Das Bild zeigt ein Gruppenfoto der Nutzer des Sesame in Jordanien.
CERN/SESAME/Noemi Caraban

Orte der Forschung
Friedenstiftende Wissenschaft im Nahen Osten

Das neue Synchrotron SESAME in Jordanien ist ein Gemeinschaftsprojekt vieler Länder des Nahen Ostens. Ein besonderer Ort der Forschung.

Von Rolf-Dieter Heuer 21.04.2018

"OPEN SESAME – Sesam, öffne Dich!" Mit diesem Zauberwort gelangt der biedere Kaufmann Ali Baba in eine mit unermesslichen Schätzen gefüllte Wunderhöhle. Nachdem er eine Reihe von Schwierigkeiten überwunden hat und weil er "es verstand, sein Glück mit weiser Mäßigung zu genießen", kommt er zu Reichtum und Ansehen. Davon profitieren auch noch seine Nachkommen, und das bekannte Märchen findet ein glückliches Ende.

Ich weiß nicht, wer sich für das neue Synchrotron in Allan in Jordanien den Name SESAME ausgedacht hat (Synchrotron-light for Experimental Science and Applications in the Middle East). Als geradezu zauberhafter Türöffner hat sich SESAME jedenfalls lange vor seiner eigentlichen Inbetriebnahme erwiesen; an überwundenen Schwierigkeiten gab es auch keinen Mangel, und daran, dass hier große Wissens-Schätze zu heben sind, besteht kein Zweifel. Da SESAME nach einer langen Zeit der Vorbereitung jetzt, im Dezember vergangenen Jahres, seinen operativen Betrieb aufgenommen hat, könnte man sogar von einem "happy end" reden – allerdings markiert der Abschluss der Aufbauphase natürlich nur den Beginn einer hoffentlich noch glücklicheren Zukunft.

Forschung mit Synchrotronstrahlung

Man sollte natürlich den Vergleich mit dem Märchen nicht zu weit treiben. SESAME ist zunächst und vor allem ein Ort nüchterner Wissenschaft. In einem Synchrotron werden Elektronen beschleunigt und auf eine Kreisbahn geschickt. Dabei geben sie die sogenannte Synchrotronstrahlung ab, die mit Licht vergleichbar ist, aber ein viel größeres Energiespektrum bietet. Schickt man diese Strahlung durch eine Probe, hat man so etwas wie ein besonders leistungsfähiges "Mikroskop", mit dem sich die verschiedensten Dinge erforschen lassen. Beispielsweise analysieren Wissenschaftler bei SESAME gerade Bodenproben auf schädliche Rückstände, die sie mit anderen Geräten kaum nachweisen könnten.

Auch biologisches Gewebe lässt sich im Synchrotron untersuchen; so werden bei SESAME bestimmte Bestandteile in gesunden und kranken Zellen miteinander verglichen, um Hinweise auf die Entstehung von Krebs und Ansatzpunkte für neue Therapien zu bekommen. Ein besonders breiter Anwendungsbereich ist die Charakterisierung neuartiger Materialien, auch auf Nanoskalen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Jedes dieser Experimente stellt spezifische Anforderungen an die Beschaffenheit der Synchrotronstrahlung. Dafür werden bei SESAME verschiedene, jeweils speziell auf entsprechende Untersuchungen abgestimmte "Beamlines" eingerichtet, also Experimentierplätze, an denen Strahlung mit bestimmten Eigenschaften verfügbar ist. In der ersten Ausbaustufe sind sieben Beamlines vorgesehen. Die erste ist bereits in Betrieb, die zweite folgt demnächst, die dritte Anfang nächsten Jahres und dann noch vier weitere.

Damit bietet SESAME eine moderne und hochattraktive, international wettbewerbsfähige Forschungsinfrastruktur. Auch mit Blick auf die Strahlenergie von 2,5 GeV zählt SESAME zur oberen Hälfte der weltweit nur etwa 60 vergleichbaren Strahlungsquellen. Synchrotronstrahlung ist für viele wissenschaftliche Disziplinen interessant: Archäologische Proben lassen sich genauso untersuchen wie biologische oder chemische, neuartige Materialien können ebenso erforscht werden wie grundlegende physikalische Effekte. Vor diesem Hintergrund ist absehbar, dass die Nachfrage nach Messzeit an SESAME so groß bleiben wird, wie sie beim ersten "call for proposals" gewesen ist. Dies gilt umso mehr, als SESAME in einer Region liegt, die zwar über viele kreative Forscherinnen und Forscher, gerade auch über vielversprechende Nachwuchskräfte verfügt, aber nur über eine vergleichsweise schwach ausgeprägte Infrastruktur.

