

Erkenntnisprozesse
Vom Scheitern in den Wissenschaften
Das Scheitern hat im Allgemeinen keinen guten Ruf. Laufen Dinge nicht wie geplant – in Job und Karriere, im Privaten oder in gesellschaftlichen Kontexten – wird das zumeist negativ gesehen und als ein Scheitern an den eigenen oder von anderen vorgegebenen Zielen und Maßstäben erachtet. Scheitern ist in dieser Sichtweise das Gegenteil von Erfolg und gilt gemeinhin als nachteilig für Karriere, Reputation und die eigene Biografie.
Der Umgang mit dem Scheitern
In den letzten Jahren hat sich der Umgang mit dem Scheitern allerdings in einigen Bereichen gewandelt. In der Populärkultur finden sich immer mehr Bücher, Podcasts oder Formate wie die sogenannten "Fuck Up-Nights", die das Scheitern thematisieren, sichtbar machen und zu einer besseren Scheiterns- und Fehlerkultur beitragen sollen. Das Scheitern wird hier in einer bestimmten Form präsentiert: Der Gescheiterte hat sein Fehlgehen bereits reflektiert, Lehren daraus gezogen und es so durch Lernen aus Erfahrung in einen Erfolg verwandelt. Dem Publikum wird die potenzielle Produktivität des Scheiterns vor Augen geführt – einem inszenierten Eingeständnis des Gescheiterten folgt die Wendung ins Positive und Produktive und die Anerkennung auf offener Bühne.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das "Museum of Failure", das seit 2017 als Wanderausstellung durch verschiedene Städte und Kontinente tourt. Hier werden gescheiterte Produkte und Innovationen sichtbar gemacht, die sich nicht durchsetzen konnten, etwa aufgrund von Problemen bei Konstruktion, Geschmack oder Bedienung. Das Ziel der Ausstellung ist es, die Gründe für das Scheitern verständlich zu machen und zu einem konstruktiven und produktiven Umgang mit solchen „gescheiterten“ Ideen und Produkten beizutragen.
Diese Entwicklung hin zu einer positiven Wendung des Scheiterns lässt sich seit einiger Zeit zunehmend in Wirtschaft und Unternehmen beobachten: Große Firmen wie Google, 3M oder Bosch (mit einem "Fail fast"-Ansatz) schaffen Räume für das Scheitern, indem Arbeitszeit für kreatives Ausprobieren mit hoher Scheiternswahrscheinlichkeit reserviert oder ein Umgang mit Fehlern etabliert wird, der ohne Schuldzuweisungen auskommt und darauf zielt, aus einem vorläufigen Scheitern rasch zu lernen und das anfängliche Scheitern in Erfolge und Produkte zu verwandeln. In Populärkultur und Wirtschaft hat sich also in den letzten Jahren mit Blick auf das Scheitern viel getan. Aber gibt es ähnliche Tendenzen auch in den Wissenschaften, und welche Auffassungen vom Scheitern und seinen Folgen finden sich dort?
Themenschwerpunkt "Kreativität"
Was macht Kreativität aus? Welche Rolle sie in der Forschung spielt und wie wir sie fördern, erfahren Sie in unserem Themenschwerpunkt "Kreativität".
Formen und Folgen des Scheiterns in der Wissenschaft
Vor der Beschäftigung mit dem Scheitern im spezifischen Kontext der Wissenschaften muss eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei möglichen Gründen für das Scheitern im Allgemeinen getroffen werden: Scheitern durch Fehler und Scheitern durch Irrtümer (Jungert / Schuol 2022).
Scheitern durch Fehler
Im Falle des Scheiterns durch Fehler sind hinsichtlich der Handlung, in deren Kontext ein Scheitern geschehen kann, grundsätzlich alle wichtigen Parameter und Komponenten bekannt. Es existiert das nötige handlungsrelevante Wissen innerhalb eines geschlossenen Systems, das im positiven Fall zu einem Funktionieren führt. Findet Scheitern in einem solchen System statt, sprechen wir von einem Fehler, da durch den Handelnden, etwa durch die (Nicht-) Einhaltung von eigentlich bekannten Regeln, ein Nicht-Funktionieren innerhalb des Systems verursacht wurde. Reaktionen auf Fehler beinhalten typischerweise Vorwürfe, da sie prinzipiell vermeidbar gewesen wären. Wird bei der Reparatur eines defekten Autos, das dem Mechaniker mitsamt seinen Bauteilen und Konstruktionsplänen bekannt war, ein Problem nicht behoben, handelt es sich um ein solches Scheitern durch Fehler, das mit Vorwürfen und Nachbesserungsansprüchen verbunden sein kann.
