

Osteuropa
Tektonische Verschiebungen in der Wissenschaft
Die rasant verlaufende Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit in den USA erinnert an ähnliche Prozesse im östlichen Europa. Amerikanische Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler bitten derzeit Kolleginnen und Kollegen aus Osteuropa um Rat, wie sie in Zeiten des politisch motivierten Kahlschlags von Förderinstrumenten reagieren können. In Belarus liegt diese Phase des radikalen Umbaus über zwei Jahrzehnte zurück.
An russischen Universitäten wurden die letzten Inseln freier Forschung parallel zum Krieg gegen die Ukraine zerstört. Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die vor Jahren ihre Arbeit an staatlichen Einrichtungen in Moskau, Sankt Petersburg und Minsk verloren hatten, reiben sich heute die Augen, in welcher Geschwindigkeit und Leichtigkeit der populistisch-autoritäre Umbau in den USA derzeit seinen Lauf zu nehmen scheint, obwohl Substanz, Dichte und Qualität der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft kaum vergleichbar sind.
Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie schwer uneingeschränkte Solidarität aller Kolleginnen und Kollegen zu erreichen ist, wenn der Angriff auf die Autonomie der Wissenschaft Teil eines radikalen politischen Programms ist. Vor diesem Hintergrund sticht das Muster eines Raubkapitalismus deutlich ins Auge, in dem eine Gruppierung mithilfe demokratischer Prozesse versucht, einen gesamten Staatsapparat unterzuordnen, um diesen zur Mehrung der eigenen Macht und des eigenen Reichtums zu nutzen.
Die Gefahr ernst nehmen Angesichts der aktuellen Verschiebung des Epizentrums wissenschaftsfeindlicher Politik in den Norden Amerikas lassen sich die Erfahrungen osteuropäischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht länger als Geschichten aus einer fremden Welt abtun, sondern müssen als konkrete Warnungen verstanden werden. Vollzieht man den Perspektivwechsel hin zu einer vollständig einer politischen Agenda untergeordneten Wissenschaftslandschaft in Russland oder Belarus, wird der Blick frei für eine mögliche Zukunft, die schon bald nicht nur in den USA, sondern auch hierzulande denkbar ist. Zugleich enthält er Hinweise, wie sich wissenschaftliche und persönliche Integrität in Zeiten der autoritären Wende bewahren lässt und wie hoch der Preis dafür ist.
Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus und in Osteuropa kennen die Logik der Einzelschritte, die nun auch in den USA ganze Institutionen bedroht: Institute werden mithilfe ideologischer Kontrollmechanismen auf Linie gebracht oder gleich ganz geschlossen, Forschungsbudgets für unliebsame Disziplinen und Fächer gestrichen.
Die Gefahr ernst nehmen
Prominente Protagonistinnen und Protagonisten stehen am Pranger und sehen sich gezwungen, ihre Positionen aufzugeben oder das Land zu verlassen. So überrascht es kaum, dass Professorin Marci Shore und Professor Timothy Snyder gemeinsam mit dem Philosophen Professor Jason Stanley ihren Wechsel von den USA nach Kanada ankündigten. Die beiden Historiker haben in den vergangenen drei Jahrzehnten genau verfolgt, wie sich die Landschaft im östlichen Europa veränderte. Gewiss werden sie nicht die Einzigen bleiben, die aus den tektonischen Verschiebungen der Wissenschaft in den USA ganz persönliche Schlüsse ziehen. Doch nicht alle können oder wollen gehen. Weniger prominente Kolleginnen und Kollegen müssen mit zunehmenden Schikanen von willfährigen Universitätsverwaltungen und empörten Öffentlichkeiten rechnen.
Die wichtigste Einsicht aus Osteuropa und den USA ist, die Gefahr ernst zu nehmen, da sich die Attacken nicht allein gegen Fächer wie Genderstudies oder prominente Feindbilder der autoritären Rechten richten. Vielmehr handelt es sich bei der derzeitigen Ausweitung der politischen Kampfzone um einen konzertierten Angriff auf die gesamte Wissenschaft in ihrer jetzigen Form.