Gemeinschaftsprojekt

Und damit sind wir dann doch wieder bei dem vielleicht märchenhaft anmutenden, auf jeden Fall aber wundervollen Teil der Geschichte: SESAME ist ein Gemeinschaftsprojekt von Jordanien, Türkei, Zypern, Pakistan, der Palästinensischen Autonomiebehörde, Israel, Ägypten und Iran. Nun ist es bei großen Forschungsanlagen zwar gang und gäbe, dass Menschen verschiedenster Herkunft Hand in Hand zusammenarbeiten – eine solche Konstellation dürfte dennoch ziemlich einzigartig sein.

Entsprechend groß waren die Hürden, die von der ersten Idee für eine solche Anlage bis hin zur feierlichen Eröffnung durch den jordanischen König Abdullah am 16. Mai 2017 zu überwinden waren. (Es passt natürlich gut, dass der erste Laser auch an einem 16. Mai zum Leuchten gebracht wurde, und dass die UNESCO den 16. Mai zum Internationalen Tag des Lichts ausgerufen hat.) Wichtig für die Realisierung von SESAME war die Unterstützung durch die UNESCO, die International Atomic Energy Agency (IAEA), die EU, Deutschland, Italien und weitere Länder.

Unschätzbar war der Beistand der Wissenschaftsgemeinde und wissenschaftlicher Einrichtungen, unter anderem des CERN. Vor allem aber waren es die beteiligten Länder selbst, die den Großteil der erforderlichen Ressourcen aufgebracht haben und sich auf einen modus operandi für die gemeinsame Anlage geeinigt haben. Dies beginnt damit, dass sichergestellt werden musste, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller dieser Länder Zugang zu SESAME haben und in das Land einreisen dürfen – was im Übrigen auch in manchen "westlichen" Ländern keineswegs selbstverständlich wäre.

Die Zusammenarbeit funktioniert

Aber schon die Planungs- und Bauzeit hat gezeigt: Die Zusammenarbeit funktioniert! Die beteiligten Regierungen stehen hinter dem Projekt und halten ihre Zusagen ein. Als zwischenzeitlich die Finanzierung knapp wurde, haben Israel, Jordanien und die Türkei im Jahr 2012 jeweils noch einen erheblichen Betrag nachgelegt, ebenso die EU. Die eingerichteten Gremien und Komitees arbeiten konstruktiv zusammen, kreativ und lösungsorientiert, ohne ideologische oder auf andere Art wissenschaftsfremde Scheuklappen.

Und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Jordanien, Türkei, Zypern, Pakistan, Palästina, Israel, Ägypten, Iran und vielen anderen Ländern? Sie wetteifern miteinander, sie diskutieren, sie tauschen sich aus und kooperieren, sie sind gemeinsam enttäuscht, wenn ein Versuch danebengeht, und sie freuen sich gemeinsam, wenn sie die Forschung wieder ein Stück vorangebracht haben.  Nicht anders, als sie das am CERN, am DESY oder weltweit in anderen Forschungseinrichtungen tun.

Wie kommt es, dass bei SESAME etwas gelingt, was an anderen Orten im Nahen Osten noch unmöglich erscheint? Meine Antwort auf diese Frage lautet: Weil wir bei SESAME den Fokus ausschließlich auf die Wissenschaft legen und Fragen der Politik, wo immer und so weit es möglich ist, ausblenden. Idealerweise geht es in der Wissenschaft nicht um die Durchsetzung und Verteidigung eigener Interessen, sondern um die vorbehaltlose, gemeinsame Suche nach einem tieferen Verständnis der uns umgebenden Welt, zu der jeder und jede beitragen kann, der sich dafür begeistert.

