Konfliktkultur
Streit und Wettbewerb in der Uni
Forschung & Lehre: Welche Besonderheiten zeigen sich bei dem Thema Konflikte speziell in einer Hochschule?
Sonja Nielbock: Organisationssoziologisch betrachtet haben Hochschulen eine komplexe Organisationsstruktur. Einerseits findet sich hier die öffentliche Verwaltung mit Rechten, Pflichten, Hierarchien und klaren Richtlinien, an die sich die dort Tätigen zu halten haben. Auf der anderen Seite gibt es die Wissenschaft, die organisationssoziologisch gesprochen eher anarchistisch strukturiert ist. Hier geht es darum, neue Forschungserkenntnisse in kreativer und autonomer Weise zu entwickeln – und das mit möglichst wenig Vorgaben, Struktur, Rechten und Pflichten. Und genau hier wird es kompliziert. Einige wissenschaftliche Arbeitsgruppen ähneln meines Erachtens organisational einem Start-up – allerdings mit dem Unterschied, dass es eine größere Machtdifferenz und Hierarchie gibt. Die Professorinnen und Professoren besitzen qua Professur und Berufung Macht. Nicht immer ist ihnen bewusst, wie diese Machtdifferenz auf andere wirkt, aber dadurch entstehen eine andere Atmosphäre und andere Konflikte. Professorinnen und Professoren gehen unterschiedlich mit dieser Macht um.
F&L: Spielt nicht auch die Persönlichkeit der Beteiligten eine Rolle?
Sonja Nielbock: Mit der jeweiligen Persönlichkeit hat das nicht in erster Linie zu tun, es gibt systemische Konflikte in Hochschulen. Den Betroffenen das klarzumachen ist wichtig, andernfalls laufen sie Gefahr, die Probleme ausschließlich als ein persönliches Defizit wahrzunehmen. Natürlich gibt es auch individuelle Unterschiede. Manche Menschen haben beispielsweise mehr Konflikte, weil sie vom Temperament her eher impulsiv reagieren oder weil sie selbst etwas mitbringen in ihrer Biografie, das sie in einem Konflikt nicht ruhig sein lässt. Hinzu kommt, dass in der Wissenschaft nicht über Konkurrenz gesprochen wird beziehungsweise, dass es vielen schwerfällt, darüber zu sprechen. Dabei ist das Spannungsfeld Konkurrenz versus Kooperation, mit dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler umgehen müssen, sehr komplex. Wenn ich das Thema in der Beratung anspreche, reagieren die meisten sehr verwundert. Meines Erachtens wäre es wichtig, dieses Spannungsfeld möglichst zu Beginn eines Forschungsprojekts auf einer Metaebene als eigenes Thema zu bearbeiten. So könnten viele Konflikte vermieden werden. Ein Präventionsansatz wäre zum Beispiel zu Beginn eines Forschungsprojekts in einem moderierten Workshop Themen wie Rollen, Aufgaben, Befugnisse, Formen des Austauschs und Erwartungen aneinander zu bearbeiten.
F&L: Wann ist Streit konstruktiv und wo schlägt er um ins Konflikthafte, Destruktive?
Sonja Nielbock: Der Streit ist ein Wesensmerkmal der Wissenschaft und auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen ein gutes Moment. Beim Streit hält man gewisse faire Spielregeln ein. Der wissenschaftliche Streit braucht allerdings gute Rahmenbedingungen und Zeit. Entwerte ich zum Beispiel die Forschungsergebnisse meines Gegenübers, habe ich die Ebene eines Streits verlassen, dann geht es um etwas anderes. Möglicherweise handelt es sich um eine Art des Umgangs mit Konkurrenz. Eine Definition von Konflikt sagt: Wenn die Emotionen die Überhand gewinnen, dann habe ich die Streitebene verlassen und ich befinde mich auf der Konfliktebene. Unser Beitrag besteht darin, die Betroffenen wieder handlungs- und arbeitsfähig zu machen. Sie verstehen durch unsere Beratungsarbeit, was passiert und welche Handlungsoptionen bestehen.
"Entwerte ich zum Beispiel die Forschungsergebnisse meines Gegenübers, habe ich die Ebene eines Streits verlassen." Sonja Nielbock
F&L: Wo entstehen eher Konflikte: in einer hierarchischen Organisation oder in flachen, flexibleren Organisationsstrukturen?
