Füße einer Frau mit zwei unterschiedlichen Socken
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Nobelpreisträger
"Greift nach den Sternen..."

Auf der Nobelpreisträgertagung in Lindau diskutierten hunderte Wissenschaftler die Herausforderungen der Zukunft. Ein Interview mit Stefan Hell.

Von Friederike Invernizzi 06.11.2019

Forschung & Lehre: Herr Professor Hell, auf der 69. Nobelpreisträgertagung in Lindau in diesem Sommer haben Sie die "challenge of the idea" beschworen, die nach Ihrer Meinung die Wissenschaft ausmacht. Vor welchen Herausforderungen und Gefährdungen stehen in dieser Hinsicht die Naturwissenschaften heute?

Stefan Hell: Herausragende, grundlegende naturwissenschaftliche Entdeckungen werden fast immer aus Neugier und "Abenteuerlust" heraus gemacht und sind selten planbar. Deshalb werden sie meistens auch von wissenschaftlichen Nonkonformisten gemacht. Der Trend, den ich in den letzten Jahren mit Sorge beobachte, geht aber in eine andere Richtung. Anstatt den jungen Leuten zu sagen: "Greift nach den Sternen und macht eine Entdeckung", werden Studenten und Doktoranden zunehmend auf "career fairs", "networking events" und Selbstdarstellungskurse geschickt, damit sie eine erfolgreiche "Karriere" in der Wissenschaft machen. Ich will ja gar nicht bezweifeln, dass diese Sachen helfen, Karriere zu machen. Ich bezweifle nur, dass diese Maßnahmen genauso helfen, die Naturwissenschaften und damit die Menschheit grundlegend weiter zu bringen.

Portraitfoto von Prof. Dr. Stefan Hell
Stefan Hell ist Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie. 2014 erhielt er den Nobelpreis für Chemie. Peter Badge/Typos1 in cop. with Foundation Lindau Nobel Laureate Meetings/2017

F&L: Der Moment vor fünf Jahren, als Sie erfuhren, dass Sie den Nobelpreis erhalten, haben Sie – so formulierten Sie – als "cause of delay" empfunden. Was genau war das für ein Gefühl? Gab es von Ihrer Seite aus Skepsis, was die Folgen des Nobelpreises betraf? Was hat Sie in Folge überrascht und positiv gestimmt?

Stefan Hell: Der Anruf löste bei mir keine Euphorie aus, sondern das Gefühl: Ok, man hat sich nun in Stockholm entschieden und zwar viel früher als ich dachte. Denn ich wusste schon damals, dass die STED-Mikroskopie und auch die Methode meiner amerikanischen Kollegen nicht das Ende der Fahnenstange waren. Mir war klar, dass wir die Auflösung noch einmal um einen Faktor zehn steigern können und letztendlich die ultimative molekulare Auflösung im Fluoreszenzmikroskop erreichen werden. Eines meiner Gefühle  war also: "Stopp, zu früh. Ich bin ja noch nicht fertig." Aber das gilt ja nicht in Stockholm. Ich bin froh, dass ich mit meiner Göttinger Arbeitsgruppe als Erste diese wirklich unglaublich klingende maximale Auflösung erreicht habe und zwar mit dem neuen MINFLUX Verfahren. Und dass wir damit – und da bin ich mir ziemlich sicher – das Verständnis der Zelle und zellulärer Komplexe nachhaltig verändern werden.

F&L: Sie haben in Lindau auch gefordert, nicht in der Sprache der Vergangenheit zu sprechen. Was genau meinten Sie damit und was bedeutet das konkret für die Wissenschaft?

Stefan Hell: Wenn man eine neues Feld aufmacht, zum Beispiel, weil man etwas Neues entdeckt hat, oder weil man ein altes Problem aus einer völlig neuen Perspektive sieht, steht man vor einem Dilemma: Um seine Fachkollegen, die über einen urteilen, abzuholen, muss man sich unweigerlich des alten Formalismus, also der Fachsprache, des überkommenen Wissens bedienen. Aber das Denken in den alten Formalismen ist ja gerade oft der Grund, weshalb man stecken blieb. Deshalb muss man den Mut haben, seine eigene Sichtweise und Sprache zu kreieren. Mir wurde beispielsweise von vielen Physiker-Kollegen nahegelegt, die STED-Mikroskopie aus Sicht der sogenannten nichtlinearen Optik zu interpretieren, einem Spezialgebiet der Optik, die Mitte des 20. Jahrhunderts aufkam. Andere forderten eine Interpretation über die Zerlegung in Wellen- und Raumfrequenzspektren, wie das auch Ernst Abbe, der Entdecker der Auflösungsgrenze getan hatte. Ich wusste aber, dass beide Ansätze komplett ungeeignet waren, den Knackpunkt der STED-Mikroskopie zu beschreiben und damit den Knackpunkt der Überwindung der Auflösungsgrenze. Und damit auch aller anderer Verfahren, die danach folgten. Ich habe daher in 2007 meine eigene Sichtweise geschaffen und publiziert, die sich aber erst seit ein zwei Jahren so langsam durchsetzt. Hätte ich wie meine Kollegen die alte Sichtweise behalten, so wären wir heute nicht bei dem neuen Verfahren MINFLUX und molekularer Auflösung in allen Raumrichtungen angelangt. Denn MINFLUX hat schlichtweg nichts mit nichtlinearer Optik zu tun und die Wellenlänge spielt auch keine Rolle mehr! Das Verwerfen der alten physikalischen Interpretationen und Denkweisen war der Grund – da bin ich mal unbescheiden – weshalb ich schneller als alle anderen auf die Lösung, wie man ein bis zwei Nanometer Auflösung erzielt, gekommen bin. Denn die alte Sprache, die das Problem vorher "am besten" beschrieb, verhindert geradezu die Lösung. Das ist etwas, was wir unserem Nachwuchs beibringen müssen. Ich bin beileibe nicht der Erste, der das sagt…

F&L: Auf der Tagung wurde auch die Frage diskutiert, inwieweit Nationalismus für die internationale Forschungskooperationen gefährlich ist. Wie ist Ihre Einschätzung?

Stefan Hell: Wenn man die Welt ehrlich betrachtet, so stellt man fest, dass Nationalismus nie ganz weg war – auch nicht in den Wissenschaften. Man weiß zum Beispiel, dass Kandidatenvorschläge für Stockholm schon immer auch eine nationale Komponente hatten und sicherlich auch heute noch haben. Ja, wahrscheinlich ist Nationalismus heute virulenter, und er tritt auch offener zutage. Das ist besorgniserregend, zumal die Wissenschaft für jede Gesellschaft und die Welt als Ganze immer wichtiger wird.

F&L: Welche Rolle spielt Freiheit für die Forschung?

Stefan Hell: Wenn Sie nicht die Freiheit haben, das Problem auszusuchen, an dem Sie arbeiten, haben Sie die Wahrscheinlichkeit, etwas Wichtiges zu entdecken, schon beträchtlich reduziert. Wenn Sie dann noch in der Wahl Ihrer Methoden eingeschränkt sind, so reduziert sich diese Wahrscheinlichkeit noch einmal beachtlich. Und wenn Sie am Ende nicht sagen dürfen, was rausgekommen ist, weil es einigen, einigen Vielen, oder sogar allen nicht passt, dann können Sie es gleich lassen- und diejenigen, die die Forschung bezahlen auch. Das müssen wir zu verhindern wissen.