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Wissenschaftliches Publizieren
Forschende ertrinken in pseudo-digitalisierten Publikationen

Digitale Methoden könnten den Austausch von Forschungswissen besser unterstützen als PDF-Artikel. Zum Beispiel der Open Research Knowledge Graph.

Von Sören Auer 05.02.2020

Forschung ist ein Grundpfeiler des gesellschaftlichen Fortschritts. Weltweit werden jährlich mehr als zwei Billionen Euro – eine Zahl mit zwölf Nullen – für die Gewinnung neuer Erkenntnisse durch die Forschung ausgegeben. Das entspricht dem gesamten jährlichen Wirtschaftsvolumen Italiens. Doch leider wird jedes Jahr ein immer größerer Anteil dieser Investitionen verschwendet. Der Grund: Die Darstellung und die Weitergabe von Forschungswissen beruht auf veralteten Methoden, die vor Jahrhunderten entwickelt wurden. Seit Beginn der modernen Wissenschaft – mit der Veröffentlichung des ersten Wissenschaftsjournals, den "Philosophical Transactions of the Royal Society" im Jahr 1665 – nutzen wir nämlich die immer gleiche Methode zur Darstellung und Weitergabe von Forschungsergebnissen: wissenschaftliche Artikel.

Zur Zeit von Gottfried Wilhelm Leibniz um 1700 konnte ein einzelner Forschender noch die gesamte wissenschaftliche Literatur lesen, die verfasst worden war. Heute werden jedes Jahr circa 2,5 Millionen neue Forschungsbeiträge geschrieben und selbst in einem relativ überschaubaren Wissenschaftsfeld ist es zunehmend schwerer, die relevante wissenschaftliche Literatur zu lesen, sie zu verstehen und daraus neue Erkenntnisse für sich zu gewinnen.

Flut von pdf-Artikeln

Bei der gentechnischen CRISPR/Cas9-Methode zum Beispiel listet die wissenschaftliche Suchmaschine Google Scholar fast eine Viertelmillion Publikationen auf, die als PDF-Artikel zur Verfügung stehen. Wenn Forschende dann erfahren möchten, wie gut diese Methode im Vergleich zu anderen ist, welche Besonderheiten es bei der Anwendung bei Insekten gibt und wer sie bereits bei Schmetterlingen angewendet hat, ist jahrelange Erfahrung nötig, was Interdisziplinarität oder Beiträge von Nachwuchsforschenden extrem erschwert.

Stellen wir uns vor, wir wollen ein neues iPhone bestellen und müssten dafür Preise vergleichen, indem wir Dutzende von Versandhauskatalogen als PDF durcharbeiten. Oder um den Weg zu einem Hotel zu finden, müssten wir den PDF-Scan eines Stadtplans studieren. Undenkbar? Aber genauso funktioniert heute leider viel zu oft der Austausch von Forschungswissen: Die bislang gedruckten Artikel aus Wissenschaftsjournalen werden nun als PDF-Dokumente bereitgestellt und weitergegeben. Die neuen Methoden der digitalen Welt – wie das Filtern großer Mengen von Daten und Informationen, die Einbindung von Informationen aus verschiedenen Quellen oder die Einbeziehung von Nutzerinnen und Nutzern via Crowdsourcing zur Überprüfung und Unterstützung bei der Informationsorganisation – fehlen fast gänzlich in der Darstellung und Organisation von Forschungsergebnissen.

Forschende ertrinken in einer Flut von Millionen pseudo-digitalisierten PDF-Publikationen. Als Folge wird die Forschung ernsthaft geschwächt: Viele Forschungsergebnisse können durch andere nicht reproduziert werden, es herrscht ein qualitativer Mangel an Peer-Review und es gibt mehr und mehr Redundanzen in der Forschung. Wir Wissenschaftler optimieren unsere Artikel, um sie in einem Journal platzieren zu können und dafür präsentieren wir unsere Ergebnisse von der Schokoladenseite. Oft wird dadurch ein genauer Vergleich mit verwandten Arbeiten und eine genaue Analyse des Beitrags und seiner Vor- und Nachteile sehr erschwert, da Gutachter dies in mühevoller Kleinarbeit herausklamüsern müssen. Der Peer-Review-Prozess, die zentrale Methode der wissenschaftlichen Qualitätssicherung, wird damit immer beliebiger, wie bereits auch durch mehrere Studien empirisch belegt wurde. Um es Gutachtern und anderen Wissenschaftlern zu erleichtern, einen wissenschaftlichen Beitrag zu bewerten, müssen wir die Publikationsformen weiterentwickeln.

Dynamischer Wissensgraph

Wie können wir den Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse in das digitale Zeitalter führen? An der TIB und am Forschungszentrum L3S der Leibniz Universität Hannover arbeiten wir derzeit an einer erweiterten digitalen Form wissenschaftlichen Publizierens. Als Ergänzung zu den statischen PDF-Artikeln arbeiten wir an einem dynamischen Wissensgraphen – dem Open Research Knowledge Graph. In ihm sollen verschiedene Forschungsideen, -ansätze, -methoden und -ergebnisse für Menschen und Maschinen lesbar dargestellt werden. Durch die strukturierte semantische Repräsentation der Forschungsergebnisse können Computer uns Wissenschaftler wesentlich besser bei der Suche und Analyse unterstützen, als dies mit allein textuellen Publikationen möglich wäre. Forschende haben durch diese Methode einen leichteren Zugang zum Stand der Wissenschaft in einem bestimmten Feld und können ihre Ansätze planvoll weiterentwickeln. Neue Forschungsbeiträge können zudem nahtlos integriert und wissenschaftliche Entdeckungen vorangetrieben werden, um so die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte zu lösen. Die Bewältigung solch großer Herausforderungen erfordert Interdisziplinarität und das Zusammenfügen von Erkenntnis-Einzelteilen. Mit einer strukturierten und semantischen Repräsentation von Forschungserkenntnissen in einem Wissensgraph kann uns das hoffentlich gelingen.

Derzeit ist eine erste Beta-Version des Open Research Knowledge Graph online. Wissenschaftler können damit ihre Forschungsergebnisse strukturiert beschreiben und mit anderen Ansätzen, die dasselbe Forschungsproblem lösen, vergleichbar machen. Solche Vergleiche des Stands der Wissenschaft können – ähnlich wie bei einem Wiki – von anderen Wissenschaftlern editiert, kommentiert und diskutiert werden. Zur Zeit befindet sich der Open Research Know­ledge Graph noch in einem frühen Stadium. An der TIB wollen wir perspektivisch ein Team von Informationswissenschaftlern aufbauen, welches Fachwissenschaftler bei der Kuratierung des Wissensgraphen unterstützt. Wir hoffen, zukünftig mit anderen Bibliotheken und Infrastruktureinrichtungen zusammenzuarbeiten und insbesondere interessierte Wissenschaftler als Pilotnutzer zu gewinnen. Gemeinsam kann es uns gelingen, den Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse in das digitale Zeitalter zu führen.