalhaushalt der Erde ist. Das zweite Erlebnis ist aus der Tiefseeforschung: Wir haben in ca. 4.000 Meter Tiefe relativ frisches Algenmaterial gefunden, und die Frage stellte sich: Wie kommt es dahin und wie ist die Tiefsee verbunden mit der Oberfläche des Meeres?

F&L: Also gab es auch ein ästhetisches Erleben, einen Moment der Schönheit?

Karin Lochte:
Auf jeden Fall. Dieses Sichwundern über eine verborgene Welt, die auch wirklich sehr schön ist.

Biologische Vielfalt

F&L: Das steht ja durchaus in einer Spannung zu dem, wie man heute oft über die Meere spricht, in eher negativen, teilweise dramatischen Kategorien: Die Verschmutzung durch Plastikmüll, die Ausbeutung durch Überfischung, das Zurückgehen der Artenvielfalt und die Jagd nach Bodenschätzen auf dem Meeresgrund. Dazu kommen aktuell die Berichte über das Ansteigen der Temperatur weltweit, das Abbrechen riesiger Eisberge in der Antarktis und das Steigen des Meeresspiegels. Ist die Lage der Ozeane so prekär?

Karin Lochte: Wir sehen im Meer nicht so genau, was uns bereits an biologischer Vielfalt verloren gegangen ist. An Land ist das viel eindeutiger, wenn z.B. in einem Wald nur Fichten stehen. Das geht im Meer so nicht. In einigen Meeresgebieten können wir feststellen, dass Organismen verloren gehen und andere dazu kommen. Die Auswirkungen davon verstehen wir noch nicht so genau, doch haben wir nicht mehr das Gefühl, das Meer sei eine große unendliche Ressource, die nicht vom Menschen beeinflusst wird. Er beeinflusst das Meer in einer Art und Weise, die man messen und verfolgen kann. Sei es das Plastik im Meer, die Ozeanversauerung oder die Temperaturerhöhung. Das alles können wir jetzt schon in großem Maßstab sehen. Ja, der Ozean wird beeinträchtigt durch das, was wir Menschen machen.

F&L: Wieviele von den Lebewesen im Meer sind überhaupt schon bekannt und erforscht?

Karin Lochte: Das ist eine Hunderttausend-Dollar-Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann. Es gibt Hochrechnungen. Aber da stellt sich die Frage, schauen wir auch auf Bakterien und Viren oder bleiben wir bei größeren Organismen stehen?

Der Einfluss des Menschen

F&L: Wo ist der Einfluss des Menschen auf die Meere besonders signifikant?

Karin Lochte:
Die meisten Menschen leben an der Küste, also in einem relativ schmalen Bereich. Hier interagieren Mensch und Meer am stärksten miteinander. Hier findet die Fischerei hauptsächlich statt, es wird nach Öl gebohrt, und die Schifffahrt ist hier am stärksten. Es häuft sich die Abwassereinleitung, der Plastikmüll. Dazu kommen die Erholungssuchenden, die ein schönes, sauberes ästhetisches Meer haben wollen.

F&L: … wenn die Strände frühmorgens aufgeräumt worden sind…

Karin Lochte: So schlimm ist es nicht. Es gibt schon viele Verbesserungen: Die Schiffe dürfen den Müll nicht mehr über Bord kippen, sie dürfen keine mit Öl belasteten Abwässer ablassen usw. Da gibt es Regelungen, an die sich auch viele halten. Schwarze Schafe gibt es natürlich immer. Es sind schon Fortschritte gemacht worden, aber dennoch: es ist einfach die Menge, die große Zahl von Städten, die stetig wachsen, und der stetig steigende Schiffsverkehr. Das ist eine ganz erhebliche Belastung. Am schlimmsten ist es in der Nähe der großen Häfen und im Küstenbereich.

F&L: Wird in den europäischen Häfen etwas mehr auf Nachhaltigkeit geachtet als zum Beispiel in asiatischen?

Karin Lochte: Man kann es vermuten. Natürlich versuchen die großen Häfen in Europa grüner zu werden. So hat zum Beispiel Hamburg jetzt eingerichtet, dass Schiffe mit Landstrom versorgt werden können und im Hafen ihre Maschinen nicht mehr laufen lassen müssen. Aber es wird noch nicht richtig genutzt. Ja, man versucht es, aber bei einer globalen Wirtschaft ist das nicht so einfach.

Das Meer als Kohlendioxidspeicher

F&L: Das Meer speichert auch das vom Menschen verursachte Kohlendioxid. Dies reduziert die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre, bedeutet aber zugleich, dass die Meere saurer werden, der pH-Wert sinkt. Welche Folgen hat dies für Tiere und Pflanzen im Ozean?

