Verschiedene geometrische Körper in türkis vor orangenem Hintergrund
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Vielfalt
Entwicklung der Wertschätzung ­des Besonderen

Diversität ist mittlerweile in aller Munde. Um die aktuelle Diskussion zu verstehen, ist die Historie des Diversitätsdiskurses von großer Bedeutung.

Von Georg Toepfer 11.04.2023

"Diversität" entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen politischen Schlagwort und wichtigen Referenzpunkt öffentlicher Debatten. Schulen und Universitäten regeln Chancengleichheit im Namen von Diversität, Unternehmen formen eine heterogene Belegschaft mittels eines Diversitätsmanagements, Migrationsbewegungen haben die alte Debatte um den Multikulturalismus wiederbelebt. Nach den knappen Lexikondefinitionen des 19. und 20. Jahrhunderts bedeutet das Wort "Diversität" zwar "Verschiedenheit", es zielt in der Gegenwart aber doch häufig auf deren Gegenteil, auf Gleichheit: die Gleichberechtigung, Gleichbehandlung, Gleichstellung von Personengruppen (und nichtpersonaler Lebensformen wie Tieren), die von einer langen Praxis der Ausgrenzung, Benachteiligung und Unterdrückung betroffen waren. Von Verschiedenheiten zu sprechen, um Gleichheit zu erzielen, macht die zentrale Dialektik des Diversitätsdenkens aus.

"Diversität geht nicht vom Individuum, sondern von der Idee des Kollektivs aus."

Zur Attraktivität von Diversität als sozialer Kategorie gehört es wesentlich, dass sie eine Mittelstellung zwischen der Logik des Besonderen und des Allgemeinen einnimmt. Sie betreibt keine Gleichmacherei oder Uniformierung, weil sie das Differente von Gruppen betont; sie zielt aber doch auf eine Vergemeinschaftung, weil sie nicht vom Individuum, sondern von der Idee des Kollektivs ausgeht. Die Logik der Diversität hat aber auch zur Folge, dass sie die Probleme der beiden anderen Logiken erbt, ja sogar verschärft: Wie andere Formen der Kollektivierung betreibt auch das Diversitätsdenken eine künstliche Homogenisierung über die Unterschiedenheit und Einzigartigkeit der Individuen hinweg. Zugleich befördert es eine Partikularisierung und soziale Desintegration, insofern auf seinem Weg zu keinem universal inkludierenden "Wir" zu gelangen ist, sondern immer nur zu einem differenzierenden und exkludierenden "Wir", das sich aus der Abgrenzung von den "anderen" definiert.

Geschichte der Vielfalt

In historischer Perspektive lässt sich die Geschichte der Diversität in verschiedenen Zeitdimensionen erzählen: in einer langen Geschichte, die bis in die alten Kulturen zurückreicht, in einer Geschichte von mittlerer Länge, die in der Zeit um 1800 mit der Romantik einsetzt, und in einer kurzen Geschichte, die von den Emanzipationsbewegungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts und der öffentlichen Verwendung des Begriffs Diversität als politisches Schlagwort seit den 1980er Jahren ausgeht.

Als Beispiel für ein Diversitätsdenken in frühen Kulturen können die ältesten Schriftzeugnisse des Menschen gelten. Ganz dem biblischen Bericht folgend, nach dem die erste Handlung Adams im Paradies darin bestand, die von Gott vorgeführten Tiere zu benennen, beginnt die Schriftsprache mit der Inventarisierung der Welt in Form von Listen. Die Keilschrift-Listen auf sumerischen Tontafeln, etwa die der Vögel, umfassen nicht selten mehr als einhundert Einträge und katalogisieren damit die Vielfalt der Naturdinge auch jenseits ihres unmittelbaren Nutzens. Die formale grammatische Struktur von Listen, nach der Einzeldinge in parataktischer, unhierarchischer Ordnung gleichrangig aufgeführt werden, enthält dabei bereits den Kern der egalitären Logik von Diversität. Vielfalt bildet auch für die Ästhetik der klassischen Antike ein wichtiges Motiv. Buntheit (ποικĩλία) und Wandel (μεταβολὴ) sind zentrale Prinzipien der altgriechischen Ästhetik, und die Betonung von Variation (variatio) zeigt sich an vielen Erzeugnissen der römischen Kunst. Auch von christlichen Autoren wird diese Wertschätzung der Vielfalt übernommen, so nennt Augustinus die Variation der Pflanzen und die Verschiedenheiten der Tiere ("diversitates animalium") "großartig, ausgezeichnet, schön und staunenswert" und preist mit ihr Gott als deren Schöpfer (Enarrationes in Psalmos, 145).

