Auf einer Demonstration gegen Rechts halten Demonstranden Plakate hoch mit der Aufschrift "Aus Fremden können Freunde werden".
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Identitätskonflikte
Spaltung in europäischen Gesellschaften

Große Bevölkerungsteile in Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden gehören ideologisch gegensätzlichen Lagern an. Dies zeigt eine neue Umfrage.

17.06.2021

Europäische Gesellschaften sind gespalten in identitätspolitisch gegenläufige Lager von nennenswertem Umfang, wie eine internationale Bevölkerungsumfrage des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Universität Münster zeigt. "Wir sehen zwei ausgeprägte Gruppen mit entgegengesetzten Positionen, die wir 'Verteidiger' und 'Entdecker' nennen", sagt der Psychologe Professor Mitja Back. Diese stünden sich in Identitätsdebatten auf verhärteten Konfliktpositionen gegenüber.

Die Umfrage geht in Deutschland von einem Anteil der beiden Gruppen von 34 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, in Frankreich von 33 Prozent und in Schweden von 26 Prozent. Dabei nahmen die 'Verteidiger' jeweils 20, 14 und 11 Prozent ein. In Polen dagegen machten diese 'Entdecker' und 'Verteidiger' gemeinsam Dreiviertel der Bevölkerung aus (45 Prozent 'Entdecker', 27 Prozent 'Verteidiger'). Diesen deutlichen Unterschied setzen die Forschenden mit dem politischen System in Verbindung: In Polen als semi-autoritär geführtem Land würden Verteidiger-Überzeugungen populistisch gestützt. Daher hätten sich die polarisierten Positionen zur Mehrheit ausgeweitet.

Die Überzeugungen von 'Entdeckern' und 'Verteidigern'

'Verteidiger' fühlten sich laut Definition der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in allen Ländern eng mit dem eigenen Land verbunden und hätten die Ansicht, dass nur Menschen, die in diesem geboren seien, wirklich dazugehörten. Sie seien eher religiös, lehnten andere Ethnien oder Religionen ab und fühlten sich beispielsweise durch Muslime bedroht. Sie seien unzufriedener mit der Lage der Demokratie in ihren Ländern und tendierten eher zu populistischen Parteien. 'Entdecker' andererseits lehnten ethnisch-religiös definierte Zugehörigkeiten ab. Sie sehen Zuwanderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance. 'Entdecker' seien eher jung und gebildet und lebten in der Stadt. In Deutschland, Frankreich und Schweden fühlten sie sich politisch repräsentiert. In Polen jedoch hätten sich auch die 'Entdecker' benachteiligt gefühlt und seien unzufrieden mit dem politischen System.

Die Forschenden begründeten diese polarisierten Positionen mit psychologischen Grundbedürfnissen der einzelnen Gruppen: 'Verteidiger' sehnten sich nach Sicherheit und Stabilität, während 'Entdecker' Offenheit und Veränderung suchten. Gesellschaften bestünden immer aus einer Mischung beider Gruppen. Der bestehende Identitätskonflikt sei schwer verhandelbar und würde durch Globalisierungseffekte und Krisen verstärkt. Politischen Entscheidungsträgern empfehlen die Forschenden, sich nicht auf eine Seite zu stellen, sondern die jeweils zugrundeliegenden psychologischen Bedürfnisse anzugehen und herauszufinden, was für die betreffende Gruppe verhandelbar sei und was nicht. Nur so könnten Kompromisse gefunden werden.

Hintergründe der Studie

Für die Umfrage wurden im November und Dezember 2020 über 5.000 zufällig ausgewählte Menschen in Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden telefonisch zu ihrem Verständnis von Identität befragt. Sie seien nach Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit, Gefühlen der Bedrohung und Benachteiligung und der Wahrnehmung von politischer Vertretung und Steuerung gefragt worden. Dazu seien kulturelle, religiöse und psychologische Faktoren sowie soziale Merkmale abgefragt worden, wie Alter, Geschlecht, Bildung und Region. Aus den Detailergebnissen wurden laut dem Exzellenzcluster per Clusteranalyse Gruppen herausgefiltert, die in allen Ländern erkennbar seien, darunter die in einem Arbeitsbericht beschriebenen 'Entdecker' und 'Verteidiger'.

Das Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster besteht seit 2007. In der aktuellen Förderphase befassen sich die 140 Forschenden aus 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern und 10 Ländern mit "Dynamiken von Tradition und Innovation". Dafür steht ein Fördervolumen von 32 Millionen Euro zur Verfügung. Das Themenjahr 2020-2021 steht unter dem Titel "Zugehörigkeit und Abgrenzung. Dynamiken sozialer Formierung".

cpy