Eine Forscherin im Labor
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Wissenschaftsfreiheit
Zwischen Erkenntnisgewinn und Risikopotenzial

Forschungsergebnisse bedeuten Fortschritt, können aber auch schädliche Folgen haben. Wer trägt die Verantwortung? Ein Rechtsexperte nimmt Stellung.

Von Friederike Invernizzi 15.05.2019

Forschung & Lehre: Sie gelten als einer der renommiertesten Experten für Gesundheitsrecht und Medizinethik. Welches Thema aus der Wissenschaft ist zurzeit in Ihren Augen gesellschaftlich besonders relevant? Welche Position nehmen Sie in dieser Frage ein?

Jochen Taupitz: Eines der international diskutierten "Aufregerthemen" ist die Keimbahnintervention beim Menschen. In China sind bereits zwei Babies geboren worden, deren Gene so verändert wurden, dass die Veränderungen auch an Nachkommen weitervererbt werden. Durch gentechnische Methoden wie Crispr-Cas9 eröffnen sich Chancen für die Krankheitsvermeidung, aber auch Gefahren in Richtung Designer-Baby. Die Abwägung und Grenzziehung wird die Menschheit vor ungeheure Herausforderungen stellen. Zur besseren Risikobeurteilung bedarf es zunächst intensiver Grundlagenforschung. Sie sollte auch in Deutschland – etwa an Embryonen – möglich sein. Erst wenn genügend Erkenntnisse gesammelt wurden, sollten Keimbahnveränderungen, die auf die Verhinderung einer schweren Erbkrankheit des dann geborenen Kindes zielen, erlaubt sein. Ein weiteres Thema ist die künstliche Intelligenz, die in viele Bereiche des Gesundheitssystems Einzug halten wird. Wie wird sich das Arzt-Patienten-Verhältnis verändern? Wo bleibt die menschliche Zuwendung? Wer haftet für eventuelle Schäden?

Professor Dr. Jochen Taupitz
Professor Dr. Jochen Taupitz ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim. privat

F&L: Sie sind in verschiedenen Gremien aktiv und sehen Ihre Aufgabe darin, "die Vorgaben der Rechtsordnung – und zwar sowohl in ihrer grenzziehenden als auch in ihrer freiheitsgewährenden und -gewährleistenden Dimension – in die Debatte einzubringen." Was bedeutet Grenzen ziehen und demgegenüber der Begriff der Freiheit für Sie?

Jochen Taupitz: Wir leben zum Glück in einer freiheitlichen Gesellschaft. In ihr besteht von Verfassungs wegen eine Freiheitsvermutung: Alles, was der Gesetzgeber nicht mit hinreichenden Gründen verboten hat, ist von Rechts wegen erlaubt. Deshalb ist für den (Verfassungs-)Juristen auch die Argumentationslast eine andere als die für den Ethiker oder Philosophen. Denn aus verfassungsrechtlicher Sicht ist die "Einschränkung" der Freiheit begründungsbedürftig, während aus ethischer/ philosophischer Sicht primär menschliches „Handeln" begründungsbedürftig ist. Natürlich können beide trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte zum selben Ergebnis gelangen – und werden es auch oft. Wichtig ist mir vor allem, dass aus beiden Blickwinkeln Gefahren und Chancen verantwortungsvoll gegenein­ander abzuwägen sind. Beide Blickwinkel müssen aufeinander bezogen sein. Denn auch das Auslassen von Chancen, das Unterlassen, kann unverantwortlich sein. Denken wir nur daran, wie viele segensreiche Möglichkeiten unsere Vorfahren nicht verboten haben – trotz berechtigter Bedenken.

F&L: Wie stark plädieren Sie für die Selbstkontrolle in der Wissenschaft? Schafft das die Wissenschaft überhaupt?

Jochen Taupitz: Die Selbstkontrolle der Wissenschaft ist eines der Wesensmerkmale der Wissenschaft. Wissenschaft ist ein erkenntnisgewinnendes, autonom fehlerkorrigierendes System, dem die Gesamtheit des kritisch geprüften und einer ständigen kritischen Prüfung zugänglichen, bis dato als zuverlässig anerkannten Wissens der Menschheit zugehörig ist. Forschung als die Arbeitsmethode der Wissenschaft verfolgt damit das Ziel, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise gesicherte Erkenntnisse über untersuchte Phänomene zu erlangen. Dabei heißt "gesichert", dass sich die Befunde bei erneuter Überprüfung mit geeigneten Methoden bestätigen und (jedenfalls) vorläufig auch bei methodisch einwandfreier und noch so kritischer Prüfung nicht widerlegen lassen. Unabhängigkeit der Wissenschaft wiederum ist die entscheidende Garantie dafür, dass Wissenschaft als erkenntnisgewinnendes, autonom fehlerkorrigierendes System überhaupt funktioniert. Denn Erkenntnis wächst nicht nur durch neue Entdeckungen, sondern auch durch Korrektur falscher Ansichten, und von daher lebt Wissenschaft vom (begründungspflichtigen) Widerspruch. Vor diesem Hintergrund hat die Wissenschaft ein originär eigenes Interesse, dass Fehlverhalten in ihrem Bereich so weit wie möglich vermieden wird. Der Reputationsverlust eines Wissenschaftlers aufgrund wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist in vielen Fällen eine viel schärfere Sanktion als eine staatliche Strafe.