Die Erfahrung aus dem östlichen Europa zeigt, dass es unter diesen Bedingungen keine Möglichkeit gibt, sich in wissenschaftliche Nischen zurückzuziehen und die Verwerfungen der politischen Rahmenbedingungen auszublenden, um weiter fokussiert zu arbeiten. Das Gegenteil ist der Fall. Wissenschaftliche Forschung und der Alltag in akademischen Institutionen sind auch in ruhigeren Zeiten eingebettet in gesellschaftliche und politische Kontexte. Die Polarisierung und Radikalisierung der Politik verändert aber unmittelbar die Bedingungen akademischer Arbeit. Die autoritären Regime Osteuropas legen größten Wert darauf, dass sich niemand ihrem Zugriff entziehen kann. Wer sich gegen den Konformitätsdruck in der Wissenschaft auflehnt, muss mit erheblichen Konsequenzen rechnen.
So erging es etwa dem Dekan der Staatlichen Universität in Minsk, der sich im Spätsommer 2020 mit protestierenden Studierenden solidarisierte. Er musste daraufhin das Land verlassen, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Im Nachbarland Polen fand er akademisches Asyl, hier forscht er bis heute unter prekären Bedingungen. Er ist nur ein Beispiel von Hunderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nach 2020 einen Neuanfang in der Ungewissheit wagen mussten, weil sie im Moment des staatlichen Übergriffs Haltung gezeigt hatten. Eine andere Option ist die erzwungene Unterwerfung: In ausnahmslos allen russischen Universitäten und Forschungseinrichtungen erklärten sich Leitungen und Angestellte 2022 angesichts massiver Repressionsdrohungen öffentlich einverstanden mit den Zielen des russischen Angriffskriegs.
Nur wenige wagten, nach den erpressten universitären Stellungnahmen zur Notwendigkeit der angeblichen Spezialoperation öffentlich zu widersprechen. Die meisten zogen es vor, sich – aus freien Stücken oder schweren Herzens – den ideologischen Vorgaben anzupassen, und hoffen darauf, unbehelligt zu bleiben oder gar von der Dynamik einer umfassenden Mobilisierung zu profitieren. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, ihre persönliche Integrität im alltäglichen Handeln zu bewahren. Dort, wo universitäre Curricula beeinflusst, Bücher zensiert oder Studierende gemaßregelt werden, nutzen sie die wenigen verbliebenen Freiräume; so knapp bemessen diese auch in der Diktatur sein mögen. Insbesondere sie sind zum Schweigen verurteilt, um ihre bescheidenen Handlungsmöglichkeiten nicht vollends einzubüßen.
Wissenschaftsfreiheit
Wie steht es um die akademische Freiheit? Ausgewählte Artikel über Entwicklungen und Diskussionen zum gesetzlich verankerten Recht finden Sie in unserem Themenschwerpunkt Wissenschaftsfreiheit.
Effekte der erzwungenen Unterordnung
Die Effekte solcher und anderer Methoden der erzwungenen Unterordnung beziehungsweise Ausgrenzung sind dramatisch. Wo die Freiheit der Forschung und Lehre in so fundamentaler Weise beschnitten wird, produziert Wissenschaft ausschließlich ideologisch gewünschte Ergebnisse. Zugleich regieren auf den Fluren der Institute Misstrauen und Furcht. In Anerkennung der Bedrohung sahen sich diejenigen, die vor Ort nicht bereit waren, sich anzupassen, gezwungen, die Wissenschaft oder das eigene Land zu verlassen. Das Exil in Europa und Nordamerika, aber auch in den Ländern des Kaukasus und Zentralasiens bot ihnen einen temporären Ausweg aus der unmittelbaren Bedrängnis.
Doch bleibt die Situation der meisten geflohenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler trotz Unterstützung höchst prekär. Abgesehen von wenigen prominenten Ausnahmen stellen sich ihnen stets auf Neue existentielle Fragen nach der kausalen Verknüpfung von Auskommen, Aufenthaltstitel und Zukunftsperspektive. Das daraus resultierende Dilemma spitzt sich zu, wenn im Laufe der Jahre das allgemeine Interesse am Schicksal der Exilwissenschaftler nachlässt. Formen der institutionalisierten Solidarität – und damit auch Finanzierungsmöglichkeiten – wachsen nicht in derselben Geschwindigkeit wie die Herausforderungen. Längst werden die eben noch demonstrativ unterstützten Kollegen von einigen als Konkurrenten um knapper werdende Ressourcen wahrgenommen.
