Publikum und Panel bei einer Tagung
mauritius images/dieKleinert/Alexander von Wieding

Mobilität
Was ist los mit dem akademischen Tagungswesen?

Fast täglich findet auf der Welt eine wissenschaftliche Konferenz statt. Unser Autor fragt sich, inwiefern sie ihrem Anspruch gerecht werden.

Von Michael Lingner 13.05.2019

Unter dem vielversprechenden Titel "Das ist Ästhetik!" fand vor einiger Zeit der X. Kongress der "Deutschen Gesellschaft für Ästhetik" statt. Dort hat der Verfasser in der Sektion "Formen ästhetischen Denkens" seinen Beitrag zur Funktion von Künstlertheorien in der Moderne vorgetragen. Bereits bei dieser Präsentation am letzten Kongresstag hat er allerdings damit gehadert, die von ihm vorbereitete übliche Vortragsform beizubehalten oder stattdessen über das Thema frei zu improvisieren. Hinter ihm lag ein tagelanger Vortragsmarathon, dessen monologische Monotonie gerade im Kontrast zu manch inhaltlich anregendem Referat nur zum Abgewöhnen war.

Die rigide durchgetaktete Aufeinanderfolge von vielen gleichlangen Vorträgen in einem möglichst knapp kalkulierten Zeitrahmen war nicht nur freudlos und ermüdend, sondern vor allem auch unproduktiv. Durch diese negative Erfahrung hat sich die im Folgenden aufgegriffene grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Problematik eines derart frustrierenden Kongressformats geradezu aufgedrängt, zumal dieser Zuschnitt für viele geisteswissenschaftliche Kongresse, Tagungen oder Symposien typisch ist.

Umso näher lag es bei dem gegebenen thematischen Kontext, endlich auch die Form beziehungsweise Formatierung von solchen akademischen Sonderveranstaltungen selbst einmal ästhetisch zu bedenken. Damit ist zugleich beabsichtigt, eine hochschul-, ja wissenschaftspolitische Debatte über die Notwendigkeit und Möglichkeiten anderer akademischer Veranstaltungsformate anzustoßen.

Bei kleineren, überschaubaren Veranstaltungen wie feierlichen Anlässen mag das traditionelle wissenschaftliche Tagungsformat der einförmigen Vortragsabfolge noch erträglich und manchmal auch angemessen sein. Es ist aber bei den inzwischen bevorzugt nach maximaler Größe strebenden akademischen Sonderveranstaltungen von Übel, denn den Zuhörern wird zumeist nicht mehr als ein zügiges Verlesen von ausformulierten Aufsätzen geboten. Dabei kann, anders, als es viele mittelalterliche Gemälde zeigen, nicht einmal mitgelesen werden. Das macht es kaum möglich, komplexe Gedankengänge nachzuvollziehen.

Entsprechend kommen aus dem Publikum, sofern nach den Lesungen sich zufällig noch ein wenig Restzeit bis zum folgenden Vortrag ergibt, bestenfalls alibihafte Verständnisfragen oder beliebig wirkende persönliche Assoziationen. Für alle Beteiligten, ob Zuhörer oder Referenten bleibt letztlich nicht viel mehr als der olympische Gedanke übrig: "Dabeisein ist alles".

Konferenzen: "Casting für den akademischen Stellenmarkt"

Dieses an sich ernüchternde Fazit enttäuscht aber viele Teilnehmer keineswegs. Denn von ihnen werden solche Veranstaltungen ohnehin nur wie eine Art Casting für den akademischen Stellenmarkt wahrgenommen. Dafür bietet das vorherrschende, ausgesprochen sedierende Veranstaltungsformat einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, wie wenig befriedigend es in sachlicher Hinsicht auch sein mag: Der akademische Nachwuchs wird gar nicht erst in die Verlegenheit oder Versuchung gebracht, sich in Rede und Gegenrede argumentativ exponieren oder gar positionieren zu müssen.

Natürlich würde man sich die kommende Generation allemal couragierter wünschen. Aber dass der Eindruck vermittelt wird, vor allem sei Konformität für das eigene Fortkommen vorteilhaft, lässt sich mindestens genauso der vorhergehenden Generation und den von ihr geschaffenen Strukturen anlasten wie dem Nachwuchs.

Um auf eine weniger opportunistische Mentalität hinzuwirken, käme es allseits darauf an, sich an Fachdispute als Normalfall zu gewöhnen. Hierzu wäre es ein längst überfälliger Schritt, alternative, die fachwissenschaftliche Debattenkultur deutlich intensivierende Formate akademischer Veranstaltungen anzustreben. Doch die mühsamen Anstrengungen zur Erreichung qualitativer Verbesserungen der Lehrkultur unterbleiben zunehmend seitdem allein noch quantifizierbare Einflussfaktoren auf Lehre und Forschung für die Bildungspolitik als relevante Größen gelten.

Im politisch forcierten Wettbewerb um Anerkennung und höhere Alimentierung haben Hochschulen statt selbstbestimmter Umstrukturierung nun vor allem mehr Mittelzuweisungen im Sinn. Um sich dafür zu empfehlen, herrscht der Ehrgeiz, möglichst zahlreiche Aktivitäten vorzuweisen, die zuallererst öffentlichkeitswirksam erscheinen sollen. Werden indes die Werbeeffekte veranstalteter Tagungen als entscheidendes Qualitätskriterium angesehen, wird fatalerweise deren Erfolg bevorzugt an ihrer attraktiven medialen Propagierung gemessen.

