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Interview
KI inspiriert das nächste Experiment

Steffen Schneider über KI-Methoden, die wissenschaftliche Erkenntnisse beschleunigen. Welche Rolle spielen sie beim "Lab in the Loop"?

Von Christine Vallbracht 30.05.2025

Forschung & Lehre: Herr Dr. Schneider, womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung? 

Steffen Schneider: Wir arbeiten mit dynamischen Systemen. Viele biologische Vorgänge lassen sich als dynamische Prozesse beschreiben. Maschinelles Lernen ebnet heutzutage den Weg, Beschreibungen dieser Systeme zu finden und sehr große Datensätze zu verarbeiten, was vor zehn Jahren noch nicht der Fall war. Im Arbeitsalltag hat das viele verschiedene Facetten: Wir machen einerseits Grundlagenforschung im maschinellen Lernen und in der Statistik, um interpretierbare Algorithmen zu entwickeln. Und wir verwenden andererseits die entstehenden statistischen Methoden für Datenanalysen in der Biologie, Medizin oder Neurowissenschaft.

Dr. Steffen Schneider ist Nachwuchswissenschaftler 2024, Forschungsgruppenleiter bei Helmholtz Munich und Gründer der Initiative KI macht Schule. Matthias Tunger

F&L: Können Sie das an einem Projektbeispiel veranschaulichen? 

Steffen Schneider: Wir haben beispielsweise kürzlich einen Machine-Learning-Algorithmus veröffentlicht, der Systeme mit komplexer Dynamik beschreibt. Dieser nutzt ein ähnliches Lernprinzip wie Sprachmodelle: Auf Basis einer Zeitreihe wird aus den bekannten Daten immer der jeweils nächste Schritt berechnet. Allerdings nicht auf der Ebene der sehr komplexen biologischen Zeitreihe, sondern in einer kompakten Beschreibung davon, die das Modell selbst lernt. 

Das ist sehr nützlich für die Analyse biologischer Daten: Jetzt verwenden wir diesen Algorithmus in einem Projekt, in dem wir zusammen mit experimentellen Partnern verstehen wollen, wie bestimmte Medikamente die Signalverarbeitung im Gehirn beeinflussen. Mit Hilfe des Algorithmus lassen sich Relationen zwischen den verschiedenen Gehirnzuständen darstellen und sie werden interpretierbar.

F&L: Künstliche Intelligenz hilft in diesem Fall, den wissenschaftlichen Blick zu lenken auf forschungsrelevante Auffälligkeiten? 

Steffen Schneider: Ja. Speziell dafür gibt noch die sogenannte "erklärbare KI". Eine ganz wichtige Richtung, an der wir ebenfalls arbeiten. Dabei geht es darum, Algorithmen zu entwickeln, die nicht nur Muster erkennen, sondern zusätzlich Beschreibungen generieren, warum die Daten genau so kategorisiert worden sind. Die Anwendung von maschinellem Lernen in den Lebenswissenschaften ist dabei besonders interessant, weil es immer Kontrollgruppen gibt und damit ein sehr schönes, kontrolliertes Setting, das man ansonsten nicht unbedingt hat. 

F&L: Ist das der Grund, warum Sie Ihr akademischer Weg von der Elektrotechnik zu den Neurowissenschaften geführt hat? 

Steffen Schneider: KI und maschinelles Lernen haben mich schon seit der Schulzeit interessiert. Dann war Elektrotechnik als Studienfach tatsächlich auch in der Rückbetrachtung eine gute Wahl. Zum Ende des Studiums habe ich an medizinischer Bildverarbeitung gearbeitet und bemerkt, dass es viele spannende Fragestellungen bei biologischen Daten gibt aufgrund ihrer Variabilität und Beschaffenheit. Letztlich hat mich dann vor allem das Gehirn interessiert. Mit dem Studiengang Neuroengineering konnte ich Neurowissenschaften und Elektrotechnik effektiv kombinieren, anschließend habe ich dann an der Schnittstelle von maschinellem Lernen und den Neurowissenschaften promoviert. 

F&L: Sie waren 2018 für einen einjährigen Forschungsaufenthalt bei Facebook in Kalifornien – ein sehr innovatives Umfeld. Was haben Sie von dort für Ihre heutige Arbeit mitgenommen? 