Scheitern durch Irrtümer
Ganz anders verhält es sich beim Scheitern durch Irrtümer: Hier agieren wir in einem offenen System, dessen Gesetzmäßigkeiten und Komponenten nicht oder nicht vollständig bekannt sind, wodurch kein gesichertes Wissen vorliegt. Die Zusammenhänge innerhalb des Systems sind zumindest teilweise unbekannt. Gelingt eine Handlung innerhalb eines solchen Systems, kann von Erkenntnis gesprochen werden, durch die neues Wissen entsteht. Im gegenteiligen Fall handelt es sich nicht um einen Fehler, sondern um einen Irrtum, der in der Regel keine Vorwürfe nach sich zieht, da gerade nicht wider besseres Wissen gehandelt wurde. Um auf der Basis dieses Verständnisses den Formen und Funktionen des Scheiterns in den Wissenschaften näherzukommen, ist die folgende Differenzierung von vier Kategorien hilfreich (siehe ausführlich Jungert / Schuol 2022), die nicht abschließend alle Ebenen und Folgen des Scheiterns in den Wissenschaften erfasst, als Heuristik aber wichtige Anhaltspunkte zur Differenzierung von Erscheinungsformen und epistemischen Konsequenzen gibt.
Verwerfen:
Bei dieser ersten Funktion des Scheiterns treffen wir auf etwas, das gewissermaßen den Normalfall von Wissenschaft darstellt, wie es der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell in einem ihm zugeschriebenen Aphorismus formuliert: "Darin besteht das Wesen der Wissenschaft. Zuerst denkt man an etwas, das wahr sein könnte. Dann sieht man nach, ob es der Fall ist, und im Allgemeinen ist es nicht der Fall." In den Wissenschaften werden Hypothesen formuliert und Theorien aufgestellt, die dann, wie es der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper mit seinem Konzept des Falsifikationismus zu fassen versucht hat, umfassend überprüft und getestet sowie in vielen Fällen nach negativer Überprüfung falsifiziert und verworfen werden.
Diese Form des Scheiterns charakterisiert den Normalfall des wissenschaftlichen Arbeitens in vielen (empirischen) Disziplinen und ist als solche nicht problematisch, sondern sie übernimmt vielmehr wichtige Funktionen innerhalb des Wissenschaftssystems: Werden verworfene Experimente, Hypothesen, Theorien oder Argumente transparent und der wissenschaftlichen Gemeinschaft zugänglich gemacht, so kann dies eine stark entlastende Funktion für die Wissenschaften haben, weil fundiert und gesichert verworfene Ansätze nicht mehrmals ohne Ergebnis wiederholt werden, was Ressourcen schont und Raum für neue Ansätze schafft. Voraussetzung ist dabei aber, dass es sich tatsächlich um gescheiterte Ansätze handelt und nicht um Fehler oder Ungenauigkeiten bei der Anwendung dieser Ansätze, die grundsätzlich behebbar wären. Denn in solchen Fällen stünde nicht zwingend das Verwerfen im Raum, sondern auch Kategorie 2 unserer Heuristik, das Verbessern.
Verbessern:
Diese Kategorie verweist auf eine wichtige Funktion des vorläufigen Scheiterns in den Wissenschaften. Während verworfene Ansätze in der Regel durch Irrtümer bedingt sind, spielen beim Verbessern Fehler und deren Behebung eine wichtige Rolle: Wenn innerhalb eines möglicherweise tragfähigen Ansatzes Fehler passieren, etwa bei der Datengewinnung, Dateninterpretation oder im Rahmen des Experimentalaufbaus, so können diese als solche erkannt und behoben werden, ohne den gesamten Ansatz notwendigerweise in Frage zu stellen. In weiteren Schritten können Annahmen und Variablen verändert und Fehler durch erneute Tests vermieden werden, wodurch im Dialog zwischen verschiedenen Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und Forschungsgruppen Ansätze erfolgreich modifiziert oder "repariert" werden können.
