Scholars at Risk
395 Angriffe auf die Hochschulbildung in 49 Ländern
Gewalttätige Bedrohungen der Hochschulbildung halten in autoritären Kontexten an, haben in den letzten Jahren aber auch in historisch liberal-demokratischen Kontexten zugenommen. Zu diesem Schluss kommt der am 1. Oktober veröffentlichte Bericht Free to Think 2025, der von Scholars at Risk (SAR) herausgegeben wird. Ziel ist es nach eigenen Angaben, gefährdete Personen zu schützen, das Bewusstsein zu schärfen, Rechenschaftspflicht zu fördern und den Dialog und das Verständnis zu unterstützen, um künftige Bedrohungen zu verhindern. SAR ist ein internationales Netzwerk von über 650 Hochschuleinrichtungen und Tausenden Einzelpersonen in mehr als 40 Ländern.
Für den Berichtszeitraum von Juli 2024 bis einschließlich Juni 2025 wurden insgesamt 395 Angriffe auf Hochschulen und Hochschulangehörige in 49 Ländern analysiert. Die im Bericht beschriebenen Angriffe deuten auf eine sich weltweit verschlechternde Lage in Bezug auf die akademische Freiheit hin. Der SAR-Bericht verweist unter anderem auf die jüngste Ausgabe des Academic Freedom Index (AFi): Demnach hat die akademische Freiheit seit 2024 in 34 der 179 analysierten Länder deutlich, in zwei minimal abgenommen. "Politisch Verantwortliche haben die Fähigkeit des Hochschulsektors, unabhängiges Denken und Kritik zu fördern, systematisch angegriffen", sagt SAR-Exekutivdirektor Robert Quinn in einer Meldung des Netzwerks.
"Politisch Verantwortliche haben die Fähigkeit des Hochschulsektors, unabhängiges Denken und Kritik zu fördern, systematisch angegriffen."
SAR-Exekutivdirektor Robert Quinn
Von Afghanistan über Serbien bis in die USA gingen die Staatsoberhäupter gegen die Meinungsfreiheit von Studierenden und Lehrkräften vor und hätten das Studium von Themen verboten, die sie selbst ablehnten. "Angriffe auf die Hochschulbildung gefährden nicht nur Leben, Karriere und Wohlergehen von Forschenden und Studierenden, sie untergraben auch die Grundlagen einer freien Gesellschaft", erläutert Quinn weiter. Ihnen müsse eine internationale Gemeinschaft von Hochschulleitungen, Regierungsverantwortlichen und zwischenstaatlichen Gremien entgegentreten, um demokratischer Werte und Diskurse zu schützen.
Angriffe auf Freiheit und Hochschulautonomie in Deutschland
Zu den Faktoren, die in den letzten Jahren zu einer stärkeren Einschränkung der akademischen Freiheit in Deutschland beigetragen haben, gehören laut Bericht Kontroversen über den Umgang der Universitäten mit pro-palästinensischen Protesten im akademischen Jahr 2023/24 sowie die sogenannte Fördergeld-Affäre im Sommer 2024.
Zu den Einschränkungen gehörten mehrere Fälle, in denen Universitäten angesichts des öffentlichen Drucks und negativer Medienkampagnen beschlossen, zuvor genehmigte Veranstaltungen abzusagen. Beispielhaft wird die Absage einer Vorlesung des israelischen Historikers Professor Benny Morris aufgrund von Rassismusvorwürfen von Studierendengruppen genannt. Die Universität Leipzig verwies auf Sicherheitsbedenken. Ebenso sagten 2024 zwei Universitäten – die Ludwig-Maximilians-Universität und die Freie Universität Berlin (FUB) – Vorlesungen von Francesca Albanese ab, der UN-Sonderberichterstatterin zur Menschenrechtslage. Ihre Positionen zum Nahost-Konflikt gelten als umstritten. Im Rahmen der Fördergeld-Affäre wurde Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger und ihrem Team vorgeworfen, einen Prüfauftrag erteilt zu haben, um mögliche förderrechtliche Konsequenzen für Hochschullehrende auszuloten. Diese hatten einen offenen Brief zum Umgang mit propalästinensischem Protest an Berliner Hochschulen unterzeichnet, der insbesondere von Stark-Watzinger öffentlich kritisiert worden war.
