Eine Person in blauer Jacke liegt in einer grünen Landschaft auf dem Rücken und blickt in den Himmel
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Karrierepraxis
Zwischen Einsamkeit und kreativem Alleinsein in der Wissenschaft

Wer wissenschaftlich arbeitet, braucht das Alleinsein. Es gilt aber, das Bedürfnis nach Isolation und nach Interaktion in Balance zu bringen.

Von Susanne Bücker 06.11.2024

In den letzten Jahren hat die sozialwissenschaftliche Forschung – verstärkt durch die soziale Distanzierung während der Coronapandemie – vermehrt die Rolle sozialer Beziehungen für die Gesundheit, den beruflichen und akademischen Erfolg sowie das Meistern von Lebensübergängen untersucht. Dabei liegt der Fokus häufig auf den negativen Auswirkungen chronischer Einsamkeit, die entsteht, wenn Menschen über längere Zeit das Gefühl haben, zu wenig bedeutsame soziale Bindungen und Interaktionen zu haben. Zahlreiche Metaanalysen zeigen, dass chronische Einsamkeit ein wesentlicher Risikofaktor für psychische Störungen wie Depression und körperliche Beschwerden wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist (Buecker & Neuber, 2024; Holt-Lunstad et al., 2015). Dies führt zu erhöhten Fehlzeiten am Arbeitsplatz und zu einer verminderten Leistungsfähigkeit, was sich auch negativ auf akademische Leistungen auswirken kann (Jefferson et al., 2023; Ozcelik & Barsade, 2018).

Neben den negativen Folgen chronischer Einsamkeit hebt die Forschung jedoch auch die positiven Aspekte des freiwillig gewählten Alleinseins, oft als solitude bezeichnet, hervor. Solitude ist verbunden mit Selbstreflexion, Entspannung und Kreativität und kann wichtige positive Funktionen erfüllen (Lay et al., 2019; Long & Averill, 2003). Die Frage, wer wann und wie viele soziale Beziehungen braucht, ist nicht nur ein gesellschaftlich relevantes Forschungsthema, sondern auch für den Alltag von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von zentraler Bedeutung. Der akademische Alltag kann sowohl einsam machen als auch zu sozialer Erschöpfung führen, wenn die notwendige kreative Ruhe fehlt.

Tabuthema Einsamkeit

Einsamkeit wird oft als Tabuthema wahrgenommen, insbesondere im beruflichen Kontext. Für viele ist es unangenehm, über ihre Einsamkeit zu sprechen, da dies als Schwäche oder Zeichen persönlicher oder beruflicher Unzulänglichkeit gewertet werden könnte. Im akademischen Umfeld ist dieser Druck besonders stark: Der Weg zur Professur wird oft als eine „einsame Reise“ beschrieben, bei der lange Phasen intensiver Eigenarbeit und ein hoher Leistungsdruck dominieren. Es herrscht die Erwartung, dass akademischer Erfolg durch unermüdlichen Einsatz erreicht wird, was dazu führen kann, dass der soziale Austausch vernachlässigt wird. Diese soziale Isolation wird häufig stillschweigend akzeptiert oder gar als notwendiges Übel angesehen, obwohl sie tiefgreifende Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben kann.

Verschiedene Facetten

Einsamkeit wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung als ein mehrdimensionales Konstrukt betrachtet, das sich in verschiedene Einsamkeitsfacetten unterteilen lässt (Weiss, 1973). So beschreibt beispielsweise die emotionale Einsamkeit den Mangel an intimen Bindungen, während soziale Einsamkeit einen Mangel an Einbettung in breitere Netzwerke meint. Die Idee hinter diesen verschiedenen Einsamkeitsfacetten ist, dass Menschen Einsamkeit in verschiedenen Kontexten und aus verschiedenen Gründen erleben können. Auch die sogenannte workplace loneliness – die Einsamkeit am Arbeitsplatz – ist eine Einsamkeitsfacette, die sich weiter differenzieren lässt. 

Empirische Forschung zu workplace loneliness, das heißt zu Einsamkeitserfahrungen am Arbeitsplatz im Allgemeinen und zu Einsamkeit im akademischen Umfeld im Speziellen, gibt es bislang erstaunlich wenig. Das überrascht, wenn man bedenkt, wie viel Zeit Erwachsene und besonders Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeitend verbringen. Eine deutsche Studie zeigte anhand einer disziplinen-übergreifenden Stichprobe von über 760 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, dass etwa 58 Prozent der Befragten deutlich mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiten, was mit erhöhter emotionaler Erschöpfung verbunden war (Buecker et al., 2024).

"Menschen können Einsamkeit in verschiedenen Kontexten und aus verschiedenen Gründen erleben."

Einsamkeit am Arbeitsplatz entsteht zum Beispiel dann, wenn Personen sich als anders und nicht zugehörig zum Kollegenkreis wahrnehmen und sich ausgeschlossen oder unzureichend integriert fühlen. Am Arbeitsplatz, insbesondere im akademischen Bereich, kann Einsamkeit besonders belastend sein, da der soziale Kontext oft schwer veränderbar ist (zum Beispiel kann man sich seine Kolleginnen und Kollegen in der Regel nicht immer aussuchen).