"Die formale Struktur von Listen enthält bereits den Kern der egalitären Logik von Diversität."

Die Geschichte der Diversität von mittlerer Länge setzt in der Romantik ein. Sie begründet ein "Zeitalter der Authentizität" (Charles Taylor), in dem das (zunächst bürgerliche) Individuum Aufmerksamkeit für seine Eigen- und Einzigartigkeit entwickelt und durch äußere Zeichen zur Darstellung bringt. Prototypisch steht am Ende des 18. Jahrhunderts Johann Gottfried Herder für diese Konzeption. Er betont einerseits die Autonomie des Individuums, die Bestimmung jedes einzelnen aus seinem eigenen Inneren heraus. Zugleich hat Herder dabei nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Pluralität der Völker und Kulturen im Blick, die in gleicher Weise ihre Bestimmung aus sich selbst heraus zu finden hätten. Wie in der Verschiedenheit der Individuen drücke sich auch in der der Völker eine jeweils eigene Weise des Menschseins aus. Herder verwendet bereits den Begriff der Diversität in Bezug auf Kollektive; er spricht von der "Diversität der Menschengattung" oder der "Diversität der vielartigen Menschen".

Während diese kulturelle Valorisierung des Besonderen in der Zeit um 1800 ein Phänomen blieb, das sich im Wesentlichen auf eine literarisch-künstlerische Elite beschränkte, wurde sie in der kurzen Geschichte der Diversität seit den 1960er Jahren zu einem sozialen Massenphänomen. Zu den vielfältigen sozialen und politischen Faktoren, die diese Entwicklung bedingten, zählten in Deutschland auch die repressiven Erfahrungen von sozialer Anpassung in der Zeit des Nationalsozialismus und unmittelbar nach dem Krieg. Seit Ende der 1960er Jahre entwickelte sich der Widerstand gegen Normierung und soziale Konformität zu einem weitverbreiteten Ideal. Diese Bewegung der Individualisierung ging mit einer ausgeprägten Kollektivierung und der Ausbildung von Gruppenidentitäten einher: Die Forderung nach Selbstentfaltung und Authentizität mündete nicht in einen unkontrollierten Pluralismus von Singularitäten, sondern in Diversität. Darüber hinaus steht Diversität seit den 1970er Jahren im Zentrum sozialer Emanzipationsbewegungen, kann zugleich die soziologisch beobachteten Entwicklungen zur Ästhetisierung und Individualisierung (bis zur "Gesellschaft der Singularitäten") auf den Begriff bringen und zeigt schließlich die fundamentale Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses (Biodiversitätsverlust) auf. Die politische Aufladung des Begriffs erfolgte dementsprechend parallel von verschiedenen Seiten: Ausgehend von den Zulassungsregeln amerikanischer Universitäten ist Diversity seit Mitte der 1970er-Jahre ein wichtiges Schlagwort für soziale Bewegungen geworden; und auf biologischer Seite steigerte sich die seit den 1960er Jahren in Naturschutzkreisen fest etablierte Sorge um den Verlust biologischer Diversität so weit, bis diese seit den 1980er Jahren als eines der größten Gegenwartsprobleme überhaupt verstanden wurde.

