Das Bild zeigt Studierende in der Staatsbibliothek der Universität Hamburg, die nachts über ihren Hausarbeiten brüten.
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Verhaltenspsychologie
Alles kommt zu dem, der warten kann

Selbstkontrolle ist entscheidend für den akademischen und beruflichen Erfolg. Doch was ist Selbstkontrolle und wie kann man sie verbessern?

Von Tobias Kalenscher 12.02.2025

Es gibt viele Faktoren, die den späteren akademischen Erfolg von Kindern und jungen Erwachsenen vorhersagen. Dazu zählen äußere Bedingungen wie sozioökonomischer Status und Bildung, aber auch individuelle Eigenschaften wie Intelligenz, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität. Aber es gibt einen Faktor, der den späteren akademischen Erfolg so gut vorhersagt wie kaum ein anderer: Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. 

Spätestens seit den berühmten Marshmallow-Experimenten von Walter Mischel vor mehr als einem halben Jahrhundert ist bekannt, dass das Ausmaß an Selbstkontrolle im Kindesalter so gut wie alles vorherzusagen scheint, was irgendwie wichtig im späteren Leben ist: Gehalt, Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Stabilität von partnerschaftlichen, sozialen und beruflichen Beziehungen, sozioemotionales Verhalten im Allgemeinen und eben auch akademischen Erfolg. Bei diesen Experimenten wurde Kindern im Vorschul- und Grundschulalter ein Marshmallow präsentiert und ihnen wurde mitgeteilt, dass sie die Süßigkeit sofort essen dürften, wenn sie wollten. Wenn sie aber auf den sofortigen Konsum verzichteten und eine Weile warteten, würden sie zwei (oder mehr) statt nur eines Marshmallows erhalten. Je länger die Kinder bereit waren, auf die größere Portion zu warten, desto besser waren ihre akademischen Leistungen im späteren Leben. 

Was ist Selbstkontrolle?

Auch wenn in letzter Zeit kontrovers diskutiert wurde, wie viel Varianz in akademischem Erfolg tatsächlich durch den Marshmallow-Test vorhergesagt werden kann, besteht nach wie vor breiter Konsens, dass die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, eine herausragende Rolle für das berufliche und universitäre Gelingen spielt. Selbstkontrolle ist also immens wichtig. 

Selbstkontrolle kann definiert werden als die Regulierung von Gefühlen, Gedanken und Handlungen, wenn kurzfristig belohnende Aktivitäten mit verzögerten, aber wünschenswerteren Zielen in Konflikt stehen. Selbstkontrolle wird dann erfolgreich ausgeübt, wenn Handlungen im Einklang mit den langfristigen Zielen stehen und dafür auf sofort belohnende, aber nichtzielführende Aktivitäten verzichtet wird. Alltagsbeispiele, die den Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle und akademischem Erfolg illustrieren, gibt es viele: Ein Studierender zum Beispiel, der dringend für die kommende Anatomieklausur lernen muss, muss der Versuchung widerstehen können, seine wertvolle Studienzeit auf sozialen Medien zu verbringen. 

Aber was ist Selbstkontrolle eigentlich genau? Bedeutet Selbstkontrolle, einen eisernen Willen zu haben, um das ungute Gefühl beim Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung aushalten zu können? Ist Willensstärke sozusagen eine Art Bremse, die das Ausagieren der eigenen Impulse hemmt? Sicherlich ist ein starker Wille hilfreich, nur: Der Wille ist leider häufig schwach. Selbst die willensstärksten Individuen erliegen hin und wieder ihren Versuchungen – jeder, der schon mal probiert hat, eine schwere Diät durchzuhalten, kennt dies.

Hinzu kommt, dass Willensstärke über den Tag fluktuiert und durch verschiedene Faktoren, zum Beispiel Stress, die Nährstoffzusammensetzung unserer Nahrung (da wären wir wieder bei der Diät) und von der bereits geleisteten körperlichen oder geistigen Arbeit stark beeinflusst werden kann. Und zuletzt wurden in der neuroökonomischen Literatur einige grundlegende Zweifel am Konzept der Willensstärke im Sinne einer Impulsbremse geäußert. 