Konkrete Tipps zur Umsetzung

Im Alltagsstress werden Gefühle schnell übergangen, viele hetzen im Autopilot-Modus einfach weiter. Stattdessen empfiehlt Professorin Susanne Bücker innezuhalten und aufkommende Gefühle möglichst wertfrei wahrzunehmen. Ist man achtsam und bei sich, sei es leichter, zu spüren, was man gerade braucht, etwa Ruhe und Abstand oder Austausch und Verbundenheitsgefühl. Ebenso, wie es individuell verschieden sei, wie viel sozialer Austausch erwünscht und angenehm sei, unterschieden sich auch die Methoden, um sozialer Ermüdung vorzubeugen. Da jede und jeder andere Strategien als erholsam empfinde, lohne es sich, Verschiedenes auszuprobieren, um den für sich idealen Weg zu finden.

Fühlt man sich ausgelaugt von zu vielen sozialen Kontakten, hilft es vielleicht, in Ruhe allein einen Spaziergang zu machen und die Gedanken schweifen lässt. Auch Zeiten ohne Medien können entspannend sein oder eine ruhige Atemmeditation. Andersherum kann es genauso entspannend sein, sich bewusst von Medien berieseln zu lassen oder beim Ausdauersport ins Schwitzen zu kommen.

Gegen das Gefühl der Einsamkeit kann helfen, so Bücker, wenn man sich gezielt darauf konzentriert, was man mit anderen Menschen gemeinsam hat und worin man sich ähnelt. Damit wirken wir der Neigung entgegen, vor allem zu bemerken, was uns von ihnen trennt, und uns selbst als nicht passend zu erleben. Dazu tendieren gerade Menschen, die sich einsam fühlen, erklärt Bücker. Stattdessen werde das Zugehörigkeitsgefühl gestärkt, wenn wir an Gemeinsamkeiten denken. In Kontakt mit den Mitmenschen kommt man auch, wenn man bewusst Anknüpfungspunkte sucht und wahrnimmt: indem man mit Kolleginnen und Kollegen gemeinsam isst oder ein Teamprojekt startet, oder indem man sich einer Hobbygruppe oder einem Sportverein anschließt. 

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Bedürfnis nach Zugehörigkeit

Alle Menschen teilen das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit, doch es gibt individuelle Unterschiede darin, wie viel Zeit in Gesellschaft oder im Alleinsein gebraucht wird. Soziale Kontakte sind wichtig für Arbeitszufriedenheit und Produktivität, doch freiwilliges Alleinsein erfüllt zentrale Funktionen, wie die Regulation von negativen Alltagserlebnissen nach intensiven sozialen Phasen. Aktuelle Forschung zeigt, dass unfreiwillige soziale Interaktionen zu negativen Emotionen führen können, wenn der Wunsch nach Alleinsein nicht erfüllt wird (Krämer et al., 2024). 

Gerade im akademischen Alltag kann dies bei sozialen Veranstaltungen wie Tagungen zu einem Gefühl sozialer Erschöpfung führen. Auch Aufgaben wie das konzentrierte Schreiben oder wissenschaftliches Nachdenken gelingen oft besser in Ruhe und ohne soziale Ablenkung. Fehlt diese Zeit, weil der akademische Arbeitsalltag mit Gremiensitzungen und Lehrveranstaltungen primär durch soziale Situationen gekennzeichnet ist, ist nicht Einsamkeit, sondern vielmehr der Wunsch nach Alleinsein die Folge.

Individuelle Bedürfnisse

In der heutigen akademischen Welt gelten Kollaboration und soziale Vernetzung als essenziell für wissenschaftlichen Erfolg. Alleinsein spielt eine wichtige Rolle für kreative Prozesse, doch die meisten Durchbrüche werden nicht in totaler Isolation erzielt. Wissenschaftliche Arbeiten bauen auf früheren Erkenntnissen auf und erfordern die Zusammenarbeit unterschiedlicher Expertinnen und Experten mit sich ergänzenden Fähigkeiten und Wissen. Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer sollten daher ein Arbeitsumfeld schaffen, das sowohl Raum für sozialen Austausch als auch für Rückzug und kreative Stille bietet. Dies gilt besonders in Zeiten verstärkter Homeoffice-Arbeit, wo der regelmäßige Austausch mit Kolleginnen und Kollegen dazu beitragen kann, soziale Beziehungen zu stärken und das Gemeinschaftsgefühl in der Arbeitsgruppe aufrechtzuerhalten.

Die ideale Balance zwischen sozialer Interaktion und Alleinsein hängt von den individuellen Bedürfnissen der beteiligten Personen, der Art der Aufgabe und der Phase des Arbeitsprozesses ab. Sozialer orientierte Personen suchen möglicherweise häufiger kollaborative Umgebungen auf und profitieren stärker von sozialen Interaktionen. Aufgaben, die verschiedene Fachkenntnisse erfordern, bedürfen eines höheren Maßes an sozialer Interaktion. Forschende, die die Balance zwischen Alleinsein und sozialer Interaktion meistern, werden langfristig erfolgreicher und zufriedener sein. Es bedarf jedoch weiterer Forschung, um die idealen Bedingungen für diese Balance zu verstehen und die Vorteile des Alleinseins und der sozialen Interaktion zu maximieren.
 

Literaturtipps

Buecker, S., Belz, J., & Brink, K. (2024). Fueling the fire: Exploring the interplay of exhaustion, passion for work, and physical activity among scientists. European Journal of Health Psychology. 
Buecker, S., & Neuber, A. (2024). Einsamkeit als Gesundheitsrisiko: Eine narrative Übersichtsarbeit. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz. 
Long, C. R., & Averill, J. R. (2003). Solitude: An exploration of benefits of being alone. Journal for the Theory of Social Behaviour. 33(1), 21–44.