Portraitfoto von Prof. Dr. Ute Frevert
David Ausserhofer

Interview über das Vertrauen in die Wissenschaft
Annäherungswissen

Viele Menschen sind an wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert. Doch was tun, wenn Studien zu unterschiedlichen Resultaten kommen?

Von Ina Lohaus Ausgabe 9/17

Forschung & Lehre: Wissenschaft dringt immer stärker in unseren Alltag ein, wenn man zum Beispiel nur an die vielen neuen Forschungsergebnisse in Ernährungs- oder Gesundheitsfragen denkt. Führt das eher zu einem Gefühl der Abhängigkeit von der Wissenschaft oder zu Wissenschaftsverdruss?

Ute Frevert: Teils, teils – das kommt auf den Typ und die Kultur an. Viele Menschen in westlichen Gesellschaften sind geradezu begierig, sich wissenschaftliche Erkenntnisse zu eigen zu machen, um ihr Leben dadurch zu optimieren und zu verlängern. Oft tun sie dabei des Guten viel zu viel – und fallen, wie beim sogenannten Gehirnjogging, auf Geschäftemacher herein, die sich ihrerseits nicht scheuen, Forschungsergebnisse über den Zusammenhang von physischer oder sozialer Aktivität und Alterungsprozessen so umzudeuten, dass es ihren Profitinteressen nutzt. Sie sind damit aber nur deshalb so erfolgreich, weil viele Menschen ihrem pseudo-wissenschaftlichen Sirenenruf bereitwilligst folgen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich im Rahmen der quantify-yourself-Bewegung technische Geräte aufschwatzen zu lassen, die die tägliche Schrittmenge oder die nächtlichen Atemzüge messen und einen immerzu an eine angeblich wissenschaftlich erwiesene Norm-Kandare bestmöglicher Lebensführung legen. Selbst diejenigen, die sich diesen Trends verschließen und beispielsweise weiter rauchen, obwohl die Schädlichkeit ihrer Sucht eindeutig erwiesen ist, berufen sich ihrerseits auf wissenschaftliche Erkenntnisse – nämlich die, die von der Tabakindustrie und ihren willfährigen akademischen Helfern zur Verfügung gestellt werden und Zweifel an jener Schädlichkeit nähren. Will heißen: Wissenschaft durchdringt unser gesamtes Verhalten, und auch dort, wo wir ihrem Gestaltungsanspruch entgegentreten, tun wir das unter Verweis auf gegenläufige wissenschaftliche Erkenntnisse.  

F&L: Wie lässt es sich erklären, dass sich zum Beispiel Impfgegner oder Anhänger alternativer Medizin von wissenschaftlichen Erkenntnissen abwenden?

Ute Frevert: Das ist ein alter Hut. Schon im 18. Jahrhundert gab es gegen die damals propagierte Pockenschutzimpfung massive Widerstände, und jeder Todesfall infolge einer Impfung war Wasser auf die Mühlen der Impfgegner. Die Gegnerschaft speist sich aus verschiedenen Quellen – aber ein ganz wichtiger Stein des Anstoßes war und ist der Gestus der Überlegenheit, mit dem die wissenschaftliche oder "Schulmedizin" für ihre Theorien und Therapien eintritt. Eine solche Überlegenheit wurde und wird standfest und mit Verve behauptet; oft aber bleiben die tatsächlichen Ergebnisse weit hinter den vollmundigen Versprechungen zurück. Aus dieser Differenz gewinnen die Kritiker ihre Munition. "Der" Wissenschaft würden Selbstkritik und Bescheidenheit gut anstehen, anstatt immer wieder – das jüngste Beispiel ist die Hirnforschung – mit Leistungsszenarien aufzuwarten, die sich in der Realität als wenig belastbar erweisen.

F&L: Wie kann man als Bürger mit widersprüchlicher wissenschaftlicher Evidenz umgehen?