Die Bedenken hinsichtlich der akademischen Freiheit nahmen SAR zufolge im Februar 2025 zu, als die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) zur zweitgrößten Partei im Bundestag wurde. Die Partei fordert nicht nur die Schließung von Gender-Studies-Fakultäten, sondern auch Massenabschiebungen, was bei internationalen Studierenden und Gastforschenden Besorgnis ausgelöst habe.
Methodik der Angriffe in vielen Ländern teils außergesetzlich
"Nationale und subnationale Regierungen nutzten sowohl althergebrachte exekutive und legislative Mechanismen als auch außergesetzliche Maßnahmen, um die institutionelle Autonomie und die akademische Freiheit zu untergraben", heißt es in der Meldung zum Bericht. Dazu gehörten weltweit die Streichung von Forschungsstipendien und Budgets aus ideologischen Gründen, die Festnahme beziehungsweise Abschiebung ausländischer Studierender und Forschender ohne ordnungsgemäßes Verfahren sowie das Verbot von Forschung, Lehre und Programmen zu Themen wie Gleichberechtigung und anderen ideologisch missliebigen Themen.
"Besonders besorgniserregend" seien die Entwicklungen in den USA nach der Amtseinführung von Präsident Donald Trump: Ab Januar 2025 leitete die Bundesregierung ein "beispielloses Maßnahmenpaket ein, das auf die Kontrolle von Universitätszulassungen, Einstellungen, Forschung, Lehre, Fachbereichsstrukturen, Rederichtlinien, Disziplinarmaßnahmen, internen Sanktionen und Finanzen" abzielte.
"Tiefe Besorgnis" äußert das Netzwerk beispielhaft zu Vorfällen in Bangladesch oder Pakistan, wo Polizei und Militär gewaltsam gegen Studierende vorgegangen seien, die gegen ihre Regierungen protestiert oder sich für bessere Bildungsbedingungen eingesetzt hätten. In Serbien habe die Regierung Fakultätsmitglieder mit Entlassung gedroht, falls sie die Studierendenproteste unterstützen sollten. Indische Universitäten hätten sich wiederum an die Seite der Politik gestellt und die Meinungsäußerung Studierender offiziell eingeschränkt, sollten diese sich kritisch gegenüber dem "politischen Establishment" äußern.
"Der aktuelle Moment ist auch eine Gelegenheit für die globale akademische Gemeinschaft, zusammenzukommen und Solidarität aufzubauen."
Clare Robinson, Leiterin der SAR-Advocacy-Abteilung
"Es stimmt zwar, dass die Hochschulbildung auf der ganzen Welt stark bedroht ist, aber der aktuelle Moment ist auch eine Gelegenheit für die globale akademische Gemeinschaft, zusammenzukommen und Solidarität aufzubauen", sagt Clare Robinson, Leiterin der SAR-Advocacy-Abteilung. Der Hochschulsektor müsse den Wert der akademischen Freiheit in der Öffentlichkeit besser kommunizieren. Isolationismus sei abzulehnen. Stattdessen seien Solidarität und formeller Rechtsschutz für akademische Freiheit und Autonomie zu gewährleisten. Weitere Appelle hat das Netzwerk in einem Kapitel "Aufruf zum Handeln" veröffentlicht.
Beispiele kriegsbedingter Angriffe auf Hochschulen
In der Ukraine sind bis Anfang 2025 rund 20 Prozent der Universitäten und Hochschulen sowie ein Drittel der Forschungseinrichtungen beschädigt oder zerstört worden, berichtet University World News anlässlich der Veröffentlichung von Free to Think. Mindestens zwölf Universitäten seien durch Marschflugkörper und ballistische Raketen oder Drohnen beschädigt worden, darunter die Nationale Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew, die Nationale Universität für städtische Wirtschaft in Charkiw, die Staatliche Medizinische Universität Dnipro und das Polytechnische Institut Igor Sikorski in Kiew.
Palästinensische Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Universitäten standen im Kontext der anhaltenden Militäraktionen Israels im Gazastreifen und der Razzien im Westjordanland vor extremen Herausforderungen. Bis zum Jahreswechsel 2024/25 war die Hochschulinfrastruktur im Gazastreifen laut SAR-Bericht weitgehend zerstört. Im Westjordanland habe es häufig Berichte über Razzien an Universitäten, Festnahmen und Inhaftierungen von Studierenden, Lehrkräften und Mitarbeitenden sowie erhebliche Bewegungseinschränkungen gegeben.
cva