

Sozialkompetenz
Die warme und die kalte Seite der Empathie
Empathie ist ein wesentlicher Bestandteil von Sozialkompetenz. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ihre Perspektive und ihr Handeln zu verstehen, ihnen genau zuzuhören, ihr Fühlen, Denken und Wollen nachzuempfinden, ist die Voraussetzung für ein funktionierendes zwischenmenschliches Miteinander – ob in der Führung, im Verkauf, in der Partnerschaft, Psychotherapie oder der Erziehung. Gleichzeitig bildet die Kenntnis beziehungsweise das Gespür, wie unser Gegenüber "tickt", was es antreibt, was seine "Triggerpunkte" und Schwachstellen sind, die Basis dafür, es zu beeinflussen, sein Verhalten vorherzusehen (Mentalisierung) und es manipulativ fremdzusteuern.
Ein TikTok-Hassprediger, der die Schwächen seiner "Opfer" (zum Beispiel fehlendes Selbstwertgefühl, unzureichende Erfolgserlebnisse, wenig Lebenssinn, Gefühl der Ausgeschlossenheit) richtig einschätzt, deren prekäre Lage ausnutzt und vorgibt, all dies "heilen" zu können, indem er das seelische Vakuum seiner "Follower" durch Ideologie ausfüllt, ihnen Stolz vermittelt und dabei sogar die Ausübung von Gewalt als legitime Handlungsweise gutheißt, ist ein abschreckendes Beispiel hierfür. Das Opfer wird für eigene, in dem Fall schändliche Zwecke missbraucht und zum Täter gemacht.
Zwei Gesichter
Auch wenn es sich hierbei um ein extremes Beispiel handelt, verweist es auf einen Aspekt von Empathie, der bislang zu wenig wahrgenommen und thematisiert wurde. Empathie heißt nicht nur Mitfühlen und am Schicksal des anderen Anteil nehmen, sondern auch kaltes Durchschauen und unter Umständen Lenken des Gegenübers in die eigene, bevorzugte Richtung. Sie ist demnach als zweidimensionales Konstrukt zu verstehen, weist eine warme und eine kalte, wissenschaftlich gesprochen: eine emotionale und eine kognitive Seite auf (Decety/Jackson 2004, S. 73). In jedem Menschen sind immer beide Anteile vorhanden und beeinflussen sich wechselseitig, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß.
"Dass jeder von uns berechnend vorgeht, ist bis zu einem gewissen Grad völlig normal und auch überlebensnotwendig."
Die Gründe für niedrig oder hoch entwickelte warme oder kalte Empathie liegen in der Persönlichkeit (genetische Veranlagung), der frühkindlichen Prägung und dem (fehlenden) Aufbau tragfähiger Bindungen und Beziehungen (zum Beispiel durch warmherzige und verständnisvolle oder gefühlskalte und dominante, Konformität erzwingende Eltern). Zudem üben die bearbeitete Aufgabe sowie Zeit- und Leistungsdruck Einfluss aus. Dass jeder von uns berechnend vorgeht, ist bis zu einem gewissen Grad völlig normal und auch überlebensnotwendig. Wie weit dies geht, wie (un)eigennützig hierbei vorgegangen wird, ob sich Unehrlichkeit und Betrugsabsicht dazu gesellen, ist im Einzelfall zu klären.
Es macht einen Unterschied, ob jemand sein Gegenüber zu verstehen versucht, um ihm zu helfen, oder ob jemand dessen wunde Punkte, Ängste, Abhängigkeiten und Sorgen gezielt und bewusst ausnutzt, um sich auf seine Kosten einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. Letzteres ist ein verschärfendes Moment bei kognitiver Empathie. Die Verschleierung des eigenen kalkulierend-strategischen Vorgehens ist gesellschaftlich erwünscht.
Kein Politiker darf etwa offen zugeben, dass es ihm einzig und allein um Macht geht. Vordergründig wird er immer andere, edlere Motive zur Schau stellen. Das Aufsetzen von Masken und die Errichtung von Fassaden sind gebotene Alltagsphänomene. Höflichkeit und Manieren sind andere Begriffe hierfür. Radikale Ehrlichkeit, unverblümte Direktheit und rohe Aufdringlichkeit wären kaum zu ertragen.
Insgesamt erscheint es sinnvoll, sich eingehender mit kalter Empathie zu beschäftigen. Einerseits um das eigene Verhalten in dieser Hinsicht kritisch zu durchleuchten: Wie uneigennützig handle ich? Wie sehr sehe ich meinen Mitmenschen in einem instrumentellen Sinn – als Mittel zur Erreichung eigener Zwecke? Erwarte ich stets Dankbarkeit und Gegenleistungen für eigene Hilfestellungen? Andererseits um sich möglicher Angriffe aus der Umwelt bewusst zu werden und sich so besser vor ihnen zu schützen.