Steffen Schneider: Ich war damals als AI Resident bei Facebook AI Research in der Grundlagenforschung. Das war die Zeit, in der viele Algorithmen publiziert wurden, die der Baustein für das sind, was wir heutzutage umgangssprachlich als KI bezeichnen. Wir haben an der Verarbeitung gesprochener Sprache gearbeitet und hierfür große KI-Modelle trainiert. Die dortige sehr strukturierte und wissenschaftliche Herangehensweise an die Entwicklung von Machine-Learning-Methoden hat mich bis heute sehr geprägt. 

F&L: Inwiefern kann Künstliche Intelligenz aus Ihrer Sicht dazu beitragen, dass wissenschaftliche Experimente schneller aussagekräftige Ergebnisse liefern? 

Steffen Schneider: Ich sehe zwei große Hebel. Der eine Hebel ist die moderne Statistik, der andere liegt in der Verwendung generativer KI als einer Art Co-Pilot für das wissenschaftliche Arbeiten. Bei den statistischen Methoden geht es darum, wie Daten ausgewertet werden und wie man die Erkenntnis daraus ziehen kann, ob eine bestimmte Hypothese eher falsch oder eher zutreffend sein könnte. In diesem Bereich helfen Prinzipien aus dem maschinellen Lernen, neue Möglichkeiten zur Mustererkennung und für statistisches Testen zu entwickeln, aber eben auf großen und sehr komplexen Datensätzen. Der Einsatz als Co-Pilot ist interessant, weil es im durchschnittlichen Forschungsprojekt sehr viel automatisierbare, eher uninteressante Arbeit gibt, die man durch ein KI-Werkzeug viel schneller erledigen kann. Man bekommt den Kopf frei für die interessanten Facetten der Forschungsarbeit. Das beschleunigt die Prozesse schon enorm. 

"Prinzipien aus dem maschinellen Lernen helfen, neue Möglichkeiten zur Mustererkennung und für statistisches Testen zu entwickeln."

F&L: Besteht beim Einsatz maschinellen Lernens beim wissenschaftlichen Experimentieren eine Art Wechselwirkung? Also dass ein Algorithmus Daten auswertet, Kategorien bildet und im nächsten Schritt das Design des Experiments den Möglichkeiten des Algorithmus angepasst wird? 

Steffen Schneider: Das ist der Trend, zu dem es hingeht. Man nennt das "Lab in the Loop". Oft haben Forschende ein wissenschaftliches Experiment und möchten viel mehr Variablen verändern, als sie strukturiert durchtesten können. Nun kann man ein statistisches Modell wie eine Art digitalen Zwilling verwenden, um zu entscheiden, was denn das nächste interessante Experiment sein könnte. Dann zeichnet man wieder Daten auf, aktualisiert das Modell, zeichnet wieder Daten auf und so weiter. So funktioniert Forschung schon jetzt, aber die Zeitabstände sind größer, weil die Datenauswertung manuell durchgeführt wird. Setzt man maschinelles Lernen ein, kann man diesen Vorgang stark verkürzen. Im Extremfall ist das Modell direkt in das Experiment integriert. Da gibt es viel Potential. 

F&L: Sehen Sie darüber hinaus noch Potentiale von KI, wissenschaftliche Prozesse zu revolutionieren? Beispielsweise beim Verfassen wissenschaftlicher Publikationen? 

Steffen Schneider: Ja, das lässt sich auf Literaturrecherche, Brainstorming, das Editieren von einem Artikel und vieles mehr übertragen. Bei all diesen Anwendungsfeldern ist es sehr wichtig, die Grenzen zu kennen und zu wissen, wie man generative KI sinnvoll einsetzt. Die reflektierte Auseinandersetzung mit den Daten, das Generieren von Ideen, das Zusammenfassen und die Kommunikation nach draußen – all diese Arbeiten bleiben letztlich doch die Kernaufgabe für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

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F&L: Würden Sie da die Linie ziehen, dass KI gut Muster erkennen und Kategorien bilden kann, aber sobald es darum geht, sie zu bewerten und zu interpretieren, ist der Wissenschaftler, die Wissenschaftlerin wieder gefragt? 

Steffen Schneider: Tendentiell ja. Was in der Praxis ganz oft passiert, ist, dass es für ein Muster noch eine zweite, alternative Erklärung geben könnte. Es kann dann sein, dass die Variable nicht vernünftig randomisiert wurde oder es zum Beispiel einen strukturellen Unterschied zwischen Versuchstieren oder über die Zeit hinweg gibt. Es ist die kritische Rolle als Wissenschaftler und Wissenschaftlerin, sich darüber Gedanken zu machen. Was sind Alternativerklärungen? Welche weiteren Kontrollexperimente könnten notwendig sein? Das ist im Kern das, was man weiter als forschender Mensch machen wird, wenn auch immer mehr durch KI unterstützt. 

