Mann mit Smartphone fotografiert Galeriesaal mit Treppenaufgängen der Stadtbibliothek Stuttgart
mauritius images / Michael Weber

digitale Lehre
Analoges Gruppenerlebnis im digitalen Raum

Die Corona-Pandemie hat die Lehrpläne durcheinander gewirbelt. Ein Fotografie-Dozent berichtet, wie er das vergangene Jahr verarbeitet hat.

Von Christoph Westermeier 31.12.2020

Als ich vor einem Jahr in das neue Jahrzehnt startete, schaute ich etwas besorgt auf meinen Terminkalender. Für 2020 hatten sich unglaublich viele Möglichkeiten und Veranstaltungen ergeben und angekündigt, Überschneidungen waren nicht auszuschließen und es war mir selbst ein Rätsel, wie ich das alles bewerkstelligen sollte.

Als im Januar dann ein neuartiges Virus in China auftauchte, las ich zwar darüber in den Zeitungen, doch tangierte es mich nicht weiter. Im auslaufenden Semester spielte es überhaupt keine Rolle und als zu einem Prüfungstermin eine Kollegin aufgrund eines umgestürzten Baumes verspätet mit der Bahn anreiste, bestimmte dies das Gespräch. Der im März verhängte Lockdown machte die meisten meiner Pläne für das neue Jahr zunichte. Die Situation war neu und verunsichernd. Die vorlesungsfreie Zeit verbrachte ich zu Hause, telefonierte unglaublich viel, las Romane von Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts und kaufte mir ein neues Rennrad. In der naiven Idee zum Sommersemester wieder in gewohnter Art unterrichten zu können, ignorierte ich die sich abzeichnende neue Realität.

"Nach meinem ersten Online Kurs war ich fix und fertig."

Als hingegen klar wurde, dass das Sommersemester 2020 online stattfinden wird, beschloss ich mich damit auseinanderzusetzten. Ich hatte mich bis dahin nicht um meine virtuelle Präsenz an der Uni gekümmert und musste dies nun nachholen. So mussten Passwörter, Zugangsdaten und Konten bestätigt, organisiert und eingerichtet werden. Mit meinen Kolleginnen und Kollegen machte ich mich mit Zoom, Teams, DFNconf, Screen Sharing und Soundqualitäten vertraut. Skypen verschwand aus meinem Wortschatz und wurde durch Zoomen ersetzt. Ängstlich dachte ich hingegen an die Qualität des deutschen Breitbandausbaus, malte mir zusammenhangslose Ausschnitte der Lehrveranstaltungen in Instagramstories aus und war erstaunt und erleichtert, wie technisch reibungslos und elegant das neue Semester im Großen und Ganzen starten konnte. Das Menschliche blieb hingegen auf der Strecke. Nach meinem ersten Online Kurs war ich fix und fertig und wusste nichts mit mir anzufangen. Die Energie, die bei der Lehre freigesetzt wird, stand zwischen dem Bildschirm und mir und ich wusste sie nicht zu kanalisieren.

Mein Lehrgebiet ist das Fach Fotografie – ein tagesaktuelles Medium, das unseren ganzen Alltag bestimmt und aus diesem nicht mehr wegzudenken ist. Wir können unsere Smartphones mit einer Kamera entsperren und nutzen die Kamera zur Kommunikation. Sekündlich werden abertausende von Fotografien irgendwo auf der Welt gemacht und die meistern dieser Bilder verschwinden in der Cloud. Die digitale Fotografie unterscheidet sich fundamental von ihrem analogen Vorläufer. Es werden keine Momente mehr für die Ewigkeit auf einem Negativ eingefangen, sondern per Algorithmus in eine Datei übersetzt. Wir produzieren stetig eine Bilderflut, die irgendwie existiert aber zu abstrakt ist, um wirklich begriffen zu werden.

Die Herausforderungen der Lehre als mediale Performance

Zusätzlich zu dieser Bilderflut kommen nun digitale Treffen, Kurse, Seminare und Gespräche hinzu, die ebenfalls über eine Kamera geführt werden. Die Lehre wird so zu einer medialen Performance, die partizipativ gedacht werden sollte, da sie ansonsten die Qualitäten eines Podcasts entwickelt. Es ist sehr leicht, den Faden zu verlieren und die Stimme der Lehrenden und Kommilitoninnen und Kommilitonen aus dem Laptop plätschern zu lassen. Die physischen Spannungen, erzeugt durch olfaktorische Wahrnehmung, körperliche Nähe und die sich wandelnden Erscheinungsbilder in den Jahreszeiten, fallen weg. Es ist sehr leicht, isoliert, eigenbrötlerisch und fahrig teilnahmslos auf den Bildschirm zu starren.

