Ein Mann mit  englischer Graduierten-Robe steht in einer Parkanlage der University of Birmingham.
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Großbritannien
Interdisziplinäre Profile und Cash Cows

Wird Wissenschaft in Großbritannien gelebt und umgesetzt? Im Gespräch mit Leif Johannsen, der an britischen und an deutschen Universitäten tätig war.

Von Vera Müller 13.03.2025

Forschung & Lehre: Nach mehrjährigen Stationen an der Universität Birmingham und der Universität von East Anglia war Ihre – vorerst – letzte die Durham Universität. Was schätzen Sie an der britischen Art, Wissenschaft zu betreiben? 

Leif Johannsen: Die Kultur der wissenschaftlichen Zusammenarbeit empfinde ich an britischen Hochschulen als wesentlich gemeinschaftlicher als in Deutschland. Als ich im März 2023 an der Durham Universität als Postdoctoral Research Associate anfing, wurde ich mit offenen Armen empfangen. Das hat natürlich auch mit dem Research Excellence Framework (REF) und dem Ruf der Universität zu tun, sie gehört zur Russell Group, dem Hochschulverbund der 24 exzellenten Forschungsuniversitäten Großbritanniens. 

2029 steht das nächste REF an. Es dient der Forschungsbewertung an britischen Hochschulen, verteilt werden öffentliche Mittel von rund zwei Milliarden Pfund pro Jahr. Wie sich die Universitäten jetzt aufstellen, ist entscheidend für ihre Bewertung. Für dieses REF starteten die Hochschulen 2024 eine Einstellungsoffensive: Zahlreiche Forscherinnen und Forscher wurden eingestellt, mit denen die Hochschulen das, was 2029 dann evaluiert wird, erreichen wollen. Davon hätte ich dann auch profitieren können, wenn ich mich auf diverse offene Ausschreibungen beworben hätte, was mir auch angetragen wurde. Allerdings war mir klar, dass ich unter anderem aus familiären Gründen bald wieder nach Deutschland zurückkehren würde. 

Mir gefällt zum Beispiel die Departmentstruktur und ihre Grundphilosophie, die da lautet: einer für alle, alle für einen gewissermaßen. Während meiner Zeit in Durham haben meine ehemalige Chefin und ich ein Forschungspaper geschrieben und eingereicht. Dieses Paper wurde intern vorab von einem Kollegen bewertet. Das Gleiche gilt für alle Drittmittelanträge, insbesonders bei größerem Umfang wie zum Beispiel bei EU-Grants. Das Forschungspaper hat von den Kriterien her die geforderte Qualität und berücksichtigt auch den neuen Schwerpunkt des REF 2029, Open Science und Transparency. Diese Themen müssen wir in den Papers aufgreifen. 

Das wird in den Einrichtungen gelebt und umgesetzt, weil man weiß, es wird im REF 2029 belohnt. Interessant sind zudem disziplinen- beziehungsweise departmentübergreifende Netzwerkinitiativen, die sowohl gesellschaftliche als auch wissenschaftliche Themen betreffen. Durch das REF wird ein Spannungsfeld erzeugt, in dem man soziale Innovationen an den Universitäten einrichtet und ausprobiert, denn es könnte der Organisation Extrapunkte einbringen.

Leif Johannsen ist Privatdozent und Wissenschaftler am Institut für Psychologie der RWTH Aachen und Dozent an der TU München. Privat

F&L: Was wird im REF genau bewertet? 

Leif Johannsen: Es gibt drei Kernbereiche: Der wichtigste ist Contribution to knowledge and understanding (Publikationen). Für das Abschneiden eines Instituts bestimmt der Output 50 Prozent der Gesamtnote am Schluss, Engagement and Impact sowie People, Culture and Environment (Kultur der Zusammenarbeit in der Universität) jeweils 25 Prozent. 

