Prof. Bernd Irlenbusch
Katrin Schmermund/Forschung & Lehre

Chancengleichheit
Wie ein kleinwüchsiger Professor seinen Hochschulalltag erlebt

Bernd Irlenbusch bereitet sich auf alle Situationen im Beruf genau vor. Was er braucht, fordert er ein und schreckt vor Diskussionen nicht zurück.

Von Katrin Schmermund 21.04.2020

Bernd Irlenbusch ist 1,21 Meter groß, 35 Kilogramm schwer und hätte sein Bürogebäude an der Universität zu Köln 2014 fast zum Einstürzen gebracht. "Ich wollte bodentief verglaste Fenster", erklärt der Professor für Unternehmensentwicklung und Wirtschaftsethik. "Die Fenster in meinem Büro waren so hoch, da hätte ich überhaupt nicht rausschauen können." Der verantwortliche Architekt sei fast verzweifelt, das Gebäude vor seinen Augen schon halb zusammengefallen. Auf bodentiefe Fenster sei die Statik des Gebäudes nicht ausgelegt. Es begann ein langes Hin und Her, so erzählt es der 54-Jährige, an dessen Ende die Fenster kamen und mit ihnen ein weiterer Erfolg in seinen Diskussionen als Wissenschaftler mit Diastrophischer Dysplasie, verbunden ist die mit Kleinwuchs, kurzen Extremitäten und Gelenkverformungen.

Von einer Behinderung spricht der  Mann mit der dunklen Hornbrille nicht. "Meine Umgebung behindert mich zuweilen, wenn sie sich nicht auf meine Diastrophische Dysplasie einstellt", schreibt er im Vorfeld auf das Treffen in einem Kölner Café, zu dem er mit Ledertasche über der Schulter zu Fuß erscheint. Den Ort hat er so ausgewählt, dass keine größere Treppe auf dem Weg liegt. Eine genaue Planung, wie sie für seinen Alltag typisch ist. "Ich halte keine Vorlesung, ohne den Raum und den Weg dorthin genau zu kennen", sagt er. Wie hoch ist der Stuhl? Erreicht er das Whiteboard? Wo sind die Kabelanschlüsse für Laptop und Beamer? Passt etwas nicht, sagt Irlenbusch das dem Raummanagement der Universität.

"Ich hatte mal eine Vorlesung in einer Aula, in der ich so niedrig saß, dass nur mein Kopf hinter der steil aufsteigenden Balustrade des Auditoriums hervorlugte." Bernd Irlenbusch

"Ich hatte mal eine Vorlesung in einer Aula, in der ich so niedrig saß, dass nur mein Kopf hinter der steil aufsteigenden Balustrade des Auditoriums hervorlugte." "Unpassend" sei das gewesen. Es habe einen guten Kontakt zwischen ihm und den Studierenden verhindert. "Manchmal wundere ich mich schon, wie unaufmerksam Leute sein können", sagt Irlenbusch, fährt mit den Fingern den Henkel seiner Espresso-Tasche entlang und ergänzt: "Naja, manchmal bin ich ja auch unaufmerksam." Er habe wohl einfach eine andere Perspektive auf die Dinge. "Frage ich zum Beispiel Bekannte, ob auf einem Weg eine Treppe ist, höre ich oft 'Nein nein, alles ebenerdig' und was ist: eine Treppe." Er lacht.

In der Lehre macht er seine Behinderung nicht zum Thema. "In der ersten Veranstaltung wird meist etwas getuschelt", sagt der Hochschullehrer. "Darüber gehe ich hinweg und dann ist auch gut." Sieben Wochenstunden hat Irlenbusch pro Semester. In der Regel sind es in NRW neun Wochenstunden. Durch seine Behinderung erhält er einen gesetzlichen Nachteilsausgleich.

In seiner Forschung beschäftigt sich der Ökonom aktuell mit Unternehmenskulturen. "Jeder spricht davon, aber was meinen wir eigentlich, wenn wir von 'Unternehmenskultur' reden", fragt Irlenbusch mit weit aufgerissenen Augen.

Prof. Bernd Irlenbusch
"Alles eine Sache der Perspektive", sagt der Wirtschaftsprofessor Bernd Irlenbusch. Aufgrund einer Diastrophischen Dysplasie ist er von Geburt an kleinwüchsig. Katrin Schmermund/Forschung & Lehre

Mit seinem Team untersucht er zum Beispiel, welche Effekte es hat, wenn Beschäftigte  von bestimmten Erwartungen ihrer Kolleginnen und Kollegen ausgehen. "Häufig stimmen diese Einschätzungen nicht und führen dazu, dass Beschäftigte zum Beispiel nicht ansprechen, wenn aus ihrer Sicht etwas schief läuft", erklärt der Wissenschaftler.

Gerade noch habe er dazu einen Vortrag vor dem Aufsichtsrat von Volkswagen gehalten. Bei neuen Kontakten wie diesen schreibt er vorab eine E-Mail mit Infos zu allem, was er für seine Arbeit vor Ort braucht. Bei Konferenzen und Empfängen blieben jedoch Ärgernisse wie der Stehtisch. "Überall sehe ich nichts als diese hohen Tische", sagt Irlenbusch. "Die sehen vielleicht schick aus, aber mehr als mich darunterstellen kann ich nicht." Die Feier zu einem gewonnenen Exzellenzcluster habe er  zum Beispiel verärgert verlassen. Optimal verläuft ein Termin für ihn dagegen, wenn er im Vorfeld alles hat klären können und vor Ort seine Forschung und, wie er sagt, "das Menschliche" im Vordergrund stehen.

