Das Bild zeigt einen Maschinenbauer bei der Arbeit in einer Werkhalle.
picture alliance/dpa | Bernd Weißbrod

Ingenieurprofessur
Die Mischung macht’s

Von Berufungen aus der Industrie profitieren die Technikwissenschaften und das Innovationssystem in Deutschland. Wie steht es um das Erfolgsmodell?

Die deutsche Ingenieurskunst ist hoch angesehen und hat weiterhin einen sehr guten Ruf. Dieser begründete sich jahrzehntelang durch eine sehr hohe Entwicklungskompetenz im Verbund von Praktikerinnen und Praktikern in der Industrie und einem System von forschenden Ingenieurinnen und Ingenieuren in Grundlageninstituten, universitären und anderen Hochschuleinrichtungen, Entwicklungsabteilungen, in Industrieunternehmen sowie spezialisierten Ingenieurdienstleistern im KMU-Segment.

Theoriebasierte und anwendungsorientierte Lehrinhalte

Die akademische Ausbildung des Nachwuchses im Ingenieursektor wird von Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) getragen. Hierbei kommt dem breiten Fächerspektrum in den Ingenieurwissenschaften eine besondere Rolle zu. Neben den theoriebasierten Fächern wie der Mechanik oder der Regelungstechnik gehören viele anwendungsorientierte Disziplinen wie die Fertigungstechnik, Werkstofftechnik, der Baubetrieb und ein mikroelektronisches Labor zum Curriculum eines Ingenieurstudiums. In der Mehrzahl sind die Absolventinnen und Absolventen nach ihrem Studium in Unternehmen tätig.  Auch diejenigen, die sich über eine Promotion weiterqualifizieren, gehen danach überwiegend in die Industrie. Traditionell waren nicht nur an den HAW die Lehrenden mit einschlägiger und langjähriger Industrieerfahrung in der absoluten Mehrheit, sondern auch an den Universitäten betrug der Anteil an aus der Industrie berufenen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern über viele Jahre weit über die Hälfte. 

Ein Gründungsmitglied von 4ING, Manfred Nagl, hat schon 2009 in der Studie „Professoren der Ingenieurwissenschaften und der Informatik: Eine Häufung sozialer Aufsteiger“ an der RWTH Aachen analysiert, dass akademische Aufsteigerinnen und Aufsteiger einen besonders hohen Anteil unter den Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Informatikerinnen und Informatikern stellen. Hierbei waren Bildungswege erst über eine Lehre, das Studium an Fachhochschule und Universität, die Promotion und eine weitere beruflichen Phase bis zum Ruf auf eine Professur nicht selten.

Veränderungen in der Berufungspraxis

Die Voraussetzungen für die Erlangung einer Professur an einer Universität sind in den Landesgesetzen festgeschrieben. Vor allem werden neben der Promotion und Erfahrungen in der Lehre bzw. Selbstverwaltung eine Habilitation oder habilitationsäquivalente Leistungen verlangt. Über letztere entscheidet in der Regel die Berufungskommission, die idealerweise zu Beginn des Berufungsprozesses einen Kriterienkatalog erstellt. Jüngere Entwicklungen im akademischen Bereich führen sukzessive zu einer Benachteiligung bester Bewerberinnen und Bewerber aus der Industrie in technikwissenschaftlichen Berufungsverfahren, weil die aktuellen Bewertungskriterien eine einschlägige hohe Qualifizierung über eine Industriekarriere oft nicht adäquat abbilden. 

Denn mehr und mehr spielen bei Berufungen vermeintlich objektive Kriterien eine Rolle. Dazu zählt ganz zuoberst die Publikationsliste mit einer ausreichenden Anzahl einschlägiger wissenschaftlicher Veröffentlichungen in international gerankten Fachzeitschriften. Auch Tätigkeiten in der akademischen Selbstverwaltung und Erfolge in der Antragsforschung werden hoch bewertet. Ohne den Nachweis ausgewiesener Erfahrungen in der Lehre, verbunden mit entsprechenden Lehrevaluationen, können sich heute kaum noch Bewerberinnen und Bewerber auf eine W2- bzw. W3-Professur durchsetzen. Denn diese Kriterien haben eine so erhebliche Bedeutung im Berufungsprozess erlangt, dass andere Bewerberinnen und Bewerber teils schon innerhalb der Berufungskommission selbst, bei der Begleitung durch den Berufungsbeauftragten oder spätestens in der abschließenden Bewertung durch das Präsidium einer Hochschule das Nachsehen haben. 

Auf Ebene der Hochschulleitung spielt da auch der interdisziplinäre Vergleich mit den Geisteswissenschaften, den reinen Naturwissenschaften oder den Sozialwissenschaften eine Rolle, in denen die ausgeprägte Veröffentlichungskultur und der Blick auf den H-Index alle anderen Kriterien überstrahlen. Zudem fühlt sich manch potenzielle Kandidatin bzw. potenzieller Kandidat aus der Industrie schon im Vorhinein abgeschreckt aufgrund der sehr formalistischen Vorgaben in Ausschreibungstexten.

Anforderungen an Ingenieurinnen und Ingenieure von heute 

Ingenieurinnen und Ingenieure schaffen Innovationen durch geschickte Kombination und Anwendung naturwissenschaftlicher Gesetze. Das können physikalische Zusammenhänge, mathematische Algorithmen, Wissen über die Materialität und andere Kompetenzen aus allen Gebieten der Naturwissenschaften sein. 

