Ein offenes Buch auf einem Tisch vor einem mit Büchern gefüllten Regal
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Wirtschaftswissenschaften
Für eine Neuorientierung der Habilitation

Am Welttag des Buches geht es um die Monografie. Warum sie gestärkt werden sollte, um ungünstige Folgen der kumulativen Habilitation zu vermeiden.

Von Rudi K. F. Bresser 23.04.2025

In den Wirtschaftswissenschaften und zwar sowohl in der Volks- als auch der Betriebswirtschaftslehre sind Veröffentlichungen in A-Journalen heute der Goldstandard eines Forschungsbeitrags. Die Gruppe der zu den Top-Zeitschriften zählenden Journale umfasst regelmäßig nur eine Handvoll und sie variiert je nach Subdisziplin. Dass den Top-Zeitschriften generell eine hohe Qualität zugeschrieben wird, ist durchaus umstritten, denn es gibt viele Beispiele für qualitativ fragwürdige Aufsätze in Top-Journalen. Gleichermaßen werden Aufsätze höchster Qualität in Journalen veröffentlicht, die nicht zu dem jeweiligen Kreis der besten fünf oder sechs gehören. Dennoch haben Publikationen in Top-Zeitschriften einen signifikanten Einfluss auf Karrierechancen: bei Berufungen auf Professuren, Beförderungen und Gehaltserhöhungen. 

Die meisten Veröffentlichungen in den Top-Zeitschriften beruhen auf quantitativen empirischen Studien und umfangreichen Datensätzen, die mit komplexen statistischen Verfahren analysiert werden. Quantitative Studien werden von den Herausgeberinnen und Herausgebern führender Zeitschriften sowie von vielen einflussreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und somit auch von Berufungskommissionen bevorzugt, da sie als besonders geeignet gelten, eine vermeintlich objektive Realität abzubilden. Dieser Glaube ist ebenfalls umstritten, doch die Vorlieben in den Wirtschaftswissenschaften sind  klar: Vor allem quantitativ ausgerichtete Studien, die in Top-Zeitschriften veröffentlicht werden, genießen höchste Anerkennung.

Drei besonders problematische Fehlentwicklungen

Viele empirische Studien haben zweifellos bedeutsame wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse ermöglicht, und das wird auch so bleiben. Aber die Vorliebe für quantitative Studien in Top-Zeitschriften hat auch zu mehreren Fehlentwicklungen geführt:

Mosaikbausteine statt Disruption

Um als exzellent zu gelten, streben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler danach, schnell viele Artikel in Top-Zeitschriften zu veröffentlichen und häufig zitiert zu werden. Dies beeinträchtigt die Forschungsqualität. Es ist einfacher und schneller, bestehendes Wissen inkrementell durch neue Mosaikbausteine anzureichern – etwa indem aus einem Datensatz zu Teilfragen separate A-Journal-Artikel abgeleitet werden –, als wirklich innovative, paradigmenkritische und potentiell disruptive Projekte durchzuführen. Innovative, Paradigmen infrage stellende Forschung ist zeitaufwendig und hemmt den raschen Karrierefortschritt. Da das "puzzle solving" im Sinne inkrementeller Erkenntnisse den Forschungsalltag bestimmt, ist der Anteil der disruptiven Erkenntnisse in den Wirtschaftswissenschaften und auch anderen Disziplinen während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich und stark zurückgegangen.

Manipulation und Betrug 

Der hohe Publikationsdruck verleitet manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu, das System heimlich durch Manipulation auszutricksen. Manipulationen sind Betrug und können in vielen Formen auftreten, etwa durch gezielte Vergrößerung oder Verkleinerung von Datensätzen, um signifikante Effekte nachzuweisen. Verbreitet ist das sogenannte HARKing (hypothesizing after the results are known). Hierbei werden die Hypothesen einer Studie erst formuliert, nachdem die Resultate der statistischen Analysen bekannt sind, obwohl der Artikel vorgibt, die Hypothesen seien vor der Datenerhebung festgelegt worden. Solche Manipulationen zerstören nicht nur den wissenschaftlichen Wert einer Studie, sondern untergraben auch den Wissensfortschritt und die Glaubwürdigkeit einer akademischen Disziplin.