Karriereziel "Professur"

Er sei froh, vergleichsweise gut alleine klarzukommen. "Ich kann gehen, solange mir keine Treppe ohne Geländer in den Weg kommt. Mit meinen Händen kann ich alles Nötige tragen und tippen – vielleicht etwas langsamer als jemand anders, aber es geht". Mit entsprechender Vorbereitung habe er seit jeher an wissenschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen können. "Das sieht bei Menschen, die auf eine Assistenz angewiesen sind, schon ganz anders aus. In ihrer Karriere kann sie das schnell zurückwerfen."

Für Irlenbusch ging es nach dem Abitur über Studienabschlüsse in Informatik, VWL und BWL schnell bergauf. Über eine Promotion und Habilitation bis zur  Professur. Promoviert wurde er an der Universität  Bonn von Nobelpreisträger Professor Reinhard Selten, bekannt für die Spieltheorie. "Über ihn habe ich inspirierende Persönlichkeiten aus der Wissenschaft getroffen  und gelernt, wie wichtig Netzwerke in der Wissenschaft sind", sagt Irlenbusch. Eine Äußerung seines Doktorvaters ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: "Sie haben einen Wiedererkennungswert", habe der gesagt.  "Einen verpatzten Vortrag können Sie sich nicht erlauben. Da erinnern sich alle noch Jahre später dran.

"Mein Grundschullehrer hat damals entschieden, mich in der Regelklasse aufzunehmen. Damit habe ich der Behindertenkarriere entkommen können." Bernd Irlenbusch

Die Weichen für seine Ausbildung hat jedoch ein anderer gestellt. "Mein Grundschullehrer hat damals entschieden, mich in der Regelklasse aufzunehmen. Bis Eltern oder Behörden gegen die Entscheidung vorgehen, bist du schon auf dem Gymnasium", habe er gesagt. "Für die damalige Zeit nicht selbstverständlich, sagt Irlenbusch. Damit habe er der "Behindertenkarriere" entkommen können. So nennt er den Teufelskreis, von einer Förderschule nur schwer den Schritt zum Abitur und damit zum Studium zu schaffen. "Ich bin nicht grundsätzlich gegen Förderschulen, das muss von Person zu Person entschieden werden", sagt der Wissenschaftler, "aber viele Talente bleiben auf der Strecke, weil sie es später nicht mehr schaffen, vom 'normalen' Weg der Förderschule und Behindertenwerkstätten auszubrechen und ihr volles Potential zu entfalten."

Wunsch nach flexiblen Fördermöglichkeiten

Derzeit koordiniert Irlenbusch als Professor in Köln ein Team aus sechs Promovierenden, zwei Postdocs, zwei Juniorprofessuren sowie mehreren studentischen Hilfskräften. Die Professur an der Universität zu Köln hat er nach einer mehrjährigen Tätigkeit an der London School of Economics (LSE) im zweiten Anlauf erhalten. "Beim ersten Mal hat die fachliche Eignung nicht so gut gepasst wie bei einem anderen Kandidaten", sagt Irlenbusch. "Das konnte ich nachvollziehen." Einen Bewerbungsmarathon wie manch anderer Wissenschaftler mit Behinderung hat er nicht hinter sich. Vor Köln habe er unter anderem Rufe aus Jena, Würzburg und Wien erhalten, er wollte aber zurück ins Rheinland.

Seine Behinderung habe er bei Bewerbungen stets angegeben, sagt Irlenbusch. Heute sitzt er selbst in Berufungskommissionen. Wie "fair" diese seien, könne er schwer sagen. "In meinen Vorträgen vor behinderten Nachwuchswissenschaftlern betone ich immer wieder, wie wichtig gute Netzwerke und Publikationen sind – das scheint mir für Menschen mit Behinderung noch stärker zu gelten als für andere", sagt Irlenbusch. "Und es lohnt sich sicherlich, weiter für die Offenheit von Kommissionsmitgliedern gegenüber Menschen mit Behinderung einzutreten."

Den gut gemeinten Vorschlag einer Schwerbehindertenvertretung, eine Person mit Behinderung "doch einmal einzuladen", hält er für kontraproduktiv. "Wenn abzusehen ist, dass die Qualifikation nicht passt, sollte eine Person nicht eingeladen werden", meint Irlenbusch. Das schüre nur Hoffnungen, die dann enttäuscht würden. Von Förderern wie der DFG fordert er mehr Flexibilität. "Ehe das Büro für einen Beschäftigten behindertengerecht eingerichtet ist, ist die Projektzeit schon wieder abgelaufen", sagt Irlenbusch. Es brauche zusätzliche "Förderpakete", die kurzfristig hinzugebucht werden könnten. Unternehmen seien da meist besser aufgestellt. "Ihre Entscheidungen müssen nicht durch zig Instanzen." Doch er sei optimistisch: "Der Begriff 'Inklusion' ist an Hochschulen immer präsenter", sagt Irlenbusch. "Ein positiver Begriff", wie er findet, "er betont das Gemeinsame – nicht das Andere".

Nach dem Gespräch zieht er seinen Laptop aus der Tasche. Er wolle noch ein Paper überarbeiten. Details könne er nicht verraten. Nur so viel: "Wenn alles gut läuft, erfahren Sie bald mehr darüber, warum es für Unternehmen hinderlich sein kann, wenn Beschäftigte meinen, ähnlich zu denken." Er schmunzelt und da sind sie wieder, die weit aufgerissenen Augen des Wirtschaftswissenschaftlers.