Quantentechnologie – Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"
Die Juni-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt dem 100. Geburtstag der Quantentechnologie.
Die Beiträge:
- Giovanna Morigi: Scheinbare Widersprüche. Zur Bedeutung der Quantentechnologie für Wissenschaft und Gesellschaft
- Mariami Gachechiladze: Theoretisch funktioniert alles gut. Warum der Bau eines leistungsstarken Quantencomputers keine einfache Aufgabe ist
- Im Gespräch mit Carolin Häussler: Ein Ökosystem schaffen. Deutschland als Akteur in den Quantentechnologien
- Im Gespräch mit Meinard Kuhlmann: Erstmal unvorstellbar. Philosophische Aspekte der Quantenphysik
Aus der Redaktion gibt es außerdem einen Einblick in neuartige Quantenmaterialien. Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!
Krise als Ausgangspunkt für eine institutionelle Neuaufstellung
Der Blick ins östliche Europa zeigt auch andere Szenarien als Drittmittelakquise auf Lebenszeit. Die Krise kann auch zum Ausgangspunkt für eine institutionelle Neuaufstellung werden. So unternahmen von der Politik bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder Anläufe, im Exil neue Räume der Forschung und Lehre zu gestalten. Der belarussischen European Humanities University gelang nach der Schließung in Minsk der Neuanfang im litauischen Vilnius. Die Central European University zog kürzlich von Budapest nach Wien um. Hingegen scheiterten bisher Versuche, eine neue russischsprachige Universität in Riga als Antwort auf die endgültige Verwandlung von Russland und Belarus in gewaltsame Diktaturen zu gründen.
Wie nah die Bedrohung der Wissenschaft ist, spüren derzeit die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), die in Russland im Frühjahr 2023 zunächst als unerwünschte Organisation gebrandmarkt wurde und seit Sommer 2024 als extremistische Organisation gilt. Für alle Autorinnen und Autoren der Zeitschrift Osteuropa bedeutet dies, dass sie in Russland für ihre Texte mit Strafverfolgung rechnen müssen. Dass diese Form der Kriminalisierung akademischer Expertise nicht an Landesgrenzen halt macht, verdeutlichen wiederholte Hackerangriffe auf den Server der deutschen Fachgesellschaft.
Die DGO ist kein Einzelfall, wie die Erklärung des Berliner Thinktanks Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) sowie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu unerwünschten Organisationen zeigt. Für die deutsche Wissenschaft ist damit amtlich, dass Teile des von ihr produzierten Wissens in Russland als Teil des Kriegs verstanden wird. In den USA deuten derzeit russische und belarussische Forschende die uneindeutigen Signale aus der Präsidialadministration als Bedrohung ihrer Aufenthaltstitel. Sie befürchten, dass ihnen auch drohen könnte, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden.
Gegenstrategien entwickeln
Wie sich die Situation US-amerikanischer Universitäten und Forschungseinrichtungen in den kommenden Monaten infolge der eng getakteten Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit entwickeln wird, ist offen. Auch lassen sich die konkreten Erfahrungen osteuropäischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht ohne Anpassungen auf den nordamerikanischen Kontext übertragen. Aber ihre systematisch eingeschränkten Handlungsoptionen machen deutlich, wie ernst die Bedrohung in der Gegenwart ist.
Auf Solidarität jenseits ihrer eigenen Milieus brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei kaum zu hoffen. Auch diese osteuropäische Lektion gilt es dringend zur Kenntnis zu nehmen. Es ist jetzt der richtige Moment, um auch in Deutschland Gegenstrategien zu entwickeln, die laut und vernehmlich sind. Bedrohten Forschenden aus den USA hier Perspektiven zu öffnen, ist dabei eine Möglichkeit. Die praktische Bedeutung von Solidarität im akademischen Alltag neu denken, wäre eine andere.