
Multitasking
Folgen der Nutzung digitaler Endgeräte
Das Spiel "Zwanzig Fragen" ist als Frage-/Antwortspiel sehr beliebt. Wenn die Fragen richtig gestellt werden, enthüllt jede Frage eine Information über den gesuchten Gegenstand. Wenn die ratende Person gewinnt, deutet dies darauf hin, dass sie in den wenigen Sekunden, die ihr zur Verfügung standen, etwa 220 Fakten bei einem Spiel abrufen kann, das entspricht etwa einer Million möglicher Informationen in wenigen Sekunden. Entsprechend können für die Prozessgeschwindigkeit eines menschlichen Gehirns etwa 10 Bits/s angenommen werden. Vor allem zeigt dieses Spiel exemplarisch, dass wir immer nur einen Gedanken nach dem anderen denken können, ein altes evolutives Bauprinzip unseres Gehirns.
Wachsende Menge an Daten
Die Diskrepanz zwischen der Menge an verarbeiteter und dann zugänglich gemachter Information ist bei digitalen Prozessen der Internetwelt um vieles größer: Digitale Endgeräte prozessieren Daten mit einer Geschwindigkeit von 109Bits/s – nur um die Größendimensionen einordnen zu können, was hier theoretisch von uns gefordert wäre. Die Differenz von 10 zu 109Bits/s entspricht dem Vergleich des Trinkens aus einem geöffneten Staudamm (die Geschwindigkeit des Wasserflusses beim Ablassen eines Staudamms ist 108-mal so hoch wie die des menschlichen Trinkens). Die Nachrichten, die uns in heutiger Zeit an einem Tag erreichen, entsprechen wahrscheinlich der Anzahl der schriftlichen Nachrichten, die ein durchschnittlicher Mensch im Mittelalter in einem gesamten Leben erhielt. Auch wenn wir heute ganz anders leben und arbeiten als noch zu Zeiten einer bäuerlichen Struktur im Mittelalter, so müssen wir die heutige Welt immer noch mit Gehirnen bewältigen, die sich in ihrer genetischen Ausstattung in den letzten 40 000 Jahren nicht mehr merklich verändert haben.
Gleichzeitig sind unsere Gehirne lernfähig, sodass sich die individuelle Struktur und Funktion eines Gehirns durchaus an die kulturellen Umweltbedingungen, unter denen wir aufwachsen, anpasst. So sind Lesen und Schreiben Kulturleistungen, die unser Gehirn in den letzten 7.500 Jahren erworben hat. Andere kulturelle Artefakte haben die informationelle Reizüberflutung verstärkt, dazu gehört auch die Erfindung des Buchdrucks. Bücher gab es auch, bevor Gutenberg die Druckerpresse perfektioniert hatte, aber nach seinem Geniestreich ist die Buchproduktion in nur 100 Jahren um den Faktor 30 angestiegen, entsprechend auch die Menge an allgemein verfügbarer Information.
Nicht einmal 600 Jahre später besagen Schätzungen, dass jeden Tag 2,5 Quadrillionen Daten im Internet erzeugt werden. Das Problem ist nicht nur die schiere Menge, es gibt ernsthafte Berechnungen, die in Zweifel ziehen, dass die Menge an sinnhaften, wissenschaftlich abgesicherten und damit relevanten Daten signifikant zugenommen hat. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir viel selektiver mit Informationen umgehen müssen. Und auch wenn der Begriff der Informationsgesellschaft aus den 1970er-Jahren stammt, so beschreibt er unsere heutige Situation immer noch sehr gut – vor allem müssen wir Informationen abwehren, selektieren, die Aufnahme aktiv inhibieren und nie vergessen, das Wissen mehr ist als Information. Auch ist die Einsicht nicht neu, dass reine Informationen noch kein Wissen darstellen, all das müssen unsere Gehirne erst aus den Unmengen an Informationen extrahieren und diesen dann eine Bedeutung zumessen.
Auch ist die Einsicht nicht neu, dass reine Informationen noch kein Wissen darstellen.
Martin Korte, Professor für zelluläre Neurobiologie
Aber nicht nur für sich selbst, auch für die Ausbildung junger Studierender ist es wichtig, diese darauf vorzubereiten, dass sie die Fähigkeit entwickeln, in einem undurchdringlichen Dickicht an Fakten, Pseudofakten, Daten und Fake News relevantes Wissen extrahieren zu können. Dafür müssen diese übrigens immer noch eine fundierte Wissensbasis haben, denn nur wer in seinem eigenen Kopf gut strukturiertes Wissen hat, kann die Welt auch differenziert wahrnehmen, differenziert denken und handeln.
Dabei sind Reizüberflutung und Ablenkung nie mehr als einen Wisch mit dem Daumen entfernt, und tatsächlich ist es für das Gehirn energetisch und in Bezug auf die Rechenkapazität aufwändiger, einem ablenkendem Impuls zu widerstehen, als den Signalen oder Handlungsreflexen nachzugeben, sodass in gewisser Weise stimmt, was Oscar Wilde mal süffisant angemerkt hat: "Der einzige Weg, Versuchungen loszuwerden, ist, ihnen nachzugeben."
Eine Möglichkeit besteht darin, die Arbeits- und Lernwelt so zu gestalten, dass nur die Dinge im Blickfeld liegen, die man zum Arbeiten, Forschen, Lehren oder Lernen gebraucht. Gleiches gilt für die Programme/Apps auf dem Computer: Nur wenn man Zeit hat, auf eine E-Mail zu reagieren, sollte man die entsprechenden Programme auch geöffnet haben, sonst lenken die eingehenden Nachrichten ab und noch dazu klickt man jede Mail unnötigerweise mehrfach an.