Uniforme und feedbacklose ­Formate typisch

Jedenfalls sind die das regelmäßige Lehrangebot oft überlagernden akademischen Sonderveranstaltungen nicht mehr primär darauf ausgerichtet, dass deren Teilnehmer tatsächlich fachlich, intellektuell und persönlich möglichst umfassend profitieren. Sowohl Mitursache wie auch Indiz dafür zeigen sich nicht zuletzt in dem Umstand, dass selbst die eingeladenen Referenten zumeist direkt vor ihrem Beitrag erst an- und möglichst bald danach wieder abreisen. Offenbar bieten auch für sie die üblichen uniformen und feedbacklosen Veranstaltungsformate keinen geeigneten Anreiz und Rahmen, um sich in intensiven und auch kontroversen Diskussionen öffentlich an der Explikation und Eskalation von Differenzen zu beteiligen.

So bleiben gerade diese fachlich und menschlich inspirierenden Erfahrungen des argumentativen Austauschs bedauerlicherweise auch dem potenziellen wissenschaftlichen Nachwuchs vorenthalten. Dabei sind solche Impulse unverzichtbar, um zur eigenständigen Weiterentwicklung wissenschaftlicher Disziplinen zu befähigen und zu motivieren. Dass ein entsprechendes intellektuelles Niveau aber nicht einmal bei akademischen Sonderveranstaltungen noch gepflegt wird, verstärkt deren Fragwürdigkeit umso mehr.

Ist also der nicht nur finanziell betriebene erhebliche Aufwand für derart unkommunikative und suboptimale Veranstaltungsformate überhaupt gerechtfertigt? Ist es angesichts der eher ritualhaften Präsentation zumeist druckfertiger oder bereits veröffentlichter Texte vertretbar, dass die kostbaren persönlichen Zeitkontingente einerseits und andererseits die ebenso begrenzten globalen Ressourcen durch Vervielfachung des Verkehrsaufkommens mit seinen fatalen Folgen weiter besinnungslos strapaziert werden?

Nicht nur bei der horrenden Urlaubsreiserei, sondern auch beim Polittourismus und dem in mancher Hinsicht vergleichbaren heutigen Wissenschaftstourismus wären tatsächliche Notwendigkeit und ökologische Schädlichkeit stets besser zu bedenken.

"Die persönliche Präsenz Hunderter von Teilnehmern macht erst wieder Sinn, wenn das bisher vorherrschende Ablesen von Textvorlagen eine seltene Ausnahme ist."

In Zeiten, da es möglich ist, Distanzen mit Übertragungsmedien leicht zu überwinden, sollte mit der leibhaftigen Anwesenheit vor Ort sehr sparsam umgegangen werden, da diese nicht nur einen hohen Preis, sondern gerade aufgrund der viel beschworenen Digitalisierung auch einen umso höheren Wert hat. Das Internet macht es ja immer unwahrscheinlicher, dass die Lektüre des einen noch kongruent mit der eines anderen ist. So kommt der einen Diskurs überhaupt ermöglichende gemeinsame und gleichzeitige Bezug auf Texte in natürlicher Weise kaum noch vor und sollte den Vorteil einer Präsenzveranstaltung ausmachen.

Jedenfalls macht die persönliche Präsenz Hunderter von Teilnehmern bei akademischen Veranstaltungen erst wieder Sinn, wenn das bisher vorherrschende Ablesen von Textvorlagen nur noch eine seltene Ausnahme ist. Um das zu erreichen, hätten die Sektionssitzungen auf der Grundlage vorheriger Textlektüre und/oder deren mündlicher thesenhafter Zusammenfassungen stattzufinden.

Unter dem geeigneten Einsatz digitaler Technik könnten mit wenig Aufwand die entsprechenden Vorbereitungen getroffen werden. Dann wäre die persönliche Teilnahme an den Sitzungen wieder erstrebenswert, da diese hauptsächlich genutzt werden könnten, um über die jeweiligen Vorgaben sowohl mit den Referenten als auch unter den Teilnehmern direkte Dialoge zu führen.

Ein unmittelbarer, aber durchaus moderierter Austausch würde es ermöglichen, dass die Beteiligten ihre fachlichen Interessen gezielt artikulieren könnten. Wenn Diskurse gelingen, profitieren die Teilnehmer durch ein umfassenderes Verständnis der geistigen Gehalte wie auch der persönlichen Hintergründe theoretischer Gedankengänge eher mehr.

Daher sollte bei der Planung akademischer Sonderveranstaltungen nicht länger einfach auf gängige Organisationsschemata zurückgegriffen werden. Vielmehr käme es darauf an, auch hierbei ästhetisch zu denken und auf die jeweiligen Gegebenheiten hin geeignete Sitzungsformate gleichsam maßgeschneidert zu konzipieren.

Das Angebot einer Vielfalt kommunikativer Sitzungs-Settings würde für alle Interessierten die Attraktivität solcher Tagungen unzweifelhaft erhöhen und damit letztlich sogar deren Öffentlichkeitswirksamkeit fördern. Denn neben den Alternativen hinsichtlich von Themen, Referenten und Terminen bestände für jeden Teilnehmenden noch die zusätzliche Möglichkeit, nach einem jeweils für thematisch und persönlich passend gehaltenen Sitzungsformat zu wählen.

Ungekürzte Fassung des Artikels "Monolog und Melancholie", erschienen in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung am 27. März 2019.