F&L: Wie konkret ist der Auftrag an die KI bei der Datenauswertung? Ist das ein reiner Datenvergleich oder geht es öfter auch in eine konkretere Richtung einer wissenschaftlichen Fragestellung? 

Steffen Schneider: Da kann man verschiedene Ansätze unterscheiden. Man kann entweder sogenanntes selbst überwachtes oder überwachtes Lernen verwenden. Beim selbst überwachten Lernen geht es um einen Datensatz, in welchem statistische Regelmäßigkeiten gefunden werden. Dann bekomme ich eine Darstellung von diesem hochdimensionalen Datensatz in irgendeiner niedrigdimensionalen Form, die ich dann weiter analysiere, beispielsweise mit einer Regressionsanalyse oder einem Clustering. Beim überwachten Lernen geht es oft um eine hypothesengetriebene Art, einen Datensatz zu analysieren. Es gibt Eingaben und Ausgaben, die man in Relation setzt. Die Stärke dieser Relation kann dann zum Beispiel zwischen verschiedenen Gruppen unterschieden werden. Beides sind gute Herangehensweisen, die man auch kombinieren kann. 

F&L: Inwieweit befähigt denn Ihre Arbeit andere Forschende, in ihrem Wissensgebiet voranzukommen? 

Steffen Schneider: Wir überlegen uns zusammen mit den experimentellen Partnern, wie man Methoden entwickeln kann, die gut auf diesen Anwendungsfall zugeschnitten sind, um so neue Erkenntnisse durch maschinelles Lernen zu erlangen, die man sonst vielleicht übersehen hätte. Oft kann man auch im Experiment kleine Details verändern, die dann ganz andere Möglichkeiten eröffnen, den Datensatz mit maschinellem Lernen auszuwerten. Dieser Austausch in beide Richtungen ist sehr wertvoll und macht auch sehr viel Spaß in der Arbeit. 

F&L: Können Sie vielleicht diesen Austauschprozess an einem Beispiel darlegen? 

Steffen Schneider: Ein aktuelles Beispiel ist die Entwicklung von Organoiden. Das sind Modellsysteme, die aus Stammzellen differenziert werden. Dabei geht es oft darum, die Entwicklungsdynamik dieser Systeme mit hoher Variabilität besser zu verstehen. Während das Experiment läuft, bekommen wir von unseren Kooperationspartnern Daten, können sie gemeinsam auswerten und direkt zusammen diskutieren, was interessante Stimulationen und Interventionen sind, um aufschlussreiche Muster zu erhalten. 

F&L: Mit welchen Fragestellungen kommen andere Forschende auf Sie zu? 

Steffen Schneider: Ein Kollege hat ein Klassifizierungsmodell für bildgebende Verfahren entwickelt, das Diagnoseentscheidungen treffen kann für verschiedene Krankheitstypen. Das Modell kann zwei Subtypen dieser Krankheit unterscheiden, die Ärztinnen und Ärzte normalerweise nicht unterscheiden können. Wir arbeiten jetzt daran, durch das KI-Modell zu verstehen, was denn eigentlich die richtige Entscheidungsregel ist, um diese zwei Subtypen zu erkennen. Das könnte Einfluss darauf haben, wie in Zukunft Ärztinnen und Ärzte diese Krankheit diagnostizieren können. So kann Grundlagenforschung im maschinellen Lernen einen Einfluss auf die Praxis haben. 

"Das Modell kann zwei Subtypen dieser Krankheit unterscheiden, die Ärztinnen und Ärzte normalerweise nicht unterscheiden können." 

F&L: Wenn Sie einer Hochschullehrkraft drei Tipps geben sollten im Umgang mit KI. Welche wären das? 

Steffen Schneider: Ich finde wichtig, darüber nachzudenken, welche Teile der eigenen Lehre positiv von KI profitieren können. Wenn man beispielsweise große Veranstaltungen hat, bietet KI Möglichkeiten, als ein persönlicher Tutor zu fungieren. Studierende könnten sie dann nutzen, um sich Übungsaufgaben erklären zu lassen oder um gezielte Nachfragen zum Vorlesungsinhalt zu stellen, um so das Wissen zu vertiefen. Das erfordert gar nicht so viel Veränderung am Status quo. Wichtig ist gutes Kontextmaterial zur Veranstaltung. Die Hochschulen selbst könnten darüber nachdenken, solche Systeme für die Lehre bereitzustellen und es einfacher möglich zu machen, das Ganze in den Vorlesungen zu verwenden. Manche Hochschulen machen das bereits. Ich glaube, das legt den Fokus noch mehr auf die individuelle Problemlösungskompetenz von Studierenden, die man ja sowieso an der Universität lernen soll. 

