Potrait von Matilda Joslyn Gage (*1826, †1989)
Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA

Matilda-Effekt
Wer zitiert wen und warum?

Humangeographen haben das Zitationsverhalten in ihrer Disziplin untersucht. Dabei sind sie auf ein "Gender Citation Gap" gestoßen.

Kennen Sie die Frau auf dem obenstehenden Bild? Vermutlich nicht, denn sonst trüge das Phänomen, um das es in diesem Text geht, wohl kaum ihren Namen. Das Bild zeigt Matilda Joslyn Gage, die bereits in ihrem 1870 erschienenen Essay "Woman as Inventor" kritisierte, dass die akademischen Leistungen von Frauen zu wenig Anerkennung erfahren. Und es war die Wissenschaftshistorikerin Margret W. Rossiter, die Matilda Joslyn Gage vor 30 Jahren zur Namensgeberin für den "Matilda-Effekt" machte. In ihrem einflussreichen Beitrag beschreibt Rossiter den Matilda-Effekt als Kehrseite des bekannten "Matthäus-Effekts". Während dieser den Prozess der exponenziellen Anhäufung von Reputation im Wissenschaftssystem meint, steht der Matilda-Effekt für die systematische Minderbeachtung akademischer Leistungen von Frauen. Anhand prägnanter Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte zeigt Rossiter auf, wie schwierig es für Frauen seit jeher war, die ihnen zustehende Anerkennung zu bekommen.

Seither haben zahlreiche Studien belegt, dass von Frauen produzierte Erkenntnisse weniger Aufmerksamkeit in der Scientific Community erfahren. In fast allen Feldern, in denen akademische Reputation verteilt wird, zeigen sich teils deutliche Genderdifferenzen. Besonders brisant ist der "Gender Citation Gap". Demnach werden Wissenschaftlerinnen weniger häufig zitiert als ihre männlichen Kollegen, was sich unmittelbar auf die Karrierechancen auswirkt. Denn jede und jeder weiß um die Bedeutung von Zitationsindizes.

Der Matilda-Effekt in der Humangeographie

Als Wissenschaftsforscher und Humangeographen interessierte uns, ob in unserer Disziplin ebenfalls ein "Gender Citation Gap" existiert. Dazu haben wir eine netzwerkanalytische Studie durchgeführt, bei der es um das innerfachliche "Wer-zitiert-wen?" ging. Um den möglichen Einfluss von Qualifikationsstufenunterschieden und formalen Hierarchien auf die Zitationspraxis zu kontrollieren, wurde nur die höchste akademische Statusgruppe in den Blick genommen: Untersucht wurden die Zitationsbeziehungen zwischen den aktuell 150 humangeographischen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Aus ihren 4.297 in der Literaturdatenbank Scopus gelisteten Publikationen wurden 17.515 Zitate extrahiert, die sich wiederum auf 1.294 Beziehungen im Zitationsnetzwerk verteilen (siehe Grafik).

Das Ergebnis war eindeutig: Die 48 Humangeographieprofessorinnen (32 Prozent) verteilten nicht nur weniger Zitate im Netzwerk, sie wurden auch signifikant seltener zitiert. Die Zitationsrate der Frauen lag um 40 Prozent niedriger. Unsere Analysen zeigten zudem, dass sowohl Männer als auch Frauen überproportional häufig männliche Kollegen zitieren. Den Gender Gap allein mit "Old Boys Networks" oder "Male Buddyism" erklären zu wollen, griffe also zu kurz.

Die Zitationspraxis unter Partikularismusverdacht

Als Autoren dieser Studie waren wir von der Deutlichkeit des Ergebnisses überrascht und fühlten uns gleich in zweifacher Hinsicht betroffen: Zum einen hatten wir als männliche Wissenschaftler das schale Gefühl, dass die paar Zitate, die wir in unseren unterschiedlich langen Karrieren gesammelt haben, auch deshalb zustande gekommen sind, weil wir als Männer wahrgenommen werden. Zum anderen fühlten wir uns als Humangeographen herausgefordert. Immerhin provozierte der Befund den Verdacht, dass innerhalb unserer Disziplin ein eklatanter Bruch mit der Norm des Universalismus vorliegt.

Als Form des Umgangs mit diesen kognitiven Dissonanzen und gewissermaßen zur Ehrenrettung unseres Faches haben wir den Versuch unternommen, den Partikularismusverdacht mit netzwerkanalytischen Methoden zu zerstreuen. Das heißt, wir haben unser Ergebnis auf den Prüfstand gestellt und gefragt, ob es – jenseits von genderbezogenem Zitierpartikularismus – Erklärungen geben könnte, die in spezifischen Netzwerkdynamiken und -strukturen begründet sind.

Unter Meistzitierten nur eine Frau

Der "Citation Gap" beschreibt zunächst Durchschnittswerte der Zitationsraten. Abweichungen von der Normalverteilung bleiben auf dieser Betrachtungsebene unsichtbar. Dabei sind für Zitationsnetzwerke teils immense Ungleichverteilungen charakteristisch. Auch in der Humangeographie folgt die Verteilung einem typischen "Power-Law": Sehr viele werden wenig zitiert und nur wenige sehr viel. Zehn Prozent der Autorinnen und Autoren vereinen gut 35 Prozent aller Zitationen auf sich. Und hier sind die Genderunterschiede extrem: Auf der Liste der 15 Meistzitierten findet sich nur ein weiblicher Name (auf Rang 9). Von dem starken "Matthäus-Effekt" in unserem Fach profitieren demnach überwiegend Männer. Aber warum?