Diese Kriterien sind grundsätzlich wichtig, allerdings wissen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch nicht genau, was sie konkret zu erbringen haben. Letzteres wird nicht definiert, sondern in Expertengruppen im Laufe der kommenden Jahre ausgearbeitet. 2026 werden die Kriterien final bekanntgegeben und 2028 müssen die Universitäten und die Departments all ihre Anträge bündeln und abgeben.

F&L: Auch gesellschaftspolitische Relevanzkriterien spielen eine Rolle, was ist damit gemeint? 

Leif Johannsen: Bereits bei Drittmittelantragstellung muss man über den Impact und den Transfer nachdenken und mit dem Aufwand benennen. Welche Maßnahmen sind geplant, damit das, was in dem Projekt erforscht wird, auch an die Gesellschaft zurückgeführt wird? In unserem Projekt an der Durham Universität ging es darum, die motorische Entwicklung von Kindern und die Repräsentation des Körpers von Kindern im Alter von fünf bis zehn Jahren zu untersuchen. Wir haben ihnen sozusagen virtuelle Körper gegeben, in denen sie sich dann bewegen sollten und haben geschaut, wie sie diese Körper steuern. 

Insgesamt handelt es sich hier um fünf Teile beziehungsweise Projekte oder Teilexperimente. Das letzte Projekt hat dann edukativen Charakter: Wir wollen schauen, ob wir mit dieser virtuellen Anwendung das Rechnenlernen in der Schule optimieren können. Das haben wir direkt in Grundschulen ausprobiert. So etwas muss man also gleich bei der Antragstellung mitdenken und auch erläutern. Hinterher zahlt sich das aus. Wir haben nicht nur das Paper geschrieben, sondern auch einen Impact erzeugt: Beispielsweise könnten Lehrerinnen und Lehrer nach Abschluss des Projekts dazu motiviert werden, Virtual Reality häufiger im Unterricht einzusetzen. Daraus resultiert dann ein sehr guter Impact Case, der dadurch gewürdigt wird, dass die Universität oder das Department höher gerankt wird und mehr Geld aus dem REF erhält.

"Bereits bei Drittmittelantragstellung muss man über den Impact und den Transfer nachdenken und mit dem Aufwand benennen."
Leif Johannsen, Wissenschaftler am Institut für Psychologie der RWTH Aachen

F&L: Wie wird das Geld verteilt, wer profitiert insbesondere von den Mitteln des REF? 

Leif Johannsen: Ähnlich wie bei der Exzellenzstrategie in Deutschland, hier allerdings mit weniger Geld, funktioniert das REF in Großbritannien nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Die klassischen Universitäten, insbesondere die der Russell Group, erhalten den größten Anteil der zwei Milliarden Pfund pro Jahr. Sie sind perfekt aufgestellt, insbesondere im Bereich Impact. Aber auch kleinere Universitäten können im Bereich Impact und Environment mitunter etwas erreichen. Bei Letzerem geht es darum, wie viele Doktorandinnen und Doktoranden ausgebildet und wie viele Drittmittel eingeworben wurden, aber auch die Arbeitszufriedenheit allgemein spielt dort eine Rolle. Der Unterschied zur Exzellenzstrategie in Deutschland ist, dass dort Antragsforschung bewertet und belohnt wird. Eine überschaubare Zahl von Universitäten kann gefördert werden, und alle anderen haben ihre Energie in gewisser Weise vergeudet. Das ist meines Erachtens eine große Verschwendung. 

Das REF in Großbritannien funktioniert nach einer Belohnungsstruktur:Die Mittel sind naturgemäß begrenzt, doch kann jede und jeder daraufhinarbeiten, so gute Forschung wie möglich zu machen. Das motiviert meines Erachtens mehr. Ähnlich der Exzellenzstrategie frisst auch das REF viele Ressourcen in den Universitäten. 

F&L: Die Universitäten in Großbritannien befinden sich in einem ausgeprägten Wettbewerb. Wie zeigt sich das beim REF? 

