Professorin Christiane Nüsslein-Volhard
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Nobelpreisträgerin Nüsslein-Volhard
"Wissenschaft braucht ein Umfeld, das fördert und fordert"

Christiane Nüsslein-Volhard erhielt als bislang einzige deutsche Frau den Medizin-Nobelpreis. Ein Zeichen für fehlende Chancengleichheit?

08.10.2020

Die Entwicklungsbiologin und Biochemikerin Christiane Nüsslein-Volhard beschreibt die Wissenschaft als einen schwierigen Beruf. "Die Anforderungen sind sehr hoch, die Kollegen sehr schlau", sagte die Forscherin in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur anlässlich des 25-jährigen Jubiläums ihrer Auszeichnung mit dem Medizin-Nobelpreis am 9. Oktober 1995. Darin sprach sich Nüsslein-Volhard für eine gerechte Leistungsorientierung und gegen eine Frauenquote aus.

Mit Fragen der Diskriminierung von Frauen im Wissenschaftssystem hat sich die 77-jährige Wissenschaftlerin nicht beschäftigt. "Wenn man dauernd darüber nachdenkt, dass man es schlechter hat als die anderen, kommt man auf keinen grünen Zweig. [...] Es kann sehr gut daran liegen, dass der oder die andere besser ist."

"Ich bin für eine absolut gerechte Behandlung, basierend auf berufsbezogene Leistungen. Allerdings sollte weiter sehr darauf geachtet werden, dass es keine Diskriminierung gibt für Frauen, die es wollen und können", sagte Nüsslein-Volhard. "Die Zeiten ändern sich, und wenn mehr Frauen selbst berufstätige Mütter haben, werden sich auch mehr für eine Karriere entscheiden." Ebenso frei sollten Frauen entscheiden können, dass sie wegen ihrer Familie im Beruf zurücktreten wollen.

Nüsslein-Volhard: "Forschung leidet, wenn man nicht umzieht"

Um in der Wissenschaft Erfolg zu haben, brauche es nicht Harvard oder Oxford im Lebenslauf, sagte die Forscherin. Dennoch müsse man darauf achten, in einer "intellektuell hervorragenden Umgebung" zu sein, die einen fördere und fordere. "Man sollte nicht dorthin, wo es bequem ist und man von vornherein die Beste ist", sagte Nüsslein-Volhard. Umzüge gehören ihrer Meinung nach zu einer Tätigkeit in der Wissenschaft dazu. "Die Forschung leidet, wenn man nicht umzieht. Man muss unterschiedliche Stile kennenlernen, um neue Anregungen zu bekommen."

Nüsslein-Volhard beschäftigt sich laut eigenen Angaben derzeit mit den Farbmustern von Fischen und deren evolutionären Entwicklung. "Das ist noch sehr schlecht verstanden und es wird wenig daran geforscht, weil es eben nichts direkt in der Medizin Anwendbares bringt", sagte sie im Interview. "Aber es ist unglaublich kompliziert und interessant." Die Forscherin verweist auf den vergleichsweise geringen Anteil der Förderung in Grundlagenforschung, weil vor allem gefördert werde, "was den Menschen hier und jetzt dienlich ist".

Es sei falsch, sich "nur" auf das Anwendbare zu konzentrieren. "Die meisten Erkenntnisse entstammen einer Neugier-getriebenen Forschung, die zunächst kein konkretes Ziel in einer Anwendung hat", argumentiert Nüsslein-Volhard. "Man sollte nicht nur auf die medizinische Nützlichkeit schauen."

Ihren Nobelpreis erhielt Nüsslein-Volhard 1995 für ihre Entdeckungen zur genetischen Steuerung der frühen Embryonalentwicklung. Sie wurde gemeinsam mit zwei US-Amerikanern ausgezeichnet. Die Entwicklungsbiologin und Biochemikerin wurde 1942 in Magdeburg geboren und war unter anderem Direktorin am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. Ihre 2004 gegründete Stiftung fördert junge Wissenschaftlerinnen mit Kind. Nüsslein-Volhard veröffentlichte etwa 200 Artikel in Fachjournalen und mehrere Bücher, darunter 2006 ein Kochbuch und 2017 das Werk "Schönheit der Tiere".

kas/dpa