Willensstärke allein, wenn es sie überhaupt so in dieser Form gibt, ist also keine Musterlösung. Wer die Kinder im Marshmallow-Test beobachtet, wird feststellen, dass viele von ihnen bestimmte Strategien anwenden, um sich selbst am Konsum der Süßigkeit zu hindern. Sie drehen sich zum Beispiel um, um den Blick vom Marshmallow abzuwenden, sie beschäftigen sich bewusst mit anderen Dingen, spielen mit Gegenständen im Raum, oder verwenden andere Strategien, um sich vom Marshmallow abzulenken. Erwachsene nutzen sehr ähnliche Strategien der Selbstregulation, um unangenehme Wartezeiten auszuhalten oder emotionalen Impulsen zu widerstehen. 

Erfolgreiche Selbstkontrolle erfordert also nicht notwendigerweise einen stählernen Willen, sondern vielmehr die Fähigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, um sich selbst vor seiner eigenen Willensschwäche zu schützen. Es gibt viele Strategien, die wir intuitiv zu diesem Zweck verwenden. Eine davon heißt Precommitment. Precommitment bezeichnet das Bewusstsein, dass wir in einer bestimmten Situation einer Versuchung nicht werden widerstehen können. In Antizipation unserer eigenen Willensschwäche ergreifen wir frühzeitig Schritte, solange der Kopf noch kühl ist, um uns der Versuchung gar nicht erst auszusetzen. Diese umfassen das freiwillige Entfernen der verlockenden, aber eigentlich unerwünschten Entscheidungsalternative aus dem Alternativenspektrum oder das Belegen der verlockenden, unerwünschten Alternative mit extra Kosten (Ariely & Wertenbroch, 2002). 

Ein klassisches Beispiel für Precommitment ist das Verhalten von Odysseus, der sich den Sirenen näherte und wusste, dass er ihrem Gesang nicht würde widerstehen können. Um sich selbst daran zu hindern, sein Schiff ins Unglück zu steuern, ließ er sich an den Mast binden, bevor er in den Bann der Sirenen geriet, und befahl seiner Mannschaft, sich die Ohren zu verstopfen, damit sie seine Befehle nicht hören und befolgen könnten. Odysseus schränkte also bewusst seinen Entscheidungsraum ein, solange er noch konnte, indem er in Erwartung der eigenen Willensschwäche sich selbst die Möglichkeit nahm, Kurs auf sein Unglück zu nehmen.

Precommitment einsetzen

Verschiedene Forscherteams, darunter auch wir, haben in den letzten Jahren ausführlich untersucht, wie Precommitment eingesetzt werden kann, um klassische Selbstkontrollprobleme im täglichen oder klinischen Alltag zu lösen. Precommitment kann beispielsweise eine gesunde Ernährungsweise fördern, indem sich die Teilnehmer eines Diätprogramms darauf einlassen, den Kauf von ungesunden Lebensmitteln freiwillig mit extra Kosten zu belegen, den Kauf von gesunden Lebensmitteln dagegen mit Vergünstigungen. Versuchspersonen auf Diät sind sogar bereit, extra dafür zu bezahlen, sich nicht in Versuchung durch ungesunde Nahrungsmittel bringen zu lassen – ein Effekt, der durch akuten Stress noch verstärkt wird. Precommitment kann außerdem die erfolgreiche und dauerhafte Abstinenz bei Substanzabhängigkeit fördern, zum Beispiel durch eine strikte Null-Toleranz-Haltung: Ein Alkoholkranker, der jeglichen Kontakt mit Alkohol vermeidet, wird gar nicht erst in Versuchung geraten. 

"Precommitment hilft nicht nur, um sich gegen Versuchungen zu wappnen, die eine sofortige Bedürfnisbefriedigung versprechen, sondern kann auch effektiv sein, um motivationale Hürden zu überwinden."

