25 Jahre Bologna-Prozess
Auf dem Weg zu einem Europäischen Hochschulraum
Viele Ziele sind dem Bologna-Prozess unterstellt, andere damit verfolgt, manche nicht erreicht worden. Der ursprüngliche Impuls des Geochemikers und französischen Bildungspolitikers Claude Allègre, der nur Kennern als eigentlicher Gründungsvater der Bologna-Reformen bekannt ist, wurde aber tatsächlich verwirklicht. Mit seinem Anstoß zur Sorbonne-Erklärung, dem Vorläufer der Bologna-Erklärung, im Jahr 1998 verfolgte er die ebenso bestechende wie simple Idee, dass wir in Europa, ähnlich wie in den USA, eine gemeinsame, international sichtbare und einfach kommunizierbare unmittelbare Einstiegsmöglichkeit für internationale Topstudierende in ein Forschungsstudium und das Doktorat bräuchten – eine Einstiegsmöglichkeit, eine Nahtstelle für Mobilität, eine Zwischenebene für fachliche Reorientierung für ganz Europa, damit es für Nichteuropäer nicht zu kompliziert würde.
Diese Idee ist mit dem Bachelorabschluss tatsächlich verwirklicht worden. Zumindest dem Potenzial nach ist eine solche Schnittstelle angelegt worden. Ausgeschöpft sind die Möglichkeiten aber noch lange nicht, auch 25 Jahre nach der Bologna-Erklärung.
Besondere Merkmale des Bologna-Prozesses
Der Bologna-Prozess weist einige besondere Merkmale auf, die vielfach unverstanden sind und immer wieder zu Missverständnissen geführt haben:
Angetrieben durch eine Serie rechtlich nicht bindender internationaler Absichtserklärungen nationaler Ministerinnen und Minister aus den Bereichen Bildung und Wissenschaft (in Deutschland auch der Bundesländer), entfaltete er gleichwohl eine hohe Bindungswirkung und Dynamik, die gerade durch die eigentümliche Mischung aus Freiwilligkeit und pfadabhängigen