Frau hält sich einen geblümten Spiegel vor
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Sozialpsychologie
Selbstwert und Reputation

Was hat einen stärkeren Effekt auf unser Selbstwertgefühl – Urteile über unsere Moral oder über unsere Kompetenz? Eine Einordnung.

Von Andrea Abele-Brehm 11.09.2018

Das Selbstwertgefühl, das heißt, die Wahrnehmung der eigenen Person als mehr oder weniger wertvoll und wichtig, ist eine bedeutende Determinante vieler Verhaltensweisen. Personen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl sind unsicher, trauen sich wenig zu, lassen sich leicht beeinflussen, sind inkonstant in ihrem Verhalten anderen gegenüber, erleben leicht negative Emotionen.

Personen mit einem übersteigert positiven Selbstwertgefühl sind wenig empfänglich für Rückmeldungen durch andere, überschätzen sich und ihre Fähigkeiten, treten unangenehm in Erscheinung, sind unsensibel und emotional wenig differenziert. Schließlich ist die für die eigene Psyche und für das eigene Leben günstige Form des Selbstwertgefühls positiv, aber nicht übersteigert positiv.

Man schätzt seine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten optimistisch, aber noch einigermaßen realistisch ein, man geht mit Selbstvertrauen ans Werk und lässt sich durch gelegentliche Hindernisse nicht aus der Bahn werfen.

Das Selbstkonzept: Agentische und kommunale ­Eigenschaften

Das Selbstkonzept einer Person, das heißt, die stärker an Eigenschaften orientierte Selbstbewertung, lässt sich in zwei große Themenbereiche einteilen:

  • Zuschreibungen im Bereich "agentischer" Eigenschaften beziehen sich auf Aspekte von Durchsetzungsfähigkeit, Führungsstärke und Kompetenz,
  • Zuschreibungen im Bereich "kommunaler" Eigenschaften beziehen sich auf Aspekte wie Freundlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Moralität.

Agentische Eigenschaften fördern die Verfolgung eigener Ziele, kommunale Eigenschaften fördern das zwischenmenschliche Zusammenleben.

In der Forschung zum Selbstwertgefühl zeigte sich nun ein interessantes, auf den ersten Blick paradox erscheinendes Phänomen. Personen ziehen ihren Selbstwert sehr stark daraus, dass sie sich als kompetent, zielorientiert und durchsetzungsstark, das heißt, als "agentisch" erleben.

Die Selbsteinschätzung von Freundlichkeit oder Moralität/Fairness ("Kommunalität") spielt für das Selbstwertgefühl eine deutlich geringere Rolle. Sollen dagegen diese Eigenschaften nach Positivität – Negativität bewertet werden, dann erhalten "kommunale" Eigenschaften höhere Werte als "agentische" Eigenschaften.

Gleichzeitig zeigen experimentelle Studien, dass negative Rückmeldungen im Bereich "Moralität" (das heißt, das Anzweifeln, ob eine Person moralisch handelt) zu stärkeren Selbstwertzweifeln führen als negative Rückmeldungen im Bereich "Kompetenz" (das heißt, das Anzweifeln, ob eine Person bestimmte Fähigkeiten hat). Warum ist das so? Warum sind "agentische" Eigenschaften wichtiger für das Selbstwertgefühl, obwohl kommunale Eigenschaften positiver bewertet werden?

Und warum führen negative "kommunale" Rückmeldungen zu mehr Selbstwertzweifeln als "agentische", wenn doch die kommunalen Eigenschaften gar nicht so wichtig für das Selbstwertgefühl sind? Wir haben zwei Interpretationsmöglichkeiten für diese scheinbar paradoxen Ergebnisse geprüft.

Ursachen von Selbstzweifel

Eine erste Möglichkeit: Die meisten Menschen halten es für selbstverständlich, dass sie freundlich, zuverlässig und hilfsbereit sind. Sie stellen ihre Moralität und Warmherzigkeit nicht infrage. Weniger selbstverständlich und damit stärker variabel sind dagegen Selbsteinschätzungen von Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit.

Wenn jedoch erstere Eigenschaftseinschätzungen bei allen Befragten mehr oder weniger hoch liegen, dann hängen sie auch weniger mit dem Selbstwertgefühl zusammen als die stärker variablen Selbsteinschätzungen letzterer Eigenschaften. Empirisch bestätigt sich dies: Selbsteinschätzungen kommunaler Eigenschaften sind generell höher und weniger variabel als solche agentischer Eigenschaften .