Ute Frevert: Der erste Tipp: Versuchen Sie herauszufinden, in welchem „Dienst“ diese Evidenz steht und welchen Interessen sie Vorschub leistet. Wenn Wissenschaftler von der Kohle­industrie bezahlt werden und den menschengemachten Klimawandel leugnen, spricht das Bände. Das gleiche trifft auf diejenigen zu, die Zweifel an der Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens säen und im Sold der Tabakindustrie stehen. Aber nicht immer liegen die Dinge so klar oder können so deutlich zugeordnet werden. Letztlich hilft nur, sich so genau zu informieren, wie es möglich ist – und die Möglichkeiten steigen mit der Transparenz und Zugänglichkeit wissenschaftlicher Forschungen im Internet. In der Regel kann man sich darauf verlassen, dass Wissenschaftler untereinander mit Kritik nicht sparsam umgehen. Wissenschaftsjournalisten übersetzen solche Kontroversen so, dass wir Normalsterblichen sie verstehen und nachvollziehen können und unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen, sofern wir das für unsere Lebensführung – Stichwort Gesundheit, Ernährung, Mobilität (Diesel!) – wichtig finden.

F&L: Wie verhalten sich Emotion und Wissenschaft zueinander?

Ute Frevert: Erstens sind Gefühle ja nicht das "Andere" der Wissenschaft, im Gegenteil: Sie sind selber wissenschaftsfähig, werden von allen möglichen Wissenschaften untersucht, vermessen, in ihren Voraussetzungen und Folgen analysiert. Zunehmend geht man davon ab, Gefühle als erratisch, irrational und anarchisch zu beschreiben. Stattdessen spricht man ihnen Logik,  Geschichte und Kultur zu. Zweitens, und damit verbunden, sieht man Gefühle als Ressource wissenschaftlicher Tätigkeit an: Neugier steht ganz obenan, oder auch Intuition, die die Wissenschaftlerin in einer Entscheidungssituation einen eher ungewöhnlichen Weg einschlagen lässt. Viele Geisteswissenschaftler hegen ein geradezu libidinöses Verhältnis zu ihrem Forschungsgegenstand. Drittens schließlich – und darauf wollen Sie mit Ihrer Frage vermutlich hinaus – können Gefühle zweifellos auch blockierende, "die Wissenschaft" aushebelnde Wirkung entfalten. Die Selbstgewissheit der Atomindustrie, hinter der in den 1960er Jahren massive wirtschaftliche Interessen, aber auch eilfertige wissenschaftliche Expertise standen, konfrontierten die Gegner damals mit ihrer Angst vor dem "Atomtod". Mit dieser Angst zogen sie nicht nur gegen das verharmlosend so genannte "Rest­risiko" zu Felde, sondern auch gegen die bis heute ungelösten Probleme der Endlagerung. Für alles – die Sicherheit der Atomkraftwerke, die Verpackung des Atommülls, die Belastbarkeit der Erdstollen, in denen die mittlerweile korrodierenden Fässer lagern – gab es wissenschaftliche Gutachten. Die von der Anti-Atom-Bewegung geäußerten Ängste wurden demgegenüber als irrational verhöhnt und als kindisch-naiv verlacht. Und wer lacht heute?

F&L: Was kann getan werden, wenn Fakten nicht mehr ausreichen, um Bürger zu überzeugen?

Ute Frevert: So einfach ist das nicht. Wissenschaft produziert nicht immer und nicht durchgängig "Fakten", die als solche überzeugend wirken. In sehr vielen Fällen produziert sie Annäherungswissen, das ist in den geisteswissenschaftlichen Fächern nicht sehr viel anders als in den naturwissenschaftlichen. Goldstandard dieses Wissens ist seine Überprüfbarkeit; wissenschaftliche Experimente müssen replizierbar sein, und die Historikerin muss ihre Quellen offenlegen und so argumentieren, dass ihre Interpretationen nachvollziehbar sind. Wer sich davon nicht überzeugen lassen will, muss bessere Argumente oder andere Quellen heranziehen. Oder andere Experimente durchführen. Das ist gute wissenschaftliche Praxis. Ein Problem entsteht, wenn Wissenschaftler selber diese Praxis vernachlässigen oder gar unterlaufen. Vor allem psychologische Studien geraten regelmäßig in Verruf, weil sie nicht wiederholbar sind bzw. bei Wiederholung andere Ergebnisse zeitigen. Das schürt Misstrauen, völlig zu Recht.

F&L: Wie kann Wissenschaft Vertrauen in ihre Forschungsergebnisse herstellen?

Ute Frevert: Indem sie die Standards guter wissenschaftlicher Forschung beachtet und größte Transparenz walten lässt, zu Kritik einlädt, keine Versprechungen macht, die sie nicht halten kann, und den Gestus der Überlegenheit mit dem der Bescheidenheit vertauscht.

Professorin Dr. Ute Frevert ist Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.