Fragmentierung statt praktischer Relevanz

Herausgeberinnen und Herausgeber führender Zeitschriften erwarten von eingereichten Manuskripten neuartige theoretische Einsichten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen zwar meist innerhalb bestehender Paradigmen, sie nutzen jedoch eine breite Palette theoretischer Ansätze, um die Originalität ihrer Forschungsfragen zu untermauern. Demgegenüber werden Replikationsstudien nur sehr selten veröffentlicht, obwohl gerade diese für die Wissenskonsolidierung und praxisnahe Handlungsempfehlungen essentiell sind. Das Resultat ist in vielen wirtschaftswissenschaftlichen Teildisziplinen ein Bild der Fragmentierung und Zusammenhanglosigkeit, geprägt von unübersichtlich wirkenden Teilergebnissen. Warum sollten Politik und Wirtschaft jedoch eine Disziplin finanzieren, die für die Praxis wenig bedeutsam ist? 

Stärkung wissenschaftlicher Monografien

Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind sich der Fehlentwicklungen des auf quantitative Studien ausgerichteten Publikationssystems bewusst und prominente Vertreter, zum Beispiel frühere Präsidenten der Academy of Management, sind der Ansicht, dass die gegenwärtige Situation nicht mehr tragbar ist. Deshalb werden mehrere Korrekturen propagiert. Empfohlen werden beispielsweise häufigere Replikationen, das Verfügbarmachen von Datensätzen, mehr qualitative Empirie, integrierende Forschungsreviews und Anreize zur Durchführung potentiell disruptiver Forschungsprojekte. Allerdings sind diese Empfehlungen weitgehend unverbindlich und werden nur partiell von einigen Zeitschriften und Wissenschaftsverbänden umgesetzt. 

Ein wirksamer Ansatz, um Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, liegt in der Stärkung wissenschaftlicher Monografien. Diese haben in den Wirtschaftswissenschaften eine lange Tradition, werden jedoch im heutigen System, das stark auf Journalpublikationen ausgerichtet ist, vernachlässigt. Monografien ermöglichen es Autorinnen und Autoren, sich ohne die Seitenzahlbeschränkungen eines Artikels kritisch mit Studien und anderen Veröffentlichungen zu einer Forschungsfrage auseinanderzusetzen. Dies fördert die Unterscheidung zwischen vielversprechenden und weniger relevanten Forschungsansätzen und eröffnet Wege für innovative, potentiell disruptive Forschung und solide Praxisempfehlungen. Ein Beispiel ist Oliver E. Williamsons (1975) Transaktionskostentheorie, die er insbesondere in einer Monografie entwickelte. Aufbauend auf den Arbeiten früherer Institutionenökonomen, insbesondere Ronald Coase (1937), argumentiert Williamson, dass sich die Effizienz und das Entstehen von Unternehmungen im Vergleich zu Markttransaktionen durch geringere Transaktionskosten erklären lässt. 

"Monografien können durch Metaanalysen die Ergebnisse zahlreicher Studien konsolidieren und durch Replikationsstudien das Wissen absichern."

Williamsons Transaktionskostenökonomie hat zahlreiche Untersuchungen in den Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaften inspiriert und das Denken über die effiziente Gestaltung von Austauschbeziehungen revolutioniert. Seine Arbeiten haben dazu geführt, dass heute viele Unternehmungen die Entscheidung über die Eigenherstellung eines Produkts im Vergleich zum Marktkauf durch Transaktionskostenerwägungen begründen.  Zudem können Monografien durch Metaanalysen die Ergebnisse zahlreicher Studien konsolidieren und durch Replikationsstudien das Wissen absichern. Wenn Replikationen ein verbreiteterer Bestandteil wissenschaftlicher Monografien werden, kann dies Manipulationen in empirischen Studien durch opportunistische Autorinnen und Autoren entgegenwirken. Schließlich tragen die kritischen Analysen und Synthesen einer Monografie dazu bei, die Fragmentierung von Disziplinen zu reduzieren und, wie Williamsons Arbeiten belegen, fundierte Anregungen für praxisorientierte Handlungsempfehlungen zu liefern.