Narzissten, Psychopathen und Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung wird zwar häufig eine geringe warme Empathie in Gestalt eines abgestumpften Mitgefühls unterstellt, das heißt aber nicht, dass sie den anderen nicht in einem kognitiven Sinne entschlüsseln, "umgarnen" und auf abgebrühte Weise manipulieren können. Hierin zeigen sie nicht selten eine überdurchschnittliche "Sensibilität" und Geschicklichkeit. Zugleich sind sie mitunter versierte Schauspieler und Vortäuscher eigener Gefühle. Das gilt es zu wissen. Damit ist zu rechnen. Auch im Bereich des Ökonomischen liegen Tausch und Täuschung nicht ohne Grund inhaltlich wie wörtlich nahe beieinander. Wachsamkeit ist gefragt.
Messung kognitiver Empathie
Zur Messung von kognitiver Empathie gibt es bereits Skalen: Den Interpersonal Reactivity Index von Davis, den Cognitive and Affective Empathy Test von Fernández-Pinto, López-Pérez und Abad sowie im deutschsprachigen Raum die integrative Messskala TOP von Schwarzinger und Schuler, die narzisstische, machiavellistische und psychopathische Denk- und Verhaltensweisen der sogenannten Dunklen Triade der Führung erfasst. Sie basieren in der Regel auf Selbsteinschätzungen. Zusätzlich sollten Fremdeinschätzungen unterschiedlicher Bezugspersonen (Rundumbeurteilung) eingeholt, idealerweise Beobachtungen über einen längeren Zeitraum durchgeführt und – im Sinne einer umfassenden Anamnese – vergangenheitsbezogene biografische Daten herangezogen werden.
Daneben kann kognitive Empathie über die Bewältigung experimenteller Aufgaben, die Beurteilung von Szenarien oder die Einschätzung des Verhaltens einzelner Rollenträger in speziellen Situationen identifiziert werden (Chang et al. 2021, S. 3). Und schließlich ist an die Analyse von Datenspuren aus dem Internet (zum Beispiel Social-Media-Auftritt, Onlinekommentare, Blogbeiträge, Videos) zu denken: Wie ehrlich und authentisch wirken diese? Stehen emotionale oder kompetenzbezogene Inhalte im Vordergrund?
Einsatzfelder berechnenden Vorgehens
Wie bereits angedeutet kommt kognitive Empathie praktisch in jeder sozialen Beziehung, in jedem nur denkbaren zwischenmenschlichen Setting zum Vorschein. Im betrieblichen Kontext sind es Bewerbungs-, Beurteilungs- und Beförderungssituationen, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch gezielt platziertes Impression Management verändernd auf die Wahrnehmung ihrer Vorgesetzten Einfluss nehmen können (und umgekehrt).
Daneben spielt die berechnende Einschätzung der Reaktionen des Gegenübers beim Aufbau von Charisma, bei Influencern im Rahmen des Personal Branding, das heißt dem Aufbau einer eigenen (virtuellen) Marke in sozialen Medien, eine Rolle, indem gezielt Aufmerksamkeit bei der Zielgruppe erzeugt wird (Clickbaiting). Sie kommt aber auch in jeder Gesprächssituation zum Einsatz, in Meetings und gruppendynamischen Prozessen. Manche sehen die toxischen Verhaltensweisen der Dunklen Triade nicht als abschreckendes Beispiel, sondern nutzen diese gar als Blaupause für eigenes Verhalten auf dem "Weg nach oben", als "Karrierebooster". Werte werden nur vorgetäuscht, affektive Empathie und Menschlichkeit nur geheuchelt. Im Zentrum steht das eigene Vorankommen auf Kosten anderer, wobei natürlich alles unternommen wird, diese manipulative Inanspruchnahme zu verbergen.
"Eine Gesellschaft ohne Solidarität und echtes Mitgefühl steht auf Dauer auf wackligen Füßen."
In spieltheoretischen Modellen, aber auch in Ansätzen der neuen Institutionenökonomik (zum Beispiel Transaktionskostentheorie, Prinzipal-Agenten-Modell) geht es vorrangig um die "Auszahlungsmatrix". Es wird davon ausgegangen, dass Akteure zwar begrenzt rational, aber stets gewinnmaximierend und opportunistisch, das heißt unter Einbezug von List, Betrug und Täuschung, handeln. Die kooperativ-altruistische und uneigennützig-hilfsbereite Seite des Menschen wird dabei von vornherein ausgeschlossen.
Eine Gesellschaft ohne Solidarität und echtes, nicht nur vorgespieltes Mitgefühl, in der das Prinzip des "homo homini lupus" und die einseitige Vorteilsnahme die soziale Praxis dominieren, steht auf Dauer allerdings auf wackligen Füßen. Dasselbe gilt für Unternehmen, Familien und andere soziale Gemeinschaften. Kognitive Empathie bedarf der Zähmung. Sie braucht den Ausgleich durch emotionale Empathie.
Literaturtipps
Busch, M.W. (2024). Kalte Empathie. Die böse Stiefmutter in uns. Universitas, 79 (2), 55-86.
Chang, S.-A.A. et al. (2021). Cognitive empathy in subtypes of antisocial individuals. Frontiers in Psychiatry, 12, 677975.
Decety, J./Jackson, P.L. (2004). The functional architecture of human empathy. Behavioral and Cognitive Neuroscience Reviews, 3 (2), 71-100.
Riess, H. (2017). The science of empathy. Journal of Patient Experience, 4 (2), 74-77.