Das Foto zeigt das Forschungsschiff Polarstern in der Arktis
SArndt/AWI

Meeresforschung
Algenfahrstuhl in die Tiefsee

Gipsnadeln machen Algen so schwer, dass sie sehr viel Kohlenstoff in die Tiefsee transportieren. Das Oberflächenwasser verliert so Nährstoffe.

19.05.2018

Wenn Meeresalgen absterben, dann schweben sie normalerweise im Zeitlupentempo in die Tiefe. Während einer Expedition mit dem Forschungseisbrecher Polarstern in die Arktis im Frühjahr 2015 haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) aber ein Phänomen entdeckt, das diesen Transport deutlich beschleunigt: Winzige Gipsnadeln, die sich während des Ausfrierens von Salz in den Porenräumen des arktischen Meereises bilden, ziehen die Algen wie schwerer Ballast binnen weniger Stunden in die Tiefe. Wie in einem Fahrstuhl wird der Kohlenstoff abtransportiert.

"Dieser Mechanismus war bislang völlig unbekannt", sagt die Meeres-Biogeologin Dr. Jutta Wollenburg, die die Ablagerungen von mit Gipsnadeln beschwerten Algen am Meeresboden während der Expedition namens TRANSSIZ entdeckte. Nun hat sie zusammen mit einem internationalen Team von Forschern einen Artikel darüber in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht. Der schnelle Export von Algen könnte für die Stoffflüsse und Produktivität der Arktis mehrere Folgen haben, deren Ausmaß man noch gar nicht abschätzen könne, heißt es beim AWI.

Folgen für das Leben in der Tiefsee

Algen nehmen während der Photosynthese wie die Landpflanzen auch Kohlendioxid auf, um daraus energiereiche Zuckerverbindungen aufzubauen. Damit entziehen Algen der Atmosphäre Kohlendioxid. Sterben die Algen, sinken sie ab. Doch nur ein Teil gelangt tatsächlich bis zum Meeresboden. Denn die weitaus meiste Algenmasse wird im oberflächennahen Bereich des Meeres gleich wiederverwertet: Bakterien zersetzen die Algen und geben damit die in ihnen enthaltenen Nährstoffe und auch das Kohlendioxid wieder frei. Daher erreicht nur ein Bruchteil der Algenmasse die Tiefsee.

Die Gipsnadeln aber scheinen die Algenklumpen so schnell hinabzuziehen, dass für den Abbau keine Zeit mehr bleibt. Damit gelangt mehr Algenmasse in die Tiefe. Ziehen die Gipsnadeln die Algen hinab, ehe die Bakterien sie verarbeiten können, gehen jedoch möglicherweise Nährstoffe wie Nitrat aus den oberen Wasserschichten verloren. Das kann das Nahrungsnetz im Meer verändern. Denn die Nährstoffe sind Mangelware für das Wachstum von Algen, von denen sich Kleinkrebse ernähren, die ihrerseits Nahrung für Fische sind. Andererseits gelangt laut Mitteilung des AWI durch den Gipstransport mehr Nahrung in die Tiefsee, die normalerweise eher arm an Nahrung ist.. "Wir konnten schon zuvor beobachten, dass veränderter Nahrungseintrag die arktischen Lebensgemeinschaften in der Tiefe beeinflusst."

Noch viele Fragen zu klären

Das neu beobachtete Phänomen werfe noch viele Fragen auf. Jutta Wollenburg war dem AWI-Bericht zufolge darauf aufmerksam geworden, als sie von Bord des Forschungsschiffs Polarstern einen sogenannten Multicorer (MUC) zu Wasser ließ. Mit diesem Gerät werden Sedimentproben vom Meeresboden genommen. Zudem ist der Apparat mit einer Videokamera ausgestattet. "Während der Fahrt in die Tiefe sahen wir permanent dicke Algenflocken, die schnell herabfielen, und auch am Meeresboden lagen jede Menge dieser Klümpchen herum."

Was Jutta Wollenburg stutzig machte: Eine solche Dichte von Algenklumpen unter der geschlossenen Eisdecke in allen Wassertiefen bis zum Meeresboden war zuvor noch nie von Wissenschaftlern beschrieben worden. Mit dem Multicorer holte sie Algenklumpen an Bord. Unter dem Mikroskop sah sie, dass sich zwischen den Algen unzählige zentimeterlange Kristallnadeln befanden. Zurück in Bremerhaven untersuchten Kollegen das Material und stellten fest, dass es sich eindeutig um Gips handelte. Gips besteht aus Kalzium und Sulfat - Minerale, die sich bei Gefrierprozessen in den Porenräumen des Meereises ansammeln.

"Inzwischen wissen wir, dass sich die Nadeln bei tiefen Temperaturen im Meereis bilden", sagt der AWI-Meereisphysiker Dr. Christian Katlein laut Bericht. "Beginnt das Eis im Frühjahr langsam zu schmelzen, werden die Gipsnadeln in großen Mengen freigesetzt." Im konkreten Fall sei dies genau zu dem Zeitpunkt geschehen, als sich unter dem brüchigen Eis mit dem ersten Licht des Frühlings die Schaumalge Phaeocystis stark vermehrte und eine sogenannte Frühjahrsblüte bildete. Phaeocystis hat eine schleimige Oberfläche, sodass Algen und Gipsnadeln aneinander haften. Die Klümpchen seien schließlich so schwer geworden, dass sie in die Tiefe rauschten.

Künftig mehr Kohlenstoff in der Tiefe?

Für Jutta Wollenburg ist das beachtlich, denn mit dem Klimawandel schmilzt das inzwischen hauptsächlich nur noch einjährige Meereis immer früher ab. Damit dürften künftig häufiger Gipsnadeln zu Zeiten der Planktonblüte frei werden. Zudem wird das Meereis immer brüchiger und damit lichtdurchlässiger. Dadurch kommt es unter dem Eis zunehmend zu ausgedehnten Algenblüten. Besonders Phaeocystis kann schon mit relativ wenig Licht hervorragend gedeihen. "Künftig könnten also beide Phänomene häufiger zusammenkommen – die Algenblüten und das Freisetzen von Gipsnadeln", sagt die AWI-Meereisökologin Dr. Ilka Peeken. "Dadurch könnten große Mengen an Algenmasse absinken." Das könnte Konsequenzen für das Leben in den arktischen Gewässern haben. Es könnte sein, dass dadurch auf Dauer in diesen Regionen die Nährstoffkonzentration in den oberen Wasserschichten abnehme, was langfristig auch Auswirkungen auf die Zahl der Fische und letztlich auf die Fischerei haben könnte.

Eine weitere Frage ist nach Ansicht der AWI-Forscher, ob das Phänomen des schnelleren Transports von Algenbiomasse nicht sogar mehr Kohlenstoff in die Tiefe verbringe, das dort für mehrere hundert Jahre gespeichert bleibe. Experten bezeichnen diesen Mechanismus auch als "biologische Kohlenstoffpumpe". "Es ist gut möglich, dass so auch in der Antarktis mehr Kohlenstoff in die Tiefe gelangt, als bisher angenommen wird", sagt Jutta Wollenburg. Deshalb möchte sie zusammen mit ihren Kollegen das Ausmaß dieses Prozesses in den Polargebieten jetzt genauer untersuchen.

gri