Leif Johannsen: Damit das Beste für die Universität als Ganze herauskommt, will sie zum Beispiel wissen, was ich als Forscher publiziere, um mich einer der 34 Units of Assessment, ähnlich den Fachgruppen bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), zuzuordnen. Diese Unit basiert nicht auf meiner Zugehörigkeit im Department, sondern sie bezieht sich auf das Thema, mit dem ich mich beschäftige. Das kann divergieren. Die Universität erhebt diese Daten und modelliert daraufhin, wie sie das am besten zuordnen kann. Das ist ein viel aktiveres Vorgehen als in Deutschland. Dazu gehört auch, dass sich britische Hochschulen Forschende suchen, deren Themen sich überlappen und inhaltlich ergänzen. Daraus entsteht dann ein Schwerpunkt für einen Bereich. Die Cluster in der Exzellenzstrategie in Deutschland dagegen bilden sich nicht so einfach wie zum Beispiel ein Department, das sich um ein Thema herumgruppiert. In Deutschland existieren Lehrstühle für bestimmte Themen. Wenn Sie Glück haben, gibt es Anknüpfungspunkte, in der Regel gibt es wenige bis gar keine. 

F&L: Wie wichtig ist in Großbritannien interdisziplinäres Forschen? 

Leif Johannsen: Das Interdisziplinäre wird in Großbritannien viel stärker gefördert als in Deutschland. Ich bin zum Beispiel Psychologe sowie Bewegungs- und Verhaltensneurowissenschaftler. Ich passe in kein deutsches Institut als Professor: Für die Psychologie bin ich nicht psychologisch genug, für die Sportwissenschaft nicht sportwissenschaftlich genug, für die Klinikmedizin und für die Gesundheitswissenschaften in einer Fachhochschule auch nicht passend. Mit diesem interdisziplinären Profil passte ich seinerzeit aus Sicht der Universität von East Anglia in Norwich perfekt auf die Stelle als Senior Lecturer. 

F&L: In Deutschland wird eine zu starke Bürokratie in Hochschulen und Wissenschaft beklagt. Wo trafen Sie an britischen Hochschulen auf Bürokratie beziehungsweise wie geht man dort damit um? 

Leif Johannsen: In Großbritannien sind es vor allem interne Prozesse und Kriterien in den Hochschulen, die bürokratisch sind. Sie lassen sich aber durch eine effiziente Digitalisierung, die in Deutschland nicht so gut funktioniert, flexibel handhaben. Die Universität Durham zum Beispiel hat kürzlich ein uniweites Ethikantragssystem eingerichtet, eine Plattform, bei der Forschende einmal einen Antrag einrichten müssen. Bei weiteren Anträgen können dann leicht Teile kopiert und ein neuer daraus erstellt werden. Ein anderes Beispiel: Wenn ich Ausstattung für mein Projekt benötige, dann bestelle ich es über meine Webplattform. Ich trage dort ein, was ich benötige, was es kostet, wo es bestellt werden soll, und dann geht es raus, natürlich nach entsprechender Prüfung.

Großbritannien – Schwerpunkt in "Forschung & Lehre" 

Die März-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt dem Forschen und der Wissenschaftspolitik Großbritanniens. 

Die Beiträge: 

  • Gerhard Dannemann | Paolo Chiocchetti
    Tiefgehende Einschnitte: Großbritannien fünf Jahre nach dem Brexit
  • Im Gespräch: Christina von Hodenberg
    Kompliziert, aber machbar: Deutsch-britische Wissenschaftsbeziehungen und die aktuelle Situation für Forscherinnen und Forscher in Großbritannien
  • Im Gespräch: Leif Johannsen
    Interdisziplinäre Profile und Cash Cows: Erfahrungen eines deutschen Wissenschaftlers an britischen Hochschulen
  • Im Gespräch: Christian Dustmann
    Leidende Mobilität: Zur Migrationspolitik in Großbritannien

Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!

F&L: Die Studiengebühren spielen für die Hochschulfinanzierung in Großbritannien eine große Rolle. Wie haben Sie das während Ihrer Zeit in Großbritannien erlebt? 