Habilitation neu definieren

Die im deutschen Universitätssystem verankerte Habilitation ist ein Instrument, das die Stärken wissenschaftlicher Monografien zur Geltung bringen kann. Allerdings ist hierzu eine Neupositionierung vonnöten. Die Habilitationsschrift war traditionell als Monografie konzipiert, durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nachweisen, dass sie die Breite ihres Fachs in der Forschung abdecken. Der Monografiecharakter der Habilitationsschrift ist mit der Ausrichtung auf Top-Journal-Publikationen jedoch verloren gegangen, denn heute sind die meisten Habilitationen kumulativ und umfassen eine kleinere Zahl von Journalpublikationen. Durch diesen Wandel verstärkt die heutige Habilitation die Fehlentwicklungen des Systems und eine Umkehr wäre von großem Nutzen.

Die Abkehr von der kumulativen Habilitation bedeutet, dass die Habilitation als wissenschaftliche Monografie wieder der Regelfall wird. Allerdings sind die Aufgaben der Habilitation neu zu definieren und zu erweitern. Die Habilitation sollte nicht nur Bestehendes zusammenfassen, sondern sich kritisch mit dem Wissen zu einer Forschungsfrage auseinandersetzen. Die kritische Hinterfragung sollte eine qualitative Bewertung empirischer und konzeptioneller Ergebnisse umfassen.  Beim Vorliegen mehrerer empirischer Studien zu einer Forschungsfrage sollte zusätzlich eine quantitative Metaanalyse durchgeführt werden, um die Studien durch statistische Verfahren zusammenzuführen.

"Die Habilitation sollte nicht nur Bestehendes zusammenfassen, sondern sich kritisch mit dem Wissen zu einer Forschungsfrage auseinandersetzen."

Gibt es mehrere empirische Studien zu einer Forschungsfrage, sollte darüber hinaus eine Replikationsstudie ein zentraler Bestandteil der neu konzipierten Habilitationsschrift sein. Die konkrete Fragestellung und der Aufbau der Replikation sind durch die Ergebnisse der vorangehenden kritischen Bewertungen und der quantitativen Metaanalysen zu begründen. Durch eine solche Neukonzipierung der Habilitation kann den Fehlentwicklungen des Top-Journal-Systems begegnet werden. Es läge in der Verantwortung der bestehenden Forschungsförderungsinstitutionen, das neue Habilitationssystem sowohl finanziell als auch ideell zu unterstützen. Habilitationsstipendien müssten den Finanzbedarf von Replikationsstudien und Metaanalysen absichern und dem akademischen Mittelbau Beurlaubungen für Habilitationsprojekte ermöglichen. Es wäre auch vorstellbar, Habilitationsschriften, die durch externe Gutachterinnen und Gutachter besonders positiv bewertet werden, von einem neu zu gründenden, prestigeträchtigen Universitätsverlag veröffentlichen zu lassen. Ähnliches gilt für die in den Habilitationsschriften enthaltenen Replikationsstudien. Positiv bewertete Replikationen könnten im Journal of Comments and Replications in Economics (JCRE) oder einem neuen Journal of Replication Studies veröffentlicht und somit einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht werden.

Obwohl die vorgeschlagene Neupositionierung der Habilitation sich in diesem Beitrag aus den Entwicklungen in den Wirtschaftswissenschaften ableitet, sind die Grundgedanken auf andere Wissenschaftsgebiete übertragbar. Wo immer kumulative Habilitationen vorherrschen und zu Fehlentwicklungen beigetragen haben, die den oben beschriebenen ähneln, kann die neue Art der Habilitation von Nutzen sein.

Eine Fassung mit Literaturangaben kann bei der Redaktion angefordert werden.