Karin Lochte: Der sinkende pH-Wert wirkt sich ganz verschieden auf die Organismen aus, vor allem auf alle Organismen, die eine Kalkschale bilden. Die Kalkbildung ist ja stark abhängig vom pH-Wert. So gibt es einige kalkschalige Algen, aber auch Tiere, zum Beispiel Korallen, Flügelschnecken und diverse Muscheln, an denen man dies untersucht. Der Ozean wird ja an der Oberfläche saurer als in den Tiefen, weil es relativ lange dauert, bis sich dieser Effekt in die Tiefsee durchsetzt. Die Effekte sind dort am stärksten, wo sich das meiste CO2 im Meerwasser lösen kann, nämlich da, wo das Meerwasser kalt ist. Deshalb vermuten wir, dass die größten Auswirkungen auf die biologische Kalkbildung und auf andere biologische Prozesse in den kalten Polarmeeren entstehen können. Es gibt auch noch andere Effekte, zum Beispiel auf den pH-Wert im Blut. Die Sauerstoffbindung des Blutes kann beeinträchtigt werden. Es ist ein komplexes Geflecht von Prozessen, die davon beeinflusst werden können. Und dann muss man sehen, welche Organismen stark betroffen sind und Schwierigkeiten haben und welche Organismen sich an diese Veränderungen anpassen und sich unter solchen Bedingungen gut durchsetzen können. Das ist ein Thema, das noch an der vorderen Front der Forschung liegt.

Die Erwärmung der Meere

F&L: Seit vielen Jahren forscht das AWI intensiv in Arktis und Antarktis. Dabei geht es auch um die Erhöhung der Temperatur. So messen AWI-Wissenschaftler auf Spitzbergen seit 1993 täglich die Temperatur bis in eine Höhe von 30 km. Das Ergebnis: Die Winter in Spitzbergen werden wärmer – auch in der Luftsäule bis 10 Kilometer Höhe. Welche Folgen hat dies für uns?

Karin Lochte: Das sind Messungen mit Wetterballons, die auch die Schichtung in der Atmosphäre anzeigen. Ja, die Winter werden wärmer. So regnet es auf Spitzbergen zum Beispiel sehr viel mehr, und es bildet sich dann statt Schnee Eis. Die wärmeren Winter führen dazu, dass die Eisbildung für das Meereis später einsetzt, und es taut im Frühjahr früher. Es bildet sich weniger und dünneres Meer­eis. Wir haben gegenwärtig im Arktischen Ozean im Sommer fast fünfzig Prozent weniger Meereis als noch vor dreißig Jahren. Ein anderer Effekt, der mit den wärmeren Temperaturen einhergeht, sind die Schmelzvorgänge auf dem Eisschild in Grönland, bei dem es zur Zeit höhere Verluste gibt als in der Antarktis.

F&L: Das führt dann langfristig zum Ansteigen des Meeresspiegels?

Karin Lochte: Der Anstieg hat zwei Quellen: Das wärmere Ozeanwasser dehnt sich ja stärker aus als das kalte. Das heißt, diese Ozeanerwärmung trägt ungefähr fünfzig Prozent zur Meeresspiegelerhöhung bei. Die andere Hälfte kommt vom Schmelzen der Gletscher, einmal an Land, also zum Beispiel im Himalaya und den Alpen, sowie dem der großen Eisschilde in Grönland und in der Antarktis. Es ist zu beobachten, dass sich der Meeresspiegelanstieg in den letzten zehn bis zwanzig Jahren beschleunigt hat. Gegenwärtig steigt der Meeresspiegel doppelt so schnell an wie im letzten Jahrhundert. Global steigt das Meer gegenwärtig um 3,4 Millimeter pro Jahr. Das aber ist über die Ozeane hinweg nicht gleichmäßig verteilt. An einigen Stellen gibt es einen höheren Anstieg, an anderen einen geringeren. Das liegt an den Strömungen und auch daran, dass sich Teile der Erdkruste heben oder senken. Dazu kommt noch, dass in einigen Küstenbereichen Erdgas oder Trinkwasser aus dem Boden entnommen wird. Dies führt dort zu einer Senkung des Landes. Dies ist in einigen Gebieten Asiens ziemlich drastisch. Das kann genauso viel ausmachen wie der Meeresspiegelanstieg.

Das Problem des Plastikmülls

F&L: In den letzten Jahren ist das Problem des Plastikmülls in den Meeren immer mehr in den Fokus gerückt. Welche Gefahren gehen vom Plastikabfall aus?

Karin Lochte: Der größere Plastikabfall macht natürlich den größeren Tieren Probleme, in deren Mägen sich unverdauliche Plastikstücke ansammeln und die dann daran eingehen. Andere verheddern sich in Fischernetzen, wie zum Beispiel manche Tölpel auf Helgoland, die ihre Nester aus diesen Netzabfällen bauen und sich darin aufhängen. Durch UV-Strahlung und mechanisches Verreiben werden die Plastikstücke immer kleiner und dann zur Mikroplastik. Auch kommt Mikroplastik vom Land ins Meer, durch Klärwerke und die Flüsse. Man ist sich noch nicht ganz sicher, ob diese Partikel Träger von pathogenen Keimen sein können. Sie gelangen dann in die Nahrungskette, werden von Muscheln oder Fischen gefressen und werden dann auch vom Menschen aufgenommen. Wichtig ist, diesen Plastikmüll überhaupt zu vermeiden. Es ist einfach nicht abzusehen, welche Folgen er langfristig haben wird. Nur ein Teil dieses Plastiks schwimmt an der Oberfläche. Viel liegt auch am Meeresboden.

