Mann mittleren Alters lehnt schlafend auf einem Stapel Bücher neben einem Laptop auf seinem Schreibtisch
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Karriere
Ich arbeite also bin ich?

Der heutige "Tag der Workaholics" soll allen gewidmet sein, die süchtig nach Arbeit sind. Macht Vielarbeiten wirklich krank? Ein Experte klärt auf.

Von Friederike Invernizzi 05.07.2019

Forschung & Lehre: Herr Dr. Poppelreuter, was ist das eigentlich, ein Workaholic?

Stefan Poppelreuter: Unter einem Workaholic wird stereotyp ein "Vielarbeiter" verstanden, der süchtig nach Arbeit ist. Damit verbunden ist der Gedanke, dass exzessives Arbeiten für den Menschen schlecht ist und ihm schadet. Wie bei anderen Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen herrscht hier der Gedanke vor, dass die Arbeit den Charakter einer Droge bekommen kann.

F&L: Teilen Sie diese Ansicht?

Stefan Poppelreuter: Zunächst sollte genauer betrachtet und beschrieben werden, was man unter Workaholic sein versteht.  Zum einen spielt der quantitative Aspekt eine Rolle, also wie viele Stunden man mit der Arbeit verbringt, zum anderen geht es aber auch um eine Haltung. Hierin unterscheiden sich auch pathologische Vielarbeiter von "gesunden" Vielarbeitern. Der pathologische Vielarbeiter widmet sich einer Arbeit so intensiv aufgrund von äußeren oder inneren Zwängen, wohingegen der "gesunde" Vielarbeiter besondere Erfüllung und Bestätigung in seiner Arbeit findet. Es liegt auf der Hand, dass das erste problematisch werden kann, während ein hingebungsvolles Arbeiten und eine große Freude am Beruf zutiefst befriedigend und letztlich auch gesund sein können.

Dr. Stefan Poppelreuter
Dr. Stefan Poppelreuter beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit der Arbeitssucht. Der Experte für Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen leitet den Bereich "Analysen & Befragungen HR Consulting" in der TÜV Rheinland Akademie GmbH in Bonn. privat

F&L: Also kann man auch von guten Seiten beim "Vielarbeiten" sprechen?

Stefan Poppelreuter: Selbstverständlich. Es ist dem Menschen inhärent, produktiv zu sein und zu arbeiten. Die Arbeit erfüllt grundlegende Funktionen, wie der Sicherung des Lebensunterhalts, aber auch des Erlebens von Kompetenz, des sozialen Kontakts und letztlich der Bildung einer eigenen Identität. Wenn ich die Arbeit als mir zugehörig erlebe und sie für mich einen hohen Wert hat, weil sie mir Möglichkeiten eröffnet, positive Erlebnisse und Gefühle vermittelt, mich sozusagen erfüllt, dann ist sie mit großer Sicherheit eine Quelle der Zufriedenheit und des Wohlbefindens. Wohlbefinden ist etwas, das der Mensch anstrebt, insofern greift die Diskussion um die Gefahren des Vielarbeitens häufig zu kurz. Dabei verliert man aus dem Blick, dass Menschen nach Selbstverwirklichung streben und der Beruf dabei eine wichtige Rolle spielen kann. Das sollte man weder moralisch noch pathologisierend betrachten.

F&L: Wir stellen einen zunehmenden Trend zu psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz fest. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Phänomen der Arbeitssucht?

Stefan Poppelreuter: Wenn Menschen gezwungen sind, in unbefriedigenden, den eigenen Neigungen und Bedürfnissen wenig entsprechenden Arbeitssituationen zu agieren, wird es problematisch. Hinzu kommt, wenn Arbeitnehmer das Gefühl haben, ihre Situation am Arbeitsplatz nicht ausreichend kontrollieren zu können, zum Beispiel, wenn strikte Vorgaben gemacht werden, wenn Dokumentationsverpflichtungen überborden oder wenn die Arbeit zu sehr in andere Lebensbereiche eingreift. Dann besteht die Gefahr, dass es zu Erschöpfungsreaktionen bis hin zu Depressionen kommen kann. Ärgerlich ist die inflationäre und plakative Verwendung des Modebegriffs "Burnout", da nicht jede Erschöpfung sogleich pathologisiert werden muss und nicht immer als Resultat einer belastenden Arbeitssituation betrachtet werden sollte. Der Freizeitstress übertrifft den Arbeitsstress häufig bei weitem!

F&L: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat allerdings in dieser Woche eine Studie vorgelegt, die zu dem Ergebnis kommt, dass Menschen, die viel arbeiten, früher sterben....

Stefan Poppelreuter: Dieses Ergebnis muss man differenziert betrachten. Selbstverständlich gibt es nach wie vor Berufsfelder und Arbeitssituationen, die körperlich wie geistig extrem belastend sind und aus diesem Grund erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit haben können. Wenn man zum Beispiel gezwungen ist, mehrere Jobs zu machen, um über die Runden zu kommen oder im Zeitalter der Globalisierung zu unterschiedlichsten Zeiten und Orten zu arbeiten gezwungen ist, kann das krank machen. Deswegen ist es nicht nur wichtig, was man tut, sondern auch wie man es tut und warum. Wenn ich fremdbestimmt bin, kann das mein Leben in negativer Hinsicht sehr beeinflussen. Zusammenfassend muss man aber sagen: Nur weil ich viel arbeite, ist mein Leben nicht zwangsläufig letal.

"Wissenschaftler empfinden Leidenschaft für das, was sie tun. Aus arbeitspsychologischer Sicht ist das ein idealer Zustand."

F&L: Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind passionierte "Arbeiter". Überstunden sind keine Seltenheit. Sind Wissenschaftler "Workaholics"?

Stefan Poppelreuter: Die Wissenschaft braucht Überzeugungstäter, Menschen, die für Forschung, aber auch für die Lehre brennen. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden durch ihre Tätigkeit sehr inspiriert und motiviert. Sie arbeiten größtenteils mit großer Hingabe und ohne auf die Uhr zu sehen. Sie empfinden Leidenschaft für das, was sie tun. Aus arbeitspsychologischer Sicht ist das ein idealer Zustand. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch Wissenschaftler unter Fremdbestimmung leiden, wie wachsende administrative Aufgaben, Druck durch Drittmitteleinwerbungen und wachsende Studierendenzahlen etc. Es wäre wünschenswert, dass sich die Freiheit der Wissenschaft auch in der Freiheit von solchen Zusatzaufgaben äußern würde.