Portraitfoto von Prof. Dr. Angelika Nußberger
Josef Fischnaller

Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Entscheidungen für ganz Europa mitgestalten

Professorin Angelika Nußberger ist Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Einblicke in eine Arbeit zwischen Theorie und Praxis.

Von Vera Müller 04.02.2019

F&L: Sie sind Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und gleichzeitig Professorin an der Universität zu Köln. Wie fühlt es sich an, das, was Sie als Professorin bislang theoretisch durchdacht haben, in die Praxis umsetzen zu können und zu müssen?

Angelika Nußberger: Es fühlt sich gut an. Wenn man sich mit Rechtsfragen theoretisch auseinandergesetzt hat, ist man gut vorbereitet, in der Praxis auch Entscheidungen zu treffen. Theorien sind nicht l’art pour l’art, sondern bieten konkrete Hilfestellungen. Aber so lohnend es ist, Gutachten und Kommentare zu schreiben, so ist es doch noch viel bereichernder, an Entscheidungen, die auf ganz Europa gestaltend einwirken, mitzuarbeiten.  

F&L: Wieviel von der Theorie ist in der Praxis brauchbar?

Angelika Nußberger: Die Rechtswissenschaft ist im Wesentlichen eine  Argumentationswissenschaft. Man prüft die Überzeugungskraft verschiedener Argumentationsmuster. Dies ist das Rüstzeug für die Praxis. Gut zu argumentieren ist das Wichtigste bei den Verhandlungen am Gericht. An der Universität lag mein Schwerpunkt bei der Rechtsvergleichung, die eine besonders gute Vorbereitung dafür ist, über Fragen zu entscheiden, die sich in allen Ländern in ähnlicher Weise stellen.

"Diese neun Jahre Berufserfahrung lassen mich nicht dieselbe sein, die ich war, als ich ging." Angelika Nußberger

F&L: An den Urteilen und am EGMR selbst wird immer wieder Kritik geübt. Bringt man aus seiner Professorentätigkeit genug Kritikfähigkeit mit?

Angelika Nußberger: Als Richter macht man immer eine Seite glücklich und eine Seite unglücklich; das liegt in der Natur der Sache. Auch wenn man sich um gute Begründungen der Urteile bemüht, wird es immer Kritik geben. Diese ist anders als die Kritik im akademischen Bereich, auch wenn unsere Entscheidungen natürlich auch von der Wissenschaft kritisiert werden. Es hilft, dass man in der Regel im Kollektiv entscheidet und gemeinsam Verantwortung trägt. Bei den besonders wichtigen Entscheidungen sind wir 17 Richterinnen und Richter, bei den Kammerentscheidungen sind wir zu siebt.

F&L: Als Professorin können Sie Ihre Forschungsthemen frei wählen. Als Richterin müssen Sie die Akten abarbeiten. Fehlt Ihnen diese Freiheit manchmal?

Angelika Nußberger: Vor allem am Anfang meiner Zeit als Richterin am EGMR empfand ich das als wichtigen Unterschied. Die akademische Freiheit ist wirklich sehr groß, man kann bestimmen, mit welchem Thema man sich intensiv auseinandersetzen, wozu man etwas veröffentlichen und vortragen will. Am Gericht muss ich mich mit allen Arten von Beschwerden befassen: von der Sicherungsverwahrung über Zwangsadoptionen bis zu Konfiskationen bei Wirtschaftsverbrechen. Inzwischen, nach fast acht Jahren, bin ich daran gewöhnt, dass mir die Themen – manchmal sehr ungewöhnliche Themen! – vorgegeben werden. Ich sehe das als immer neue Herausforderung.

F&L: Ihre Zeit als Richterin am EGMR endet 2020. Was wird Ihnen fehlen? Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie an die Zeit danach denken?

Angelika Nußberger: Ich glaube, fehlen wird mir das wunderbare internationale Berufsumfeld, das ich im Moment habe, mit 47 Richtern aus 47 verschiedenen Ländern. Worauf ich mich freue ist, dass ich nochmals neu anfangen kann. Diese neun Jahre Berufserfahrung lassen mich nicht dieselbe sein, die ich war, als ich ging. Ich finde es schön mir vorzustellen, wieder zu unterrichten. Ich hoffe, dass ich dann an die Studierenden weitergeben kann, was ich gelernt und erfahren habe.