Leif Johannsen: Während meiner Zeit an der Birmingham Universität (2005 bis 2011) hat die damalige konservative Regierung das gesamte Hochschulfinanzierungssystem umgestellt. Die staatlichen Mittel wurden deutlich gekürzt, die Universitäten kompensierten das durch eine teils massive Erhöhung der Studiengebühren. 

Zu meiner Zeit in Norwich war in unserem Department damals der Studiengang Krankenpflege die sogenannte Cash Cow. Er war mit 300 bis 500 Studierenden pro Jahr der größte von allen, das meiste Geld wurde über diesen Studiengang aquiriert. Die Studierenden erhielten allerdings staatliche Unterstützung für ihr Studium der Krankenpflege. Diese staatliche Unterstützung wurde darauf von der damaligen Regierung gekürzt. Die Folge war, dass unsere Studierendenzahl in der Krankenpflege plötzlich massiv einbrach. Wieso soll man Krankenpflege studieren, wenn man für den gleichen Betrag zum Beispiel auch Betriebswirtschaftslehre wählen kann, um später dann deutlich mehr zu verdienen? Der Mangel an Krankenpflegerinnen und -pflegern hat sich zwei Jahre später in der Pandemie brutal gerächt. 

Zu meiner Zeit in Norwich war in unserem Department damals der Studiengang Krankenpflege die sogenannte Cash Cow.

F&L: Was sind aus Ihrer Sicht Schattenseiten des britischen Hochschulsystems? 

Leif Johannsen: Die Vermarktwirtschaftlichung der Universitäten, was sich in der aktuellen Entwicklung wieder auf dramatische Weise zeigt. Die Universitäten beziehungsweise die Institute brauchen die Studierenden für die Hochschulfinanzierung. Positiv betrachtet empfinden die Universitäten gegenüber den Studierenden dadurch mehr Verantwortung. Die Universitäten müssen zum Beispiel sicherstellen, dass die zahlenden Kunden auch in die Lehrveranstaltung kommen. Wenn Studierende einer Veranstaltung dreimal ferngeblieben sind, werde ich als Mentor aufgefordert, mit den Studierenden die Situation zu besprechen. Sie erhalten so ein besseres Studium und eine bessere Betreuung. 

Eine Schattenseite ist aber, dass auch Studierende, die eigentlich gar nicht studierfähig sind, mit durchgezogen werden. Sie fallen mehrfach durch Klausuren und die Lehrenden müssen immer neue Klausuren erstellen. Am Ende muss der Lehrende einen Quality Assurance Report (Qualitätsreport) schreiben und sich für eine schlechte Evaluation von Studierenden rechtfertigen. 

Eine weitere Erfahrung: In Großbritannien gibt es in der Regel die Volldozentinnen und -dozenten sowie diejenigen, die 50 Prozent Wissenschaft und 50 Prozent Lehre machen sollen, also Academic Teaching und Research. Zu den Letzteren gehörte ich an der Universität von East Anglia, als ich dort von 2016 bis 2018 gearbeitet habe. Sie ist keine Russell Group-Universität. An sich war ich in den ersten zwei Jahren von der Lehre befreit, dann sollte ich doch ein Modul Lehre übernehmen. Meine vertragliche Bewährungsdauer auf meiner unbefristeten Stelle war für fünf Jahre angelegt. Bedingung war, 120.000 Pfund pro Jahr an Drittmitteln einzuwerben. 

Ich sollte also neue Einnahmen generieren, aber letztlich wurde mir die Chance dazu nicht gegeben. Während ich meine Forschungsprojekte vorantreiben wollte, wurde ich von drei Vorgesetzten mit Aufgaben überhäuft. Das ist eine Schattenseite von Universitäten, die keine traditionellen Forschungsuniversitäten sind. Dort sind relativ geringe Drittmittel vorhanden, es konzentriert sich nahezu alles auf die Lehre und die Finanzierung läuft vor allem über Studiengebühren. Eine Vermarktwirtschaftlichung des Studiums ist meines Erachtens grundsätzlich in Ordnung, aber in Großbritannien wurde dieser Hebel überdreht.