Zwei Männer sichern nach einem schweren Zusammenstoß von drei Fahrzeugen Spuren auf der Staatsstraße 94 in Sachsen.
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Verkehrsunfallforschung
Was Forscher bei Autounfällen untersuchen

Sicherheitsgurt, Airbag oder ABS: Viele Neuerungen in Fahrzeugen basieren auf der Arbeit von Unfallforschern. Wie läuft die Spurensuche ab?

14.11.2021

Für die Verkehrsunfallforschung ist der Großraum Dresden eine Art Kleindeutschland. Der Norden mit seinen Alleen ist eher flach, der Süden bergig. Autobahnen gibt es genauso wie Bundesstraßen und Staatsstraßen. "Die Bevölkerungsstruktur ist dem Bundesschnitt vergleichbar", sagt Henrik Liers, Geschäftsführer der Verkehrsunfallforschung an der Technischen Universität Dresden (TU). Deshalb sei Dresden mit einem 40-Kilometer-Radius rund um die Stadt prädestiniert dafür, die jährlich rund 300.000 Unfälle mit Personenschäden auf deutschen Straßen stellvertretend zu untersuchen. Das gleiche gilt für den Großraum Hannover.

Liers ist Diplomingenieur für Maschinenbau und war schon als Student bei der Unfallforschung dabei. "Die Arbeit ist spannend, weil sie viele Fachdisziplinen vereint. Da kann man über seinen eigenen Tellerrand hinausblicken", erzählt der 40-Jährige. Unfälle seien ein Alltagsthema. "Viele hatten schon einen Unfall, einige haben durch ihn vielleicht sogar einen Menschen verloren." Erkenntnisse zur Entstehung von Unfällen zu gewinnen und am Ende Fahrzeuge sicherer zu machen, sei eine sehr befriedigende Tätigkeit.

Deutschlandweit gibt es im akademischen Betrieb nur zwei Standorte für dieses Forschungsgebiet. Neben Dresden ist das die Medizinische Hochschule Hannover. Dort wird schon seit 1973 auf interdisziplinärer Basis Forschung zu Verkehrsunfällen betrieben. Die Kollegen in Dresden und Hannover arbeiten nach der gleichen Methodik und stellen ihre Daten in die GIDAS-Datenbank ein. Das Kürzel steht für German In-Depth Accident Study –­ ­ein Gemeinschaftsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik. Mit dessen Gründung 1999 kam Dresden als Standort ins Spiel.

"Je frischer die Spuren, desto besser."

Die Forscher erfassen nach dem Zufallsprinzip ausschließlich Unfälle mit Personenschäden. Den Hinweis gibt die Polizei. Dann geht es oft mit Blaulicht – in Hannover mit Gelblicht – zum Einsatz. Je frischer die Spuren, desto besser. Das unterscheidet die Arbeit der Forscher nicht von der, die Kriminalisten am Tatort leisten müssen. In Dresden fahren zwei Wagen zum Unfallort. In einem sitzen zwei Techniker, im anderen ein Mediziner. Erst wenn Rettungsdienst oder Notarzt fertig sind und die Polizei Freigabe erteilt, beginnt die Spurensuche.

Schadensanalyse an Mensch, Auto und Umgebung

Je nach Unfall kann ein Datensatz Tausende Informationen enthalten, im Schnitt sind es 3.500. "Wir versuchen herauszufinden, welcher Unfallbeteiligte was und zu welchem Zeitpunkt gemacht hat und welche Wirkung das hatte", betont Liers. Auch jede einzelne Verletzung komme unter die Lupe und werde auf ihre Ursache untersucht. An mehr als 50 verschiedenen Stellen messen die Forscher Deformationen am Auto. Auch Zeit, Ort, Witterung, die Verkehrsregelung am Unfallort und mögliche Beeinträchtigungen der Betroffenen werden genau dokumentiert.

"Es geht nicht um die Schuldfrage. Es geht um die Frage, nach welchen Mechanismen der Unfall passierte. Wie sind die letzten Sekunden vor dem Unfall abgelaufen, wo hätte ein Assistenzsystem ihn verhindern können", erläutert Günther Prokop, Professor für Kraftfahrzeugtechnik an der Fakultät Verkehrswissenschaften der TU Dresden. Ein Unfall passiere meist nicht aus einer einzigen Ursache heraus. "Es sind mehrere Faktoren. Erst wenn vieles schiefläuft, passiert der Unfall."

Zeugenaussagen fließen in die Betrachtung ein. Die Mitarbeit der Unfallbeteiligten ist freiwillig. Wenn alle Daten zusammengefasst sind, rekonstruieren Ingenieure den Unfall mit Simulationsmodellen am Rechner. "In unserer Datenbank stecken die Produktideen von morgen", sagt Liers. Die kommen nicht nur Automobilherstellern zugute, von denen einige auch selbst Unfallforschung betreiben. Wichtig sind die Daten auch, wenn die Bundesanstalt für Straßenwesen das Verkehrsministerium etwa bei Gesetzen und Verordnungen berät.

"Die Zahl der Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang ist stetig zurückgegangen."

Auf diese Weise wurden immer mehr Sicherheitssysteme wie ABS oder ESP zum Standard, berichtet Prokop. In der Folge sei die Zahl der Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang stetig zurückgegangen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurde 1970 in Deutschland mit 21.330 die höchste Zahl an Verkehrsunfällen mit Todesopfern registriert. 50 Jahre später waren es noch 2.719. Dabei stieg im gleichen Zeitraum die Verkehrsdichte deutlich an.

Kenntnis der Unfallursache ist erster Schritt zu Schutzmaßnahmen

"Für alle Neuerungen in der Fahrzeugtechnik in Bezug auf Sicherheit sind Unfalldaten die Basis", sagt Heiko Johannsen, Technischer Leiter der Verkehrsunfallforschung in Hannover und nennt ein aktuelles Beispiel: das Dooring-System. Der Autofahrer wird gewarnt oder kann seine Tür nicht mehr öffnen, wenn sich ein Radfahrer von hinten nähert. Im Unterschied zu Dresden gibt es im Raum Hannover viel mehr Fahrradunfälle, weil deutlich mehr Leute mit dem Velo unterwegs sind.

Johannsen bedauert es, dass manche Entwicklungen nicht schneller umgesetzt werden. Erst dieser Tage wurde er zu einem tödlichen Verkehrsunfall auf eine Autobahn gerufen. Ein Pkw-Fahrer war auf einen vor ihm fahrenden Lastkraftwagen aufgefahren und unter dessen Heck geraten. "Das Problem ist seit 20 Jahren bekannt, Gegenmaßnahmen liegen in der Schublade, werden aber nicht ausreichend bei der Gesetzgebung berücksichtigt", ärgert sich der 51-Jährige.

Liers war als Autofahrer noch nie in einen Unfall verwickelt. Dennoch habe seine Arbeit etwas mit ihm gemacht, sagt er: "Man fährt sensibler, ahnt und antizipiert kritische Situationen und kennt viele Unfallschwerpunkte." Sehr viele Unfälle zwischen Pkw und Radfahrern passierten etwa beim Abbiegen: "Ich schaue in solchen Situationen lieber zweimal nach rechts und links."

Johannsen geht es nicht anders. "Ich achte beim Überqueren von Radwegen darauf, dass Fahrradfahrer von beiden Seiten kommen können." Auch bei ihm hat der Job eine eher defensive Fahrweise bewirkt. Er habe nie in die Lage kommen wollen, dass ein Richter ihm sagen müsse: "Wenn sie Tempo 30 gefahren wären, würde der Mensch noch Leben."

Jörg Schurig (dpa)