Kontexte der Diversität

Das Nebeneinander und die Wechselwirkung dieser verschiedenen Kontexte, in denen seit den 1960er Jahren von "Diversität" die Rede ist, wurde bisher nur in Ansätzen untersucht. In einer einfachen Einteilung lassen sich vier Paradigmen der Diversität gegeneinander abgrenzen: (1) ein ästhetisch-soziales Selbstentfaltungsparadigma, das den umfassenden Wertewandel westlicher Gesellschaften zum Individualismus und Pluralismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beschreibt; (2) ein ethisch-juridisches Gerechtigkeitsparadigma, das getragen ist von Emanzipationsbewegungen und Bemühungen um Minderheitenschutz; (3) ein ökonomisches Management- und Marktparadigma, das ausgeht von der Effizienz der Heterogenität von Führungsstrukturen und den unterschiedlichen Konsumbedürfnissen von Individuen; und schließlich (4) ein biologisch-ökologisches Naturschutzparadigma, das auf die Erhaltung nichtmenschlicher vom Aussterben bedrohter Lebensformen und ihrer Lebensräume zielt.

Obwohl die in diesen Diskursen verhandelten Fragen nur wenige inhaltliche Berührungen miteinander haben, werden sie über den Diversitätsbegriff in Bezug und Resonanz zueinander gebracht. Am politischen Einsatz des Begriffs lässt sich deutlich zeigen, wie aus dieser Parallelisierung ein argumentativer oder zumindest rhetorischer Gewinn gezogen werden kann: So erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Reden aus den Jahren 2007 bis 2010 "Diversität" für eine gute Sache, weil die Vielfalt der Belegschaft die Leistungsfähigkeit und Robustheit eines Unternehmens ebenso fördere wie die Vielfalt von Pflanzen und Tieren die Stabilität natürlicher Systeme bedinge (was biologisch seit den frühen 1970er Jahren durchaus umstritten ist).

Kritik an Diversität

Auch wenn Diversität in vielen sehr unterschiedlichen Bereichen zu einem Leitbegriff und einer organisierenden Kategorie geworden ist, gibt es auch starke Kritik an ihr. So wird bezweifelt, dass die Fokussierung auf Diversität einen Beitrag zur Lösung drängender Probleme leisten könne: Soziale Ungleichheit werde im Namen von "Diversität" umgedeutet und ihr Konfliktpotenzial dadurch entschärft. Eine weitere Kritik lautet, dass die Fokussierung auf (ethnische) Diversität lediglich das eigentliche Problem der ökonomisch bedingten sozialen Ungleichheit verschleiere (Walter Benn Michaels). Von anderer Seite wird das Beharren auf Diversität mit einer für den Zusammenhalt der Gemeinschaft problematischen Identitätspolitik in Verbindung gebracht: Deren narzisstische Selbstbezüglichkeit erodiere den Gemeinsinn (Mark Lilla). Für sich genommen sei Diversität keine tragfähige Basis für ein soziales Miteinander; die Identitäten von immer kleineren Einheiten müssten in einen umfassenderen Rahmen gestellt werden, der von substanziellen Ideen wie dem Konstitutionalismus, der Rechtsstaatlichkeit oder menschlichen Gleichheit bestimmt werde (Francis Fukuyama). Wenn alle sich nur von Sprecherinnen oder Sprechern der eigenen sozialen Gruppe repräsentiert sehen und dementsprechend jede Form der Solidarität und Empathie primär zur "Chiffre für Übergriffigkeit" wird, drohe das ursprünglich progressive Projekt der Diversität in das problematische Fahrwasser einer am Modell des Wirtschaftslobbyismus orientierten "Lobbydemokratie" zu geraten (Christoph Türcke). Diese Diversitätskritik kann an die Warnungen vor einer Zersplitterung der Gesellschaft anschließen, die sich bis in die 1950er Jahre – von sowohl konservativer als auch marxistischer Seite – am (anfangs oft negativ besetzten) Begriff des Pluralismus festmachte.

"Diversitätskritik kann an die Warnungen vor einer Zersplitterung der Gesellschaft anschließen."

Verteidigt werden kann das Festhalten an Diversität als Einsatzpunkt und Mittel sozialer Kämpfe aber mit dem historischen Argument, dass Ausgrenzung und Unterdrückung in der Vergangenheit strukturell auf Kollektive gerichtet waren, so dass auch die Behebung dieser Missstände nur über die Bildung von Kollektivkategorien möglich ist. Die mit Diversität verbundene Dialektik, nach der das Streben nach sozialer Gleichberechtigung nur durch die Betonung von Unterschieden, also Ungleichheit, herzustellen ist, wird weiterhin zur Logik der Kategorie gehören.