Um dennoch ein Gruppengefühl zu erzeugen, ein analoges Gruppenerlebnis im digitalen Raum, müssen neue Möglichkeiten gedacht werden. Dank der digitalen Lehre kann ich das erste Mal sehr schnell die Liste der Teilnehmenden mit der Gruppe der Anwesenden zusammenbringen. Ich habe zu jedem Namen ein Gesicht und kann die Studierenden schnell und direkt ansprechen. Neue Wege der Kommunikation können so ausprobiert werden. All diesen digitalen Veranstaltungen ist gemein, dass im virtuellen Raum anders agiert werden muss als bei einem realen Treffen. Körpersprache überträgt sich nur bedingt und der verbalen Sprache kommt eine neue Rolle zu. Ironie, Befremden, Irritation und Begeisterung spielen bei einer zwischenmenschlichen Begegnung eine entscheidende Rolle, jedoch sind diese im digitalen Raum schwerer zu vermitteln: es kommt auf Feinheiten und Zwischentöne an.

Um eine gemeinsame Sprache mit den Studierenden zu finden, welche diese feinen Unterschiede berücksichtig und das Bewusstsein dafür schärft, habe ich im Frühjahr kurzerhand für den digitalen Unterricht die Künstlergruppe "Situationistische Internationale" in den Mittelpunkt meiner Kurse gestellt. Diese Gruppierung um Guy Debord hinterfragte in den 1960er Jahren Macht- und Gesellschaftsstrukturen unter künstlerischen Gesichtspunkten und legte soziale Kodierungen offen, die sich beispielsweise in städtebaulichen Planungen widerspiegelt. Da die digitale Lehre eine neue Lernstruktur erfordert und die Studierenden im Frühjahrslockdown erlebten, wie das urbane Leben vollkommen auf den Kopf gestellt wurde, erschienen mir die Situationistische Strategien passend, um auf die neuen Realitäten zu reagieren.

Neue Perspektiven einnehmen

Nachdem die Arbeitsweise der Gruppe den Studierenden in einer Zusammenfassung vorgestellt wurde, stellte ich folgende Aufgabe:

Aufgabe bis zum nächsten Termin:
An diesem Sonntag (egal wo Sie wohnen, wie das Wetter, wie der Gemütszustand ist):
11:00 Uhr, aus dem jeweiligen Haus nach links gehen, ein Foto machen (Motiv freigestellt).
An der nächsten Möglichkeit nach rechts gehen, ein Foto machen (Motiv freigestellt).
Nach 100 Metern im Kreis drehen, ein Foto nach oben, eines nach unten machen.


Wenn diese Anleitung auf den ersten Blick etwas befremdlich erscheinen mag, ist das ganz normal: Kunst betritt Neuland, ermöglicht neue Perspektiven und weitet unseren Blick. Kunst irritiert und denkt um die Ecke. Kunst ist unglaublich komplex und doch ganz simpel. Kunst ermöglicht uns, über gebaute Strukturen nachzudenken die unser tägliches Handeln beeinflussen und lädt doch auch einfach nur dazu ein, aufzustehen, den Körper zu bewegen, an die frische Luft zu gehen. Bewusst Schauen, bewusst Sehen. Der vertraute Weg wird zu einer Erkundungstour, eine Entdeckungsreise vor der Haustür.

"Wenn wir diesen Jahreswechsel nun anders verbringen müssen, sollten wir aktiv werden."

Wenn wir diesen Jahreswechsel nun anders verbringen müssen, als wir uns das mal vorgestellt haben, sollten wir nicht verzagen, sondern aktiv werden. Irgendwann wird jede Fernsehserie langweilig, Aschenputtel füllt auch keinen ganzen Tag und die im zweiten Lockdown gegessenen Kekse wollen verdaut werden. Wenn wir aber nun vor die Haustüre treten, könnten wir ja einen anderen Fokus setzen. Beobachten wir, was sich dort abspielt, achten wir auf die Feinheiten und kleinen Dinge und halten diese fest. Mit einem Smartphone können gute Bilder gemacht werden, es gibt großartige Plattformen, um mit anderen daran zu arbeiten und eine Fotoserie mit dem Titel "Corona Winter 20/21" klingt schon jetzt historisch.