Das Foto zeigt eine Hand, die mit einem Füller schreibt.
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Kulturtechnik
Zur Bedeutung der Handschrift als Denkwerkzeug

Am 23. Januar ist Tag der Handschrift. Ein Plädoyer für eine kulturelle Technik mit langer Tradition, die Merkfähigkeit und Kreativität fördert.

Von Susanne Dorendorff 23.01.2019

Diesseits der Digitalisierung wird seit langem von einer Renaissance der Handschrift gesprochen. Es dringt nur nicht an die Öffentlichkeit. Die internationale Schreibtechnik der verbundenen Gemischtantiqua bewährt sich seit Jahrhunderten und in fast allen Weltsprachen als zuverlässiges Denk- und Kommunikationswerkzeug.

Auf gehobener Ebene weiß man, dafür sprechen unter anderem auch die Statistik und die Studien der Hand- und Unterschrift-Coachings für Führungskräfte, dass, wer die schnelle Schreibschrifttechnik beherrscht, Teil eines Verständigungsnetzwerks ist, das unauffällig und vertraulich weltweite Verbindungen knüpft. Digitalisierung und Globalisierung indizieren die Handschrift als absolutes Muss für jeden zivilisierten Menschen. Und sie baut infolge der Digitalisierung ihre weltumspannende Anerkennung immer weiter aus. Nicht allein die handschriftliche Alphabetisierung der Kinder, auch der Computer macht diese einzigartige internationale Verständigungstechnik unverzichtbar. Schreiben mit der Hand ist schnell, individuell und weitestgehend datengeschützt.

Handschrift als "Macht- und Manipulationsinstrument"

Mit der Hand schreiben ist nicht nur ein exzellentes Denkwerkzeug. Die Handschrift ist zudem ein Macht- und Manipulations-Instrument. Im Positiven wie im Negativen. Untersuchungen belegen, dass der Duktus der Handschrift, von dem der Ausdruck der Handschrift abgeleitet wird, Impulse aussendet, die keinen allgemeingültigen Kriterien unterworfen sind, sondern ausschließlich subjektive, also individuell-emotionale Bewertungen zulassen. Diese wirken auch suggestiv auf den Schreibenden selbst ein: Die konfuse Handschrift deprimiert – die lesbare ermutigt. Davon lässt sich ableiten, dass nicht nur der kraftvoll-dynamische Schriftzug manipulativ einsetzbar ist, sondern auch der irritierend schwache, je nach Zielsetzung. Ein Faktum, das vermehrt in der Werbung zu beobachten ist. Was macht die Handschrift so besonders, dass sie an allgemeinem Interesse kaum zu überbieten ist?

Dass Handschrift bewegt ist und Gefühle transportiert, hat man schon gehört. Aber dass sie Eigenschaften hat, die sie exklusiv und prominent machen, diese Erkenntnis ist wohl neu. Es sind die fünf Signifikanzen: Authentizität, Spontaneität, Individualität, Emotionalität und Asymmetrie. Diese Charakteristik ist jeder Handschrift eigen. Sie verleiht ihr das Prädikat des Alleinstellungsmerkmals unter allen Schriften. Denn sie sind gestaltgebend und gelten als die Basisfaktoren der Handschrift-Ästhetik. Und wenn hier von Ästhetik die Rede ist, dann ist damit die Einzigartigkeit gemeint, nicht das Schönsein. Schönschreiben ist der Antipode der Handschrift, der ihre Vitalität unterwandert.

Die fünf Eigenschaften sind die, die der Handschrift Leben einhauchen. Fehlt nur eine dieser Eigenschaften, ist es keine Handschrift. Jede Handschrift, ob von Kindern geschrieben, mit Bleistift oder Edelfeder, mit künstlerischer Energie oder von Greisenhand, immer ist sie authentisch, spontan, individuell, emotional und asymmetrisch.

Authentisch ist sie, weil sie dem einzigartigen, unverwechselbaren und nur diesem spezifischen Gehirn des Schreibenden entspringt, dessen Neuronen, Synapsen und Emotionen nur diese eine Schrift als die eigene entwickeln können. Spontan ist sie, weil sie ausschließlich unmittelbar und ohne über die Buchstaben nachzudenken geschrieben wird. Die Spontaneität bewirkt außerdem, dass die Handschrift das bedeutendste Denkwerkzeug des Menschen ist.