Außerdem sollte man in der Lehre sinnvolle Einsatzmöglichkeiten und die Grenzen von KI diskutieren und dazu als Dozentin oder Dozent mit den Studierenden praktische Übungen machen. Es sollte klar werden, dass es noch ganz viele Punkte gibt, wo man als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler oder später im Berufsleben weiter im Fahrersitz sitzt, KI-Ausgaben korrigieren muss und menschliche Expertise wichtig ist. 

F&L: Sie engagieren sich als Gründer der Initiative KI macht Schule dafür, dass Jugendliche den Umgang mit dieser Technik lernen. Warum ist Ihnen das wichtig? 

Steffen Schneider: Der generelle Hintergedanke ist der Begriff des Computational Thinking. Beim Programmieren zerlegt man ein Problem strukturiert in Teilprobleme und löst diese dann nacheinander. Das ist eine Art des Denkens, die unglaublich nützlich ist, um Projekte bearbeiten zu können – egal ob in der Industrie oder in der Wissenschaft. Mit KI geht das noch einen Schritt weiter. Wir haben plötzlich Systeme, die uns ermöglichen, Teilaufgaben eines komplexen Projektes zu delegieren. Diese Arbeitsweise und Problemlösungskompetenz samt erforderlichem technischen Hintergrundverständnis sind ein ganz zentraler Future Skill, den man unbedingt in der Schule erlernen sollte. 

"Wir haben plötzlich Systeme, die uns ermöglichen, Teilaufgaben eines komplexen Projektes zu delegieren."

F&L: Würden Sie sagen, dass es momentan so ähnlich ist wie beim Smartphone oder beim Surfen im Internet, dass die sogenannten Digital Natives viele Tools und Techniken anwenden, ohne wirklich zu verstehen, welche Funktionsweisen dahinterstecken? 

Steffen Schneider: Das ist auf jeden Fall eine Gefahr, in die das Bildungssystem reinlaufen kann, wenn man nur die Anwendung alleinstehend betrachtet und die technischen und ethischen Überlegungen auslässt. Das Bildungssystem muss es hinbekommen, "Skill Skipping" zu verhindern, also das Überspringen von bestimmten Kompetenzen. Es lohnt sich aus meiner Sicht weiterhin zu wissen, wie man einen guten Text verfasst und erkennt oder wie gut strukturierter Code aussieht. Das muss ich erstmal lernen, damit ich dann im zweiten Schritt, wenn ich Teile davon an eine KI delegiere, einschätzen kann, ob die Ausgaben gut sind oder nicht. 

Das lässt sich auf die Hochschule übertragen. Man studiert ein Fach, weil man spezielle Kompetenzen erwerben will. Diese Haltung ist glaube ich in der Forschung sehr ausgeprägt. Auch Doktorandinnen Doktoranden müssen gut einschätzen können, bei welchen Fragestellungen sie selbst aktiv werden und KI-Ausgaben hinterfragen sollten. 

F&L: Wie macht man beim wissenschaftlichen Arbeiten am besten transparent, dass man KI benutzt hat und welche Außenwirkung könnte das haben? 

Steffen Schneider: Konferenzen und Journale, in denen wir publizieren, haben alle eigene Policies, wie und ob KI eingesetzt werden darf und wie es kenntlich gemacht werden soll. Diese Policies unterscheiden sich teilweise sehr stark. Wenn man es optimistisch ausdrückt, dann sollte die Entwicklung hin zur KI eigentlich dazu führen, dass man höhere Anforderungen an die Qualität stellt und Reviewprozesse überdenkt. Ich halte es auf jeden Fall für sinnvoll, in irgendeiner Form eine Kennzeichnung oder Selbsterklärung zu machen. Da kann man auch gut klassifizieren, zu welchem Grad KI eingesetzt wurde. Letztlich ist es wichtig, dass man auf so einer Publikation weiterhin mit seinem Namen für das steht, was man erarbeitet hat.

Forschung & Lehre 

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