F&L: Und ist extrem haltbar, bis zu einigen hundert Jahren?

Karin Lochte: Ja, wenn es kein UV-Licht mehr erreicht, warum sollte es sich dann zersetzen? Deshalb ist unser größter Wunsch, Plastik zu vermeiden oder zu recyceln oder biologisch abbaubares Plastik zu nehmen.

Wie wird sich das Ökosystem ändern?

F&L: Was sind die drängendsten Fragen, die die Meeresforschung in den kommenden Jahren angehen muss?

Karin Lochte: Aus meinem persönlichen Blickwinkel wäre es die Frage, wie sich das Ökosystem ändert. Und das heißt nicht nur, dass es wärmer wird, sondern wie sich die Zusammensetzung des Systems ändert. Welche Organismen haben wir, und was bedeutet das für die Ökosystemleistungen? Ein Beispiel: Was bedeuten die Windparks in der Nordsee für das Ökosystem? Sie werden dort fest im Boden verankert. Auf diesen Fundamenten könnten sich die Polypen der Quallen niederlassen, und die Quallen könnten in der Nordsee überhandnehmen. Das wäre zwar nur eine mögliche zukünftige Entwicklung, aber sie wäre weder für die Fischerei noch den Tourismus gut. Diese Fragen müssen wir klären, also: Wie werden sich die Ökosysteme der Zukunft verändern?

Ein zweites Thema, welches mir am Herzen liegt, ist die Erwärmung des arktischen Ozeans. Dieser erwärmt sich doppelt so schnell wie das globale Mittel. Das Meer­eis verschwindet rapide. Was bedeutet das für dieses Ökosystem, was für das Klima? Denn was dort passiert, strahlt aus auf die ganze Nordhemisphäre. Es wird die Wetterbedingungen, die Regenfälle und die Sturmhäufigkeit verändern. Welche Richtung schlagen die Stürme ein, welche Tiefdruckgebiete entwickeln sich? Wir müssen verstehen, dass, was im arktischen Ozean geschieht, Konsequenzen hat für Nordeuropa, Nordamerika und Asien. Ein drittes Thema ist der Zuwachs der Küstengesellschaften. Diese sind stark den Risiken der Sturmfluten, der Hurricanes und der Tsunamis ausgesetzt. Was machen wir da? Wie gehen wir mit toxischen Algen um, die sich entwickeln können? Wie schützen wir die Gesellschaften an der Küste?

F&L: Betrachtet man die Nutzung und auch den Missbrauch der Meere durch den Menschen, so geht man nicht gerade optimistisch in die Zukunft. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Menschen zukünftig nachhaltiger und schonender mit dem Meer und den Lebewesen im Meer umgehen? Was müsste man tun? Eine weltweite Aktion der Vereinten Nationen oder ähnliches?

Karin Lochte: Die Vereinten Nationen haben das Meer jetzt als ein wichtiges Thema aufgegriffen. Im Rahmen der EU gibt es den Blue-growth-Aspekt, also, wie wir die Ökonomie der Meere entwickeln können, ohne dass wir größere Schäden verursachen. Das alles kann aber nur dann befördert werden, wenn die Menschen verstehen, wie das Meer funktioniert, und wenn sie nicht nur denken, dass die Probleme alle nur an Land sind und das Meer könne einfach weiter so genutzt werden wie bisher. Drei Dinge müssen also zusammenkommen: Das Verständnis in der Bevölkerung muss geweckt werden, die Politik muss sich bewegen und Regeln für den Ozean schaffen, und es muss eine Überwachung geben, die sicherstellt, dass sich alle an die Regeln halten. Das darf nicht den ökonomischen Überlegungen geopfert werden.

F&L: Das AWI forscht auf der Polarstern, der Neumayer Station in der Antarktis, auf vielen weiteren Schiffen etc. Ist die Meeresforschung auch heute noch ein Abenteuer?

Karin Lochte: Ja, das kann man sagen. Gerade in den Polargebieten ist die Arbeit faszinierend und herausfordernd. Dort findet man immer noch Neues. Es ist nicht so, dass wir nur noch verfeinern, sondern es gibt noch sehr viel Unbekanntes. Dazu kommt: Wenn man über Wochen zusammen auf einem Schiff ist, lernt man seine Kollegen noch anders kennen. Da gibt es in der Meeresforschung eine andere Art von Kollegialität, ja Kameradschaft, die noch etwas anderes ist als in anderen Wissenschaftsbereichen. Vielleicht kann man das mit der Raumfahrt vergleichen, wo man auch sehr eng miteinander verwoben ist. Es ist schon etwas ganz besonderes, wenn man gemeinsam ein Ziel anstrebt und erreichen muss.