Während in der Historie das grundsätzliche Wirkprinzip (Zeichnungen von Leonardo oder von altägyptischen Wasserpumpen) im Vordergrund stand, umfasst das heutige Ingenieurverständnis nicht nur naturwissenschaftliche Fragestellungen, sondern ist wesentlich breiter: soziologische Anforderungen (Verhalten der Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer an einer neu gestalteten Straßenkreuzung), physiologische Aspekte (Haptik und Funktionalität bei der Fernsteuerung einer Maschine), Ansprüche an die Gestaltung (Design eines Smartphones), ethische Fragen (Bereitstellen automatischer Algorithmen beim autonomen Fahren) und ökologische Rahmenbedingungen seien hier nur beispielhaft genannt.

Dieses breite Spektrum der Anforderungen an Ingenieurinnen und Ingenieure in der Forschung und Umsetzung kann am besten abgebildet werden, wenn breit ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Teams kollaborativ sowie interdisziplinär zusammenarbeiten und dabei ihren starken Ergebniswillen auf das Produkt, auf die Ingenieurlösung oder auf einen optimierten Prozess fokussieren. 

Benefit der Industrieerfahrung für eine Ingenieurprofessur 

Die Erfahrungen aus einer Industrietätigkeit lehren einen starken Realitätsbezug, sie erweitern die Managementfähigkeiten und vermitteln Führungserfahrung, sie lehren auch Pragmatismus und Kompromissfähigkeit und sie befähigen zu Adaption und Verständnis über die Disziplingrenzen hinaus. Das alles sind in der Regel keine akademischen Studieninhalte, sie sind aber essenziell für eine erfolgreiche Professorinnen- und Professorenkarriere. 

Personal- und Budgetverantwortung sind ebenso Gegenstand eines Berufslebens in der Industrie. Auch wenn eine Professur an vielen Hochschulen keine Prokura und keine disziplinarische Personalverantwortung hat, auch wenn Forschungs- und Drittmittelanträge von der Präsidentin oder dem Kanzler unterschrieben werden müssen, so ist die Verantwortung für große Institute und komplexe Forschungsvorhaben ohne diese Kompetenz nicht denkbar. 

Gesellschaftlicher Wandel in Richtung Forschungstransfer

Der gesellschaftliche Wandel in Richtung stärkerem Transfer der Forschungsergebnisse in die Praxis und entsprechende Affinität der Professoreninnen- und Professorenschaft zur Praxis hat auch Institutionen, die für die reine Grundlagenforschung stehen, erreicht. Die DFG hat im Jahr 2023 ihre Vorlage für den Lebenslauf von Antragstellerinnen und -stellern grundlegend überarbeitet. Seitdem werden dort neben den klassischen Forscherinnen- bzw. Forscherprofilen auch weitere Leistungen abgefragt und gewürdigt, sei es eine besondere Sichtbarkeit in der Fachöffentlichkeit durch Ausstellungen oder Präsentationen, sei es eine hohe Partizipation des Wissenstransfers an eine breitere Öffentlichkeit z. B. in sozialen Medien. Europäische Institutionen fordern bei der Antragstellung vermehrt Transferkonzepte ein, in denen der gesellschaftliche Nutzen nachgewiesen werden muss. Das stellt keine Abkehr vom Konzept der Grundlagenforschung dar, sondern erweitert den Horizont und zwingt zu einer frühen Kontextualisierung der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. 

Auch die Forschung selbst profitiert von den Erfahrungen in der Industrie. In vielen Bereichen sind die Unternehmen inhaltlich weiter, apparativ professioneller ausgerüstet und personell besser aufgestellt als Hochschulen. Ob für die Entwicklung von Tunnelbohrmaschinen oder für die Fertigung von Computerchips, der Zugang zu industriellen Großeinrichtungen und zu Reallaboren im Maßstab 1:1 gelingt über unternehmenserfahrene Professorinnen und Professoren deutlich besser. Vielfach bringen sie aus ihren bisherigen Berufsstationen sehr enge und persönliche Kooperationen mit Industriebetrieben in ihre Forschungsagenda ein. 

Industrieerfahrung als besondere Stärke

Industrieerfahrung war immer eine besondere Stärke der deutschen akademischen Ingenieurbildung. Dieses Modell ist, bis auf ganz wenige angrenzende europäische Länder, einzigartig auf der Welt und hat den guten Ruf der in Deutschland ausgebildeten Ingenieurinnen und Ingenieure mitbegründet. Berufungen von ausgewiesenen Erfahrungsträgern aus der Industrie sind zwar nicht per se Garant einer erfolgreichen Karriere als Professorin und Professor. Und nicht für alle Fächer in einer ingenieurwissenschaftlichen Fakultät ist die Industrieerfahrung notwendig. Doch die Mischung macht’s. Ohne einen hohen Anteil an Berufungen von industrieerfahrenen Personen würde gerade der universitäre Hochschulbereich riskieren, wertvolle Ideen und Beiträge aus der Praxis zu verlieren und in seiner eigenen Blase zu verharren.

MINT-Fächer – Mini-Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"

Die Juli-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt den MINT-Fächern.

Die Beiträge:

  • Bilal Gökce: Zukunft des Maschinenbaus: Warum sinken die Erstsemesterzahlen?
  • Olaf Wünsch | Hans-Joachim Bargstädt: Die Mischung macht’s: Industrieerfahrung als Voraussetzung für Ingenieurprofessuren
  • Im Gespräch mit Tanja Brühl | Angela Ittel: Planbare Karrierewege und eine nachhaltige Finanzierung: Wie die technischen Universitäten in Deutschland attraktiv bleiben
  • Olaf Köller: Keine Erfolgsgeschichte: MINT-Bildung an deutschen Gymnasien

Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!