Aufmerksamkeit, Bestätigung und Ablenkung
Warum können wir das Smartphone nicht einfach wegsperren? Die kurze Antwort ist, weil es Spaß macht und Belohnung verspricht, den Anschein unkomplizierter Effektivität hat und einem die Möglichkeit gibt, den komplexen, anstrengenden Aufgaben des Alltags zu entkommen. Es fühlt sich auch noch produktiv an, wenn man all das im Multitasking-Modus macht und Stress mit Produktivität verwechselt.
Insgesamt ist es natürlich etwas komplizierter: Smartphones sind wie kleine, moderne Drogeninjektionsnadeln. Wir suchen mit jedem Wischen, jedem Like und jedem Tweet nach Aufmerksamkeit, Bestätigung und Ablenkung. Neu ist, dass es so leicht ist, sich stimulieren zu lassen, da eben das Stimulans immer vor uns liegt oder sich in der Hosentasche befindet – ein Knopfdruck (manchmal muss man es nur ansehen) und es öffnen sich neue Welten, sei es durch das Eintauchen in die Tik-Tok-Videostreams, das Scrollen durch Instagram, das Wischen über Newsletter, WhatsApp, Signal oder das E-Shopping. Wir scheinen vergessen zu haben, wie wir mit unseren Gedanken allein sein können. Gerade Studierende unterbrechen sich ständig selbst, um einen schnellen digitalen Hit zu erzielen, was bedeutet, dass sie sich selten länger auf anstrengende Aufgaben konzentrieren oder in einen kreativen Fluss kommen können.
Ein weiteres Problem zeigen folgende Daten: Obwohl uns unendlich viel Spaß zur Verfügung steht, deuten Umfragen darauf hin, dass wir immer weniger glücklich sind. Die weltweiten Depressions- und Angsterkrankungsraten sind in den letzten 15 Jahren erheblich gestiegen, und laut dem World Happiness Report entwickeln Menschen in Ländern mit hohem Einkommen eine Tendenz, eher unglücklicher zu werden.
Themenschwerpunkt "Digitalisierung"
Die Wissenschaft benötigt Daten, um neue Ideen und Erkenntnisse zu entwickeln. Der Zugang zu Daten wird durch Digitalisierung und Vernetzung erheblich vereinfacht. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf die Forschung, die Lehre und die Beteiligten? Mehr dazu erfahren Sie in unserem Schwerpunkt "Digitalisierung".
Ermüdung
Anstrengend sind die ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Endgeräten und die parallele Nutzung mehrerer Bildschirme – die Informationsflut generiert Stress im Gehirn, und Stress schränkt die Rechenkapazität der Stirnlappens, der einen großen Teil des Arbeitsgedächtnisses verwaltet, weiter ein. Ein anderer Grund ist, dass wir fast im Minutentakt Entscheidungen treffen müssen, welchem Eingangskanal wir Priorität einräumen. Das ist ermüdend für die Neuronen im Stirnlappen, die dort in Netzwerken organisiert die Informationen für die Summe aller schnell wechselnden Tätigkeiten vorhalten müssen.
So ermüdet in Folge auch unsere Willenskraft – im doppelten Sinne, da wir einen Teil der Rechenkapazität vorhalten müssen, für all die parallelen Tätigkeiten, gleichzeitig ständig Entscheidungen treffen müssen, worauf wir unseren Fokus richten, und gerade nichtfokussierte Inhalte ausblenden müssen.
Strategien und andere Lösungen
Schon T. S. Eliot mahnte 1936 in seinem Gedicht "Burnt Norton", in dem er den Zustand der Gesellschaft zwischen den Weltkriegen in Europa als gehetztes Leben beschrieb, die "Ablenkung von der Ablenkung durch die Ablenkung" an. Und auch die Rückschau in die Antike gibt einen modernen Fingerzeig hinsichtlich der digitalen Techgiganten im Silicon Valley, durch Epiktet, den griechischen Philosophen der Stoa: "Wohin du deine Aufmerksamkeit richtest, bestimmt, wer du bist. Wenn du nicht selbst bestimmst, mit welchen Gedanken und Bildern du deinen Kopf füllst, werden es andere für dich tun." Was tun?
- Die ABC-Regel (attention – breath – choose) befolgen, Aufmerksamkeit auf das richten, was man sich aktuell vorgenommen hat. Kommt eine Nachricht an, erst durchatmen, bevor man eine Entscheidung trifft, ob man weiterarbeitet oder die Nachricht/Meldung anschaut und sich unterbrechen lässt. So unterbindet man selbstkonditionierte Verhaltensreflexe durch bewusste Entscheidungen.
- Fragen Sie sich regelmäßig: Verwende ich meine Zeitressourcen so, wie ich es mir für den Tag/die Woche vorgenommen habe? Hier gibt es einen Preis zu zahlen, den wir oft nicht vollständig erkennen, weil man eher sieht, was man konkret tut und nicht das, was man alles während des Daddelns und Scrollens hätte tun können.
- Kein Twitter, Facebook, TikTok, WhatsApp oder Instagram mehr während des Arbeitstags (und wenn doch, dann nur in Pausen).
- Nachrichten nicht zufällig lesen, sondern sie gezielt auswählen und E-Mail- Nachrichten kurz halten – wenn das nicht geht, anrufen.
- Smartphones aus dem Sichtfeld verbannen, wenn sie nicht zum Arbeiten gebraucht werden.
Eine Fassung mit Literaturangaben kann bei der Redaktion angefordert werden.