Eine zweite Möglichkeit: Das Selbstwertgefühl wird durch zwei verschiedene Quellen gespeist, nämlich die Selbsteinschätzung ("wie sehe ich mich") und die vermutete Einschätzung durch andere Personen ("was vermute ich, wie andere Personen mich sehen").

Bereits in der mehr als hundert Jahre alten Theorie des symbolischen Interaktionismus wird das "Selbst" in einen "I"- und einen "Me"-Teil differenziert, wobei das "Me" auch als "looking glass self" bezeichnet wird, also die Selbsteinschätzung, die man durch die Rückmeldung von anderen (der "Spiegel") bildet beziehungsweise modifiziert.

In einer Serie von Studien haben wir deshalb getestet, inwiefern negative Rückmeldung von außen mehr den "I"- oder den "Me"- Teil des Selbstbildes und damit auch des Selbstwertgefühls beeinflusst. Wir fragten zum Beispiel, in welchen Situationen Personen an sich selbst gezweifelt haben (das "I") und in welchen Situationen sie um ihren Ruf fürchteten (das "me"). Und wir testeten, ob und inwiefern Rückmeldungen zu "agency" versus "communion" sich unterschiedlich auf  diese beiden Aspekte des Selbstwertgefühls ("I" und "me") auswirken.

Es zeigte sich, dass negative Erfahrungen und negative Rückmeldung im agentischen Bereich (Führungsstärke, Durchsetzungsfähigkeit, Kompetenz) eher die Selbstsicht im Sinne des "I" (wie sehe ich mich selbst) beeinflusste, während negative Erfahrungen und Rückmeldung im kommunalen Bereich (insbesondere Moralität) eher die Selbstsicht im Sinne des "Me" ("welche Reputation habe ich bei Anderen") beeinflusst. Selbstsicht und vermutete Reputation beeinflussen also beide das Selbstwertgefühl.

Betrachtet man Bewertungen anderer Menschen, die ja in gewisser Weise die Reputationseinschätzung wiedergibt, so stehen hier weniger die agentischen, sondern vielmehr die kommunalen Eigenschaften, insbesondere Fairness, Moralität und Vertrauenswürdigkeit im Vordergrund. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass die Bewertung von Politikern negativer ausfällt, wenn man ihnen mangelnde Moral unterstellt als wenn man ihnen mangelnde Kompetenz unterstellt.

Die vermutete Moralität einer Person ist eine besonders wichtige Determinante dafür, ob man mit ihr zusammenarbeiten möchte. Allgemein wird die mehr oder weniger positive Einstellung gegenüber anderen durch deren vermutete Kommunalität stärker beeinflusst als durch deren agentische Eigenschaften.

Zusammengenommen setzen die meisten Menschen die eigene Freundlichkeit und Moralität als gegeben und selbstverständlich voraus und insofern spielen entsprechende Selbsteinschätzungen für das Selbstwertgefühl keine beziehungsweise nur eine geringe Rolle. Erst dann, wenn diese Eigenschaften durch Andere angezweifelt werden, werden sie wichtig und beeinträchtigen über den Weg der vermuteten Reputationsgefährdung das Selbstwertgefühl. Bei der Bewertung anderer Personen spielt dagegen die vermutete Moralität direkt eine besonders wichtige Rolle.

Literaturhinweise

  • Abele, A.E. & Hauke, N. (2018). Agency and communion in self-concept and self-esteem. In Abele, A.E. & Wojciszke, B. (Eds.) The Agency – Communion Framework. Series: Current Issues in Social Psychology. Oxford: Routledge.
  • Abele, A. E., & Wojciszke, B. (2014). Communal and agentic content in social cognition: A Dual Perspective Model. Advances in Experimental Social Psychology, 50, 195-255.
  • Bertolotti, M., Catellani, P., Douglas, K. & Sutton, R. (2013). The "BigTwo" in political communication: the effects of attacking and defending politicians' leadership or morality. Social Psychology, 44, 117–128.
  • Hauke, N. & Abele, A.E. (2018, noch unveröffentlicht). Two Faces of the Self: Self-as-Identity and Self-as-Reputation are Differentially Related to Agency versus Communion.