Das Bild zeigt eine medizinische Vorlesung, im Vordergrund ist ein Skelett zu sehen.
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Geschlechtersensible Medizin
"Mein Leben reicht nicht aus, um das Gender-Data-Gap zu füllen"

Geschlechtersensible Medizin berücksichtigt die Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Ziel ist eine effektivere Gesundheitsversorgung.

Von Friederike Invernizzi 28.08.2024

Forschung & Lehre: Wie haben Sie zum Forschungsthema geschlechtersensible Medizin gefunden?

Ute Seeland: Zu Beginn meines Studiums war ich sehr enthusiastisch und dachte, dass die Medizin Lösungen für jedes Problem bietet. Ich habe dann aber relativ schnell verstanden, dass das nicht der Fall ist. Immer wieder stellte ich fest, dass sich Grenzen bei der Beantwortung von bestimmten Fragen auftaten. Als Wissenschaftlerin in Homburg an der Saar und an der Charité in Berlin war die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse von Studien ein häufiges Thema. Das galt nicht nur für mich, sondern auch für meine Kolleginnen und Kollegen. 

Mir ist dann irgendwann aufgefallen, dass ich für meine Experimente mal weibliche und mal männliche Mäuse bekommen hatte, je nachdem, welche gerade verfügbar waren, um Vorexperimente durchzuführen. Mir wurde deutlich, dass möglicherweise die mangelnde Reproduzierbarkeit an dem Geschlecht der Mäuse liegen könnte und sich nicht durch weitere Verbesserung der Methode ändern würde. Die männlichen und weiblichen Mäuse reagierten bei einigen Experimenten unterschiedlich auf operative Prozeduren und Behandlungen. Das deckte sich mit meinen Beobachtungen im Krankenhaus während meiner klinischen Ausbildung im Saarland zur Internistin mit kardiologischem Schwerpunkt. Frauen waren im Gegensatz zu den Männern häufig unzufriedener mit der medizinischen Behandlung, auch wenn oft nicht so deutlich wurde, aus welchen Gründen. Bei Männern war das klarer. 

Ute Seeland besetzt die neue Stiftungsprofessur für das Fachgebiet Geschlechtersensible Medizin an der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke Universität in Magdeburg. Kathrin Harms

F&L: Und wie ging es weiter?

Ute Seeland: Ich habe mich mit dem Thema der Geschlechterunterschiede weiter beschäftigt und festgestellt, dass es bisher nur wenige Menschen gab und noch gibt, die auf diesem Gebiet forschen. Zurück in meiner Geburtsstadt Berlin wurde ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem noch recht jungen Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin beschäftigt, welches damals von Professorin Vera Regitz-Zagrosek geleitet wurde. 

Seitdem ließ mich das Thema Geschlechterunterschiede in Forschung, Klinik und Lehre nicht mehr los, und ich hatte die einzigartige Möglichkeit, mich an der Charité im Fachgebiet Innere Medizin/Geschlechtersensible Medizin zu habilitieren. Die Zeit dort war sehr intensiv und interessant, da sich auch international Gruppen, mit denen wir kooperierten, weiter in das Thema einarbeiteten.

Im Laufe der Zeit übernahm ich den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin (DGesGM) und intensivierte die Zusammenarbeit mit der International Society of Gender Medicine (IGM). Passend zu meinem kardiovaskulären Wissenschaftsschwerpunkt wurde ich Vorsitzende der AG28 Gendermedizin in der Kardiologie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und habe das erste Positionspapier zu Geschlechterunterschieden in der Kardiologie initiiert. 

Es ist mir wichtig, dass viele Kolleginnen und Kollegen von den Geschlechterunterschieden erfahren und das Wissen in ihre Praxis bringen. Nur gemeinsam können wir diesen ersten Schritt in Richtung personalisierte Medizin gehen. Meine Professur nun an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gibt mir die Möglichkeit, meine Expertise auch in alle anderen Fachrichtungen einzubringen. 

F&L: Welchen Ansatz verfolgt die geschlechtersensible Medizin? 

Ute Seeland: Es handelt sich dabei zum einen um einen biologischen Ansatz, der weg vom rein organbezogenen Blickwinkel der klassischen Medizin die Bedeutung des systembiologischen Ansatzes für die Erhaltung von Gesundheit, die Entstehung von Krankheiten und deren Behandlungsmöglichkeiten in den Blick nimmt. Ich möchte, dass zukünftige Medizinerinnen und Mediziner den Menschen mehr in seiner Gesamtheit erfassen und die Transitionszeiten in den Blick nehmen. Mit Transitionszeiten meine ich die Zeiten, die geprägt sind durch größere Sexualhormonveränderungen, wie zum Beispiel die Pubertät, Menopause, Testosteronveränderungen und Schwangerschaft.

"Ich möchte, dass zukünftige Medizinerinnen und Mediziner den Menschen mehr in seiner Gesamtheit erfassen."