"Weder die höheren Zitationsraten der Männer noch der 'Matthäuseffekt' lassen sich auf unterschiedliche Karrierelängen zurückführen."

Da selbst exponenzielles Wachstum Zeit braucht, ließe sich argumentieren, dass die männlichen Professoren stärker von den zirkulär-kumulativen "Matthäus-Dynamiken" profitieren, weil sie im Durchschnitt auf eine längere Dienstzeit zurückblicken können. Oder anders ausgedrückt: Da viele Frauen in der Geographie erst in den letzten Jahren berufen wurden, hatten sie schlichtweg weniger Zeit, um zitative Reputation aufzubauen.

Das hieße, dass der "Gender Citation Gap" weniger Ausdruck eines rezenten "Gender Bias" wäre als vielmehr das Resultat der patriarchalen Berufungspraxis vergangener Zeiten. Der heutige "Gender Citation Gap" wäre somit die logische Manifestation eines dynamischen Umbruchs der Geschlechterverhältnisse in der Professorinnen- und Professorenschaft.

Dem ist aber nicht so. Denn Dienstalter und Zitationsrate korrelieren in der Gesamtschau nicht. Weder die höheren Zitationsraten der Männer noch der "Matthäuseffekt" lassen sich auf unterschiedliche Karrierelängen zurückführen.

Liegt eine thematische Trennung der Geschlechter vor?

Außerdem haben wir überprüft, ob sich der "Citation Gap" mit der thematischen Ausdifferenzierung der Humangeographie erklären lässt. Dahinter steht die Idee, dass sich die Zitationspraxis in einer Disziplin entlang von Forschungsthemen strukturiert. Schließlich zitieren Autorinnen und Autoren vor allem Kolleginnen und Kollegen, die zu ähnlichen Fragestellungen arbeiten.

So entstehen im Netzwerk thematische Cluster, die sich im Hinblick auf die Geschlechterverteilung unterscheiden können. Differieren die Frauenanteile stark, spricht man von einer horizontalen "Gender-Segregation". Darüber hinaus können auch die Publikations- und Zitationsaktivitäten zwischen den Clustern unterschiedlich sein.

Zusammengenommen folgt daraus, dass die für ein gesamtes Netzwerk festgestellten Genderdifferenzen auch aus der Dominanz eines besonders publikations- und zitationsstarken Clusters mit geringerem Frauenanteil resultieren können. Diese zweite Alternativhypothese zur Erklärung des "Citation Gap" mussten wir jedoch ebenfalls verwerfen. Wir konnten zwar drei fachliche Cluster identifizieren, die sich sowohl im Hinblick auf die Geschlechterzusammensetzung als auch mit Blick auf Publikations- und Zitieraktivität unterschieden, aber die Ungleichheiten waren überall eklatant, sprich: Männer wurden in allen Clustern signifikant häufiger zitiert, unter den Vielzitierten sind Frauen immer stark unterrepräsentiert und nirgendwo ist eine Korrelation zwischen Zitationsrate und Dienstalter zu erkennen.

Es bleibt also beim Eingangsbefund: Matilda ist auch Humangeographieprofessorin. Denn der Verdacht eines "Gender Bias" im Zitierverhalten konnte nicht ausgeräumt werden.

Was folgt aus dem Matilda-Effekt für die Wissenschaftsgemeinschaft?

Wie aber sollte die "Scientific Community" wissenschaftspraktisch und -politisch mit dieser Erkenntnis umgehen? Dazu kursieren bereits verschiedene Ideen: Aus feministischer und postkolonialer Perspektive wird die Universalismusnorm radikal in Frage gestellt und als Instrument zur Stabilisierung der patriarchalen Machtverhältnisse im Wissenschaftssystem kritisiert. Denn ein Festhalten am Universalismusprinzip zementiere letztlich die Ungleichheiten. So gesehen hat die Zitierpraxis eine explizit politische Dimension. Vorschläge reichen von einem macht- und diversitätssensiblen Zitieren über eine Offenlegung in Form sogenannter "Citation Diversity Statements" bis hin zu einem bewussten Zitierpartikularismus im Sinne eines "strategischen Essenzialismus" zugunsten von Frauen.

Doch sollte das Zitieren in Zukunft vornehmlich als politischer Akt verstanden werden und nicht mehr primär als Essenz akademischer Wissensproduktion, dann wäre das eine tiefe Zäsur. Und vor dem Hintergrund der viel diskutierten "Krise der Wissenschaft" besteht die Gefahr, dass die Wissenschaft weiter an Glaubwürdigkeit verliert. Trotzdem besteht Handlungsbedarf. Darüber sollten wir diskutieren – nicht nur in der deutschsprachigen Humangeographie.

Zum Weiterlesen:

Steinbrink, M.; Aufenvenne, P.; Haase, C. & Pochadt, M. (2023) "Matilda in der Humangeographie: Gender Citation Gap und Zitierpartikularismus", GW Unterricht 169 (1/2023), S. 5–2.