Sonja Nielbock: Beide Organisationsformen bergen unterschiedliche Konflikte. Manche Konflikte können in einer Hierarchie gut umwunden werden, wenn eine Person die Macht hat und Verantwortung übernimmt, indem sie entscheidet. Das kann anderen Menschen durchaus guttun und Orientierung geben. Es kann aber auch zu Machtmissbrauch führen. In flacheren Organisationsstrukturen trägt das Kollektiv die Verantwortung eher gemeinsam. Es muss so lange diskutiert werden, bis alle dabei sind und die unterschiedlichen Meinungen gehört wurden. Hier können informelle Machtstrukturen entstehen. Es gibt viele informelle mikropolitische Formen, Macht auszuüben, und das hat nichts mit der Position in der Hierarchie zu tun. Konflikte lassen sich bei beiden Formen vermeiden, indem wir uns wirklich Zeit nehmen, miteinander zu reden und dem anderen mit Respekt zuzuhören. Diese wertschätzende Kommunikation, die ihre Wurzeln in der gewaltfreien Kommunikation der 1970er-Jahre hat, war lange vor allem in bestimmten Bereichen, die sich mit Kommunikation und Konfliktbearbeitung beschäftigen, wirkmächtig. Inzwischen setzen sich viele Führungskräfte mit Formen wertschätzender und klarer Kommunikation auseinander.
F&L: Das Führen von Arbeits- und Forschungsgruppen gehört zum Wissenschaftsalltag dazu. Wie gelingt es, Betroffene bei Führungskonflikten zu unterstützen?
Sonja Nielbock: Wenn Beschäftigte wegen Unzufriedenheit mit dem Verhalten ihrer Vorgesetzten in die Beratung kommen, sind sie meistens emotional. Wir helfen ihnen dabei, sich zu sortieren und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf. Hierzu gehört beispielsweise das sogenannte moderierte Klärungsgespräch als eine Option. Wir bearbeiten Konflikte aber auch in Einzelberatungen. Kommt zum Beispiel eine Doktorandin, ein Postdoc oder auch eine Verwaltungskraft mit einer Konfliktsituation mit ihrer Vorgesetzten oder ihrem Vorgesetzten zu uns, dann unterstützen wir sie darin, wie sie selbst ein Gespräch mit der Professorin oder dem Professor führen könnten oder wie sie Gesprächsbedarf signalisieren können. Wenn die Professorin beziehungsweise der Professor darauf nicht eingeht und die Doktorandin mich von der Schweigepflicht entbunden hat, gehe ich in spezifischen Fällen auf die Professorinnen und Professoren zu und frage nach deren Perspektive auf die Zusammenarbeit mit der Doktorandin. Mir ist es wichtig, Verständnis für die Herausforderung zu haben, als Professorin beziehungsweise Professor führen zu müssen, obwohl es ihr oder ihm in erster Linie um Forschung und Lehre geht. Die aktuelle Konfliktsituation und die Konfrontation damit bewirken häufig, dass sich Professorinnen und Professoren mit der eigenen Rolle auseinandersetzen und sich fragen, wie sie eigentlich führen wollen. Grundsätzlich erlebe ich, dass viele Professorinnen und Professoren nicht autoritär führen wollen. Durch den zeitlichen Druck und Stress entstehen aber Kommunikations- und Führungssituationen, bei denen die konkreten Personen im Nachhinein und mit mehr Distanz sagen würden, das hätte ich gerne anders gemacht. Gute Führung braucht Zeit, und eine Führungskraft braucht auch Zeit, um sich selbst zu reflektieren. Es gibt tolle Führungskräfte unter den Professorinnen und Professoren und immer wieder schwierige Situationen, weil der Umgang miteinander in der Wissenschaft sehr divers, individuell und ohne klare Vorgaben ist. In privatwirtschaftlichen Großunternehmen gäbe es so etwas wie eine Richtlinie von oben und alle Führungskräfte hätten sich daran zu halten. In einer Universität funktioniert das so nicht.
F&L: Welche Personengruppen wenden sich an Sie?
Sonja Nielbock: Das ist ein buntes Spektrum. Wir bearbeiten zum Beispiel Konflikte unter Professorinnen und Professoren. Hier kann es um unterschiedliche Ausrichtungen eines Instituts gehen, um Ressourcenverteilung oder auch den Umgang mit Studierenden und die Arbeitsverteilung in der Lehre und bei der Betreuung von Abschlussarbeiten. Häufig begleiten wir auch Doktorandinnen und Doktoranden, die mit einer spezifischen Arbeitsbedingung unzufrieden sind. Hier findet eher eine Einzelberatung oder ein Konflikt-Coaching statt, weil das Abhängigkeitsverhältnis zum Betreuer oder zur Betreuerin oft dazu führt, dass aus Sorge um die eigene Karriere die Konflikte und die Klärungsthemen nicht angesprochen werden. Wir haben es zwar mit einer großen Institution zu tun, gleichzeitig ist die wissenschaftliche Community in manchen Feldern sehr klein. Wenn etwa die Zusammenarbeit sehr schwierig geworden ist, ist zum Beispiel ein Wechsel zu einem anderen Professor oder an eine andere Universität des spezifischen Forschungsgebiets kaum möglich.