Und die neuronalen Mechanismen von Precommitment werden mittlerweile auch immer besser verstanden (Crockett et al., 2013). Vor Kurzem konnten wir zeigen, dass Precommitment nicht nur hilft, um sich gegen Versuchungen zu wappnen, die eine sofortige Bedürfnisbefriedigung versprechen, sondern auch effektiv sein kann, um motivationale Hürden zu überwinden, wenn ein Ziel nur durch kognitiven oder motorischen Aufwand zu erreichen ist (Studer et al., 2019). Haben Individuen bei körperlich mühevollen Aufgaben die Möglichkeit, freiwillig im Vorfeld die weniger attraktiven, aber leicht erreichbaren Optionen aus dem Alternativenspektrum zu entfernen, so erhöht sich ihre Bereitschaft, höhere Anstrengung für lohnendere Ergebnisse in Kauf zu nehmen. 

Wenn Precommitment also helfen kann, den motivationalen Konflikt bei mühevollen, lästigen Aufgaben im Alltag zu lösen, dann müsste es auch für die Therapieadhärenz von Patientinnen und Patienten förderlich sein, wenn therapeutische Verfahren unangenehm, zeitraubend oder beschwerlich und daher anfällig für Abbrüche sind. Dies haben wir vor Kurzem zusammen mit einem Team um Professor Stefan Knecht und Dr. Bettina Studer aus der St.-Mauritius-Therapieklinik in Meerbusch untersucht. Wir haben gefunden, dass eine einfache Precommitment-Intervention während eines stationären Rehabilitationsaufenthalts das selbstgesteuerte Rehabilitationstraining bei Schlaganfallpatienten erheblich verbessern kann (Studer et al., 2021). 

Die Patientinnen und Patienten konnten sich im Vorfeld freiwillig dafür entscheiden, den eigenen Zugang zu Tätigkeiten zu beschränken, die zeitlich mit den Rehaverfahren konkurrieren und daher vom Training ablenken könnten; dazu zählte insbesondere die Möglichkeit, Besucher zu treffen. Diese einfache Maßnahme hatte erstaunlich große Effekte auf die Trainingsdisziplin: Es wurde eine dreifach höhere Trainingsdosis des selbstgesteuerten kognitiven Rehabilitationsprogramms erreicht als bei der Kontrollgruppe, die keine Precommitment-Option erhalten hatte. Entsprechend kam es auch zu deutlichen Verbesserungen der Leistungen in visuell-räumlichen und Arbeitsgedächtnisaufgaben. 

Tipps gegen Prokrastination

Precommitment funktioniert also tatsächlich sehr gut, um Selbstkontrolle bei motivational herausfordernden Therapieverfahren zu verbessern. Es gibt noch viele offene Fragen in der Precommitment-Forschung. Akuter Stress beeinträchtigt unsere Selbstkontrollfähigkeit, wenn es etwa um das Einhalten von Diäten geht, oder wenn es um körperliche Mühen in Kauf zu nehmen gilt, um anderen Leuten zu helfen. Könnte Precommitment diese stressinduzierten Selbstkontrolldefizite kompensieren? Die Antwort werden wir erst in ein paar Jahren kennen. 

Welchen Rat können wir denn jetzt unseren Studierenden geben, wenn sie sich allzu schnell vom Lernen ablenken lassen? Es gibt zahlreiche Precommitment-Anwendungen, die helfen können, akademische Ziele besser zu erreichen. Ist ein Studierender sich seiner eigenen Prokrastinationsmuster bewusst, kann er sich beispielsweise spezielle Precommitment-Apps auf seinem Smartphone und Computer in­stallieren. Diese Apps können im Vorfeld so programmiert werden, dass sie jeden Zugriff auf vorher festgelegte Websites und Plattformen für einen ebenfalls vorher festgelegten Zeitraum verhindern. Es wird deutlich, dass nur wer seine eigenen Schwächen kennt, sein zukünftiges Selbst erfolgreich davon abhalten kann, gegen seine langfristigen Interessen zu agieren.