F&L: Wie "frei" dürfen und sollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sein? Welche "Entscheidungsprozesse" sollten bei einer möglichen Restriktion von Forschung eingehalten werden?

Jochen Taupitz: Wissenschaftsfreiheit ist keine ungebundene Freiheit. Sie ist begrenzt durch andere Verfassungsgüter, zum Beispiel durch die Grundrechte von Versuchspersonen, die in die Forschung einbezogen sind. Sofern also Forschung in Rechte anderer eingreift, darf sie und muss sie gegebenenfalls begrenzt werden. Bedeutsame Restriktionen sind dabei durch den parlamentarischen Gesetzgeber im demokratischen Willensbildungsprozess festzulegen. Wissenschaft ist allerdings von der Anwendung ihrer Ergebnisse und Technologien zu unterscheiden; die Anwendung unterfällt nicht mehr der Wissenschaftsfreiheit. Gleichwohl können beide nicht völlig losgelöst voneinander betrachtet werden. Insgesamt trägt die Wissenschaft Verantwortung für ihr Tun und hat sie auch eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft, indem sie ihr Tun und die möglichen Konsequenzen ihres Tuns erläutern muss, um der Gesellschaft eine verantwortliche Bewertung und gegebenenfalls darauf beruhende Reglementierung zu ermöglichen.

F&L: Wie können Risiken des wissenschaftlichen Fortschritts sinnvoll eingeschätzt und beurteilt werden?

Jochen Taupitz: Mit Forschung gehen auch Risiken einher. Zum einen können unabsichtlich andere Rechtsgüter geschädigt werden. Bezogen auf die Sicherheit vor diesen Gefahren spricht man von "Biosafety". Dem tragen zahlreiche Regularien Rechnung, etwa das Gentechnikrecht, das, je nach Risikopotenzial der Arbeiten, unterschiedlich gesicherte Labore verlangt. Daneben besteht in allen Wissenschaftsbereichen die mehr oder weniger große Gefahr, dass – für sich genommen neutrale oder nützliche – Ergebnisse durch andere Personen (etwa Terroristen) zu schädlichen Zwecken missbraucht werden ("Biosecurity"). Die daraus resultierenden Gefahren sind sehr viel schwieriger einzuschätzen, weil man sich etwa in die Gedanken eines Terroristen hineinversetzen muss.

F&L: Wie kann sich die Gesellschaft vor möglichen "Gefahren" durch den Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse schützen?

Jochen Taupitz: Ein Missbrauch ist nie völlig auszuschließen. Man kann nur versuchen, ihm so weit wie möglich entgegenzuwirken. Beispiele sind das Strafrecht mit seinen Sanktionsdrohungen, die Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen oder die Bestimmungen des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, die die Verbreitung chemischer und biologischer Waffen verhindern sollen. Vor allem aber ist es notwendig, die Forschenden und Forschungsinstitutionen für sicherheitsrelevante Aspekte ihrer Arbeit zu sensibilisieren. Von Seiten der DFG und Leopoldina versuchen wir, flächendeckend "Kommissionen für Ethik sicherheitsrelevanter Forschung (KEF)" an den Forschungseinrichtungen zu etablieren, die den Forschern Hilfestellung bei der Beurteilung und Minimierung sicherheitsrelevanter Risiken gewähren sollen. Ein solches System der Selbstkontrolle "vor Ort" halten wir für effizienter als etwa eine zentrale staatliche Kommission, die Forscher bei relevanten Sicherheitsrisiken zur Genehmigung ihrer Forschung einschalten müssten. Wie sollte der Gesetzgeber hinreichend konkret beschreiben, in welchen Fällen eine solche Kommission die Genehmigung verweigern soll? Ab wann sollte dann ein Wissenschaftler überhaupt vor eine solche Kommission treten?

F&L: Ihr Ausblick?

Jochen Taupitz: Eine Gesellschaft, in der die Wissenschaft verkümmert, wird in einem nächsten Schritt selbst verkümmern.