F&L: Haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine bessere Streitkompetenz, weil sie bereits während ihrer wissenschaftlichen Karriere mit fachlichem Streit umgehen müssen?
Sonja Nielbock: Das ist nicht meine Erfahrung. Im Gegenteil: Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wenden sich oft in einem früheren Stadium an mich als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, für die Kommunikation zumindest ein Teil ihres Fachgebiets ist. Der Blick von außen ist manchmal wichtig. Die Rahmenbedingungen wie Stressbelastung und Konkurrenzdruck lassen oft keine Zeit für Gespräche; was dazu führt, dass es dann schneller eskaliert. In der Eskalation hilft mir die Erfahrung des sachlichen, fachlichen Streits wenig. Meine Wahrnehmung ist, dass Betroffene häufig lange abwarten – auch in der Hoffnung, der Konflikt werde sich vielleicht von selbst lösen. In vielen Fällen wird er erst bearbeitet, wenn er bereits eskaliert ist. Eine Besonderheit in der Hochschule sind die sogenannten saisonalen Konflikte, die durch den Wechsel von Semester und vorlesungsfreier Zeit entstehen. Die Zusammenarbeit ist im Semester oft intensiver, die vorlesungsfreie Zeit eröffnet Möglichkeiten der Distanz. Betroffene hoffen dann manches Mal, dass sich ein Konflikt während der Semesterferien und des Abstands erledigt hat. Konflikte werden hier aber lediglich weggeschoben. Ein anderer Punkt ist die durch die Coronapandemie verstärkte virtuelle Kommunikation. In den vergangenen Jahren habe ich in meiner Arbeit beobachtet, dass die E-Mail-Kommunikation Konflikte schnell eskalieren lässt und es in bestimmten Situationen besser wäre, kurz miteinander zu reden, am besten in Präsenz oder per Telefon. Wegen der Asynchronität von Zeiten sowie des hohen Drucks und Stresslevels werden unter Umständen Mails geschrieben, die die Sachlichkeit vermissen lassen.
"Eine Besonderheit in der Hochschule sind die sogenannten saisonalen Konflikte, die durch den Wechsel von Semester und vorlesungsfreier Zeit entstehen." Sonja Nielbock
F&L: Inwiefern können Konflikte durch virtuelle Kommunikation schneller eskalieren?
Sonja Nielbock: Es gibt viele Vorteile in der virtuellen Kommunikation, diese kann jedoch bei Spannungen auch schneller eskalieren als im direkten physischen Kontakt. Eine E-Mail ist schnell geschrieben und spart viel Zeit. Diese Art des Kontakts birgt aber gegenüber dem physischen ein eigenes Konfliktpotenzial. Menschen schreiben schnell etwas Eskalierendes, was vielleicht nicht geschehen würde, wenn sie auf dem Weg zur Kaffeemaschine im Büro die Kollegin oder den Kollegen noch einmal treffen und dabei feststellen würden, sie oder er hat das gar nicht so gemeint. Viele Konflikte lösen sich so im besten Fall durch ein kurzes Gespräch auf. Wenn wir aber zu Hause sitzen und die andere Person nicht sehen, entsteht in den Köpfen eine Wahrnehmung, auf die einige (zu) emotional reagieren. Solche E-Mails landen dann bei uns. Dazu kommen inzwischen noch verkürztere digitale Kommunikationsmöglichkeiten über Messenger. Wichtig ist eine gute Balance zwischen virtueller Arbeit und Präsenzarbeit. Meetings in Präsenz sind eine Form der Prävention, um in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Manche mussten nach der Coronapandemie Begegnung und Kontakt neu lernen und auch die Qualität dieser Kontakte für Arbeitsergebnisse und Zusammenarbeit wieder schätzen lernen. Wie viel schneller geht es, gemeinsam an einem Tisch, am Flipchart oder am Rechner Dinge und Ideen zu entwickeln? Sich gegenseitig physisch wahrzunehmen ist wichtig. Wenn ein Betroffener spürt, wie sehr sein Gegenüber davon berührt wurde, dass er nicht die Nummer eins auf der Publikation ist, und was das körpersprachlich mit dieser Person macht, kann das durchaus die gesamte Konfliktsituation verändern. Das gilt auch für meine Beratung: Meine Erfahrung geht dahin, dass ich in der Präsenz mit meiner Arbeit wirkmächtiger bin und eine höhere Qualität in der Behebung von Spannungen und Konflikten erziele als virtuell. Natürlich gibt es gute Gründe für virtuelle Zusammenarbeit, und wir bieten ebenfalls Videoberatungen an. Insbesondere dann, wenn der Präsenztermin für die Anfragenden nicht zeitnah möglich ist.