Variieren:
Im Fall des Variierens geschieht die Übertragung von Annahmen, Hypothesen, Theorien oder Argumenten, die im ursprünglichen Wissenschaftsbereich nicht erfolgreich waren, in einen anderen Bereich. Dort können der anfänglich gescheiterte Ansatz oder Bestandteile dieses Ansatzes durch die Einbettung in andere Fragestellungen, Methoden oder Theorien zum erfolgreichen Ansatz werden.
Verteidigen:
Bei dieser Form und Funktion des Scheiterns handelt es sich nicht um ein inhaltliches Scheitern in den Wissenschaften, sondern – in einer Spielart – um ein soziales Scheitern durch Zuschreibungen Dritter, die wiederum nichtwissenschaftlich motiviert sind. Dies geschieht beispielsweise in Fällen verweigerter Anerkennung für eigentlich valide neue Ansätze, Erklärungsmodelle oder Theorien aufgrund von nichtwissenschaftlichen Faktoren, wie etwa dem Streit zwischen akademischen Schulen, dem Festhalten an disziplinären Traditionen oder aus Angst vor Reputationsverlust. Das Verteidigen solcher Ansätze muss entsprechend durch die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Kolleginnen und Kollegen auf eine Weise geschehen, die verdeutlicht, dass sich Widerstand und Kritik nicht auf einer inhaltlichen Ebene bewegen und die Validität der in Frage stehenden Erkenntnisse separat davon beurteilt werden muss.
Der kurze Überblick über diese Typen und Funktionen macht deutlich, dass das Scheitern in den Wissenschaften vielgestaltig und in einigen Ausprägungen ein grundlegender Bestandteil wissenschaftlicher Praxis ist. Trotz dieser partiellen Selbstverständlichkeit des Scheiterns werden manche seiner Formen und Auswirkungen in den Wissenschaften jedoch kaum thematisiert. Im dritten Teil dieses Beitrags werfen wir daher einen Blick auf zwei Bereiche und auf mögliche Maßnahmen, durch die der Umgang mit dem Scheitern innerhalb der Wissenschaften verändert werden kann und die positive Auswirkungen auf das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft haben können.
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Aus dem Scheitern lernen
Ein Bereich des Wissenschaftssystems, bei dem mit Blick auf die beschriebenen Funktionen Verwerfen und Verbessern ein großer Bedarf für einen anderen Umgang mit dem Scheitern besteht, ist das Publizieren. In der Regel kann gut gemachte Forschung, die nicht zu positiven Ergebnissen beziehungsweise nicht zu (vermeintlich) innovativen, neuartigen Erkenntnissen führt, kaum publiziert werden. Das bedeutet, dass etwa Studien mit Null-Ergebnissen häufig unveröffentlicht bleiben und dem Großteil der Fachcommunity und der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Da Publikationen zudem eine wichtige Währung innerhalb des wissenschaftlichen Karrieresystems sind, ist die Nichtveröffentlichung solcher Studien für die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oft nachteilig, obwohl es sich um gut gemachte Forschung handeln kann, die für das jeweilige Wissenschaftsgebiet wichtig wäre. Es gibt allerdings erste Anzeichen dafür, dass sich hier etwas ändert.
In den letzten Jahren sind einige Journals entstanden – etwa das in Mainz gegründete "Journal of Unsolved Questions (JUnQ)" oder das "Journal of Trail and Error" – und auch in großen Fachzeitschriften wie "Science" und "Nature" wird in Beiträgen und Editorials ein neuer Umgang mit dem Scheitern in den Wissenschaften thematisiert. Nicht zuletzt haben der Umgang mit dem wissenschaftlichen Scheitern und die Kommunikation des Scheiterns auch große Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Wissenschaften und auf das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft.
So wurde etwa in der Coronapandemie deutlich sichtbar, dass ein verzerrtes oder unrealistisches Verständnis dessen, was Fortschritt, Erfolg oder Scheitern in den Wissenschaften bedeutet, negative Auswirkungen auf ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Wissenschaften, Politik und Gesellschaft hat. Umgekehrt kann der transparente Umgang mit dem Scheitern – sei es temporär, produktiv oder dramatisch – einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Wissenschaft als eine Unternehmung zu begreifen, der auch Rückschläge, Wiederholungen und Überholungen immanent sind und die dennoch und gerade auch aufgrund ihres spezifischen Umgangs damit so wertvoll ist.