"Idealerweise" – denn natürlich gibt es auch in der Wissenschaft verletzte Eitelkeiten, Konkurrenzkämpfe und sekundäre Motive. Und doch ist meine Erfahrung nach vielen Jahren, in denen ich mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern jeglicher couleur zu tun hatte: Der Ethos und der Eros der Wissenschaft sind die wichtigsten Triebkräfte für deren Fortschritt. Mehr als alle (wiewohl unverzichtbaren!) Fördergelder und Programme sind es die Begeisterung für ein tieferes Verständnis der Dinge und die Faszination für das, was die Welt im Innersten zusammenhält, die die Wissenschaft voranbringen. Es gibt immer wieder solche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich ganz der Suche nach Erkenntnis verschreiben und deshalb neugierig auf jeden kompetenten Gesprächspartner sind, egal aus welchem Land er kommt oder welchen Hintergrund sie hat. Zweifellos ist es dieser Esprit, dem sich SESAME verdankt.

Hoffnungszeichen

Bedeutet das nun, dass SESAME eine Art Elfenbeinturm in dieser Region wäre, erhaben über die Irrungen des Alltags und der Politik? Natürlich nicht. Die Menschen, die hierher kommen, um Wissenschaft zu betreiben, geben ihre spezifische Herkunft, ihre Kultur und ihre Religion – übrigens auch ihre ganz persönlichen Eigenarten – ja nicht an der Pforte ab. Aber indem sie sich einem Ziel jenseits dieser Realitäten verschreiben, finden sie sich auf einem gemeinsamen Weg wieder, auf dem Zusammenarbeit möglich, wünschenswert und erforderlich ist.

Wenn man dem anderen aber zunächst als Wissenschaftlerin oder als Wissenschaftler begegnet, kann man ihn später unmöglich nur noch pauschal auf eine nationale, religiöse oder kulturelle Identität festlegen. Wenn man sich gemeinsam auf den Weg der Forschung macht, ist auch der erste Schritt aufeinander zu getan. Das Forschungslabor wird so auch zu einem Laboratorium der Begegnung, des Miteinanders, der Überwindung von Vorurteilen. Damit ist SESAME – obwohl oder besser weil es dort gerade nicht um Politik, sondern um "reine Wissenschaft" geht – in einem gewissen Sinn doch ein eminent politischer Ort.

Dadurch ist noch keines der großen Probleme des Nahen Ostens gelöst. Aber umgekehrt kann man sagen, dass auch keines dieser Probleme gelöst werden kann, wenn es nicht Orte gibt, wo Menschen miteinander reden, gemeinsame Visionen verfolgen und handfest miteinander an Projekten arbeiten. So gesehen ist SESAME ein kleines, aber bemerkenswertes und hoffentlich weithin strahlendes Hoffnungszeichen für eine Weltregion, die positive Zukunftsperspektiven wahrhaftig gebrauchen kann.
Seinen wissenschaftlichen "Normalbetrieb" hat SESAME gerade erst aufgenommen.

Vieles bleibt noch zu tun

Vieles bleibt noch zu tun: Der weitere Ausbau der Anlage mit zusätzlichen Beamlines; die Errichtung eines Gästehauses, um den Forscherinnen und Forschern den Zugang zu erleichtern und den Aufenthalt noch angenehmer zu gestalten; die Aufstockung des Personals, insbesondere des für den Betrieb unentbehrlichen wissenschaftlichen und technischen Mitarbeiterstabs – kurz gesagt: Es gilt, den wissenschaftlichen Routinebetrieb zu etablieren und dabei natürlich auch schon die Weiterentwicklung von SESAME voranzutreiben.

Auch dabei wird es immer wieder Schwierigkeiten zu überwinden geben. Aber so wie ich, auch hinter den Kulissen, die Zusammenarbeit bei SESAME erlebe, bin ich absolut zuversichtlich, dass SESAME auf Dauer eine international bedeutsame Forschungsanlage sein wird, die der Region Sichtbarkeit auf der Landkarte der Wissenschaft verschafft. Und natürlich hoffe ich, dass SESAME auf diese Weise auch einen nachhaltigen Beitrag für Frieden und Wohlstand in dieser Weltregion leisten kann.