Individuell ist sie, weil die Buchstabenformen als unbewusste, ur-schöpferische Leistung gestaltet werden. Emotional ist sie, weil sie unmittelbar an die bewussten und unbewussten Reaktionen gebunden ist. Asymmetrisch ist sie, weil die natürliche Schreibbewegung zu Gleichförmigkeit nicht in der Lage ist.

Jede Zeit hinterlässt ihre Handschrift

Jede Zeit hinterlässt ihre Handschrift, jeder Wissenschaftler in ihr seine ganz eigene in mehrfacher Hinsicht. Denn die Bezeichnung "Handschrift" steht immer auch für die persönliche Gestaltungsfreiheit jedes Menschen, für seine Authentizität und Einzigartigkeit. Soll dieses weltumspannende und jeder schreibenden Kultur vertraute Kommunikationsmedium seine subtile Suggestivkraft auch zu Präsentationszwecken nutzen, dann muss die psychische Einstellung dem Schreiben gegenüber justiert werden, weil jede emotionale Schwankung im Schriftbild Niederschlag findet. Kalligrafisches Schönschreiben ist also kontraproduktiv und sollte niemals als Handschriftersatz praktiziert werden.

Sagt die Handschrift etwas über den Charakter ihres Urhebers aus? Kein Mensch ist frei davon, von einer Handschrift auf die Persönlichkeit des Schreibers zu schließen, und spätestens bei schriftlichen Bewerbungen wird klar, dass eine kryptische oder gar kreuzworträtselhaft-gedruckte Handschrift zu einem Karriereblocker werden kann. Charismatische, attraktive Handschriften ziehen Aufmerksamkeit auf sich und werden als sogenannte "Türöffner" hochgeschätzt. Sie suggerieren Intelligenz, Authentizität und Kompetenz. Dilettantische Schrift hingegen bewirkt das Gegenteil. Doch ob ausdrucksstark oder kindlich, Beachtung findet jede handschriftliche Notiz, männliche wie weibliche gleichermaßen.

Der Ausdruck der Handschrift ist zwar greifbarer als jeder andere, jedoch nicht weniger flüchtig. Es gibt ihn kein zweites Mal. Handschrift entsteht durch spontane Bewegungen, die weder kalkulierbar, noch analysefähig sind. Es sind emotionale Reaktionen, die sich, weil sie spontan und intuitiv ablaufen, nicht voraussagen lassen. Sie bilden keine feststehende, unveränderbare Größe. Natürliche Schreibweisen lassen keinen Blick in die Zukunft zu, und sie sind kein probates Mittel für vergangenheitsorientierte Psychoanalyse.

In Deutschland trug der Mythos Graphologie, der während des Dritten Reichs als Werkzeug der "Rassenhygiene" diente, erheblich dazu bei, dass die Beschäftigung mit der Handschrift bis heute von einer angsteinflößenden Aura umgeben ist und nicht selbstbewusst entwickelt werden kann. Meines Erachtens begutachten "grafologische Handschrift-Experten" nicht den Fließbewegungsduktus der Handschrift, sondern den subjektiven Eindruck, den sie von erstarrten Tintenspuren gewinnen. Diese analysieren sie wie eine Fieberkurve oder ein Diagramm. Allerdings ohne davon seriöse wissenschaftliche Studien ableiten zu können.

Je mehr Kenntnisse auf dem Gebiet der Handschrift, je rationaler die Wertschätzung des Schreibenlernens, desto souveräner und charismatischer gestaltet sich der individuelle Ausdruck der persönlichen Handschrift. In allen handschreibenden Kulturen rangiert das Ansehen der Handschrift im obersten Anerkennungssegment. Manuelles Schreiben steht (wieder) vor der Tür. Es bringt persönliche und intellektuelle Vorteile für die anspruchsvolle Karriere.
Schreiben mit der Hand ist weitsichtig und klug.

aktualisiert: 23.1.19, zuerst erschienen: 5.5.18