Zum anderen beschäftigen wir uns mit Methoden, die das soziokulturelle Geschlecht beschreiben, und wir lernen, wie wir den englischen Begriff "gender" für den deutschsprachigen Raum nutzbar machen können, zum Beispiel über die Definition von Diversitätsdomänen. Die geschlechtersensible medizinische Forschung ist wichtig, um die Interaktion zwischen dem soziokulturellen und dem biologischen Geschlecht methodisch zu erfassen und um aus den Ergebnissen der Studien differenzierte Handlungsempfehlungen ableiten zu können. Die epigenetische Forschung geht in eine ähnliche Richtung. Hier geht es um die Auswirkungen langfristig wirkender Umwelteinflüsse auf die Genetik. Medizinerinnen und Mediziner sind gut ausgebildet in den Methoden, die das biologische Geschlecht erforschen. Es handelt sich um Labormethoden, die sich überwiegend mit der Quantifizierung auf RNA- und Proteinebene beschäftigen oder die Zellsignaltransduktion erforschen. Bisher ohne darauf zu achten, ob die Zellen oder Versuchstiere ein genetisch weibliches oder männliches Geschlecht haben. Das gilt es jetzt zu ändern. 

Nicht gut geschult sind wir bei der systematischen Erforschung der soziokulturellen Einflussfaktoren auf Erhaltung von Gesundheit und Entwicklung von Krankheit. Die Erforschung sozialer Konstrukte wie Frau, Mann, Mädchen, Junge und transidente Person ist Gegenstand der soziologischen und psychologischen Professionen, sollte aber für die Medizin genauso wichtig sein. Denn wir Menschen leben nicht in einem isolierten Raum, sondern sind eingebunden in unsere Umwelt. Daher wird bei der geschlechtersensiblen medizinischen Forschung Wert gelegt auf eine interprofessionelle Kommunikation. 

F&L: Die geschlechtersensible Medizin entwickelte sich erst in den letzten Jahrzehnten zu einem Thema. Warum passierte das so spät?

Ute Seeland: Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht. Das hat sicherlich unter anderem historische Gründe. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es noch die sogenannten Kräuterweiber, die die Familien medizinisch versorgt haben. Frauen wurden an Universitäten nicht zugelassen, sie wurden als schwach und weniger intelligent bezeichnet. Medizinisch versierte Frauen wurden sogar als Hexen verbrannt. 

Im 18. Jahrhundert kamen die ersten medizinischen Fakultäten auf, an denen nur Männer zugelassen waren, erste Frauen geduldet wurden. In der Folge war die männliche Perspektive in der Medizin und in der Forschung sehr dominant, sodass Themen wie Menopause oder der weibliche Zyklus nicht im Fokus standen. 

Im weiteren Verlauf hat sich damit eine Disziplin entwickelt, die den männlichen Körper als Norm im Auge hatte. Alles andere war dann eine Abweichung. Das hat dazu beigetragen, dass wir den weiblichen Körper, der, beginnend mit den unterschiedlichen Geschlechtschromosomen über die Wirkung der Sexualhormone bis zu Unterschieden im Verhalten, anders funktioniert, nicht in demselben Maße verstehen wie den männlichen Körper. Wir sprechen heute von dem Gender-Data-Gap – also einer Lücke an datenbasiertem Wissen zu dem weiblichen Körper. 

Dadurch entsteht zuweilen der Eindruck, dass es sich bei der geschlechtersensiblen Medizin um Frauenmedizin handelt. Das ist nicht der Fall, denn auch der männliche Körper ist bei Erkrankungen wie der Osteoporose, der Depression oder den Autoimmunerkrankungen nicht so gut verstanden. Bezogen auf transidente Personen mit hormoneller Transition liegen sehr viel weniger Daten vor, sodass hier die physiologischen Kenntnisse zu den Entwicklungsschritten des jeweiligen biologischen Geschlechts und der Hormonwirkungen im Einzelnen Herausforderungen sind, denen sich die Wissenschaft nun immer mehr annimmt. Es kamen aber noch andere Aspekte dazu, die diese Entwicklung begünstigt haben.

"Zuweilen entsteht der Eindruck, dass es sich bei der geschlechtersensiblen Medizin um Frauenmedizin handelt. Das ist nicht der Fall."

F&L: Welche sind das?

Ute Seeland: Früher durfte man beispielsweise zu medizinischen Zwecken nur die Körper von Schwerverbrechern sezieren, die männlich waren. Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit sezierte man dann zwar auch die ersten Körper von Frauen, um die Ursachen von Totgeburten zu verstehen. Da man sich nicht für den gesamten Körper der Frau interessierte, wurden die Frauen ab Körpermitte einfach abgeschnitten. Es wurden das Becken seziert und das tote Kind. Dieses Vorgehen zeigt den Fokus des medizinisch-wissenschaftlichen Interesses bezogen auf den Frauenkörper.

F&L: Vor welchen Herausforderungen steht die geschlechtersensible Medizin angesichts dieser Vergangenheit?

Ute Seeland: Wir haben es mit einem erheblichen Fortschritt an Kenntnissen zu tun und können jetzt beginnen, die theoretischen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen und systematisch in die Lehre einzubringen. Die Realität, bezogen auf die Datenanalysen der neueren Studien, die publiziert werden, sieht allerdings so aus, dass – auch wenn daran gedacht wurde, 50 Prozent weibliches und 50 Prozent männliches Geschlecht in die Studien einzubeziehen –, der Datensatz nicht getrennt nach dem Geschlecht ausgewertet wird, obwohl dies sehr einfach zu machen wäre. Diese Ergebnisse kann ich dann wieder nicht in die Lehre mitnehmen, und im klinischen Alltag bringen mir die Schlussfolgerungen aus den meist sehr teuren Studien wenig. 

Mein Leben reicht nicht aus, um das Gender-Data-Gap zu füllen. Es muss jetzt ein Umdenken her, und dafür setze ich mich mit allen drei Aufgabengebieten der Professur weiter ein – in der Lehre, der Forschung und der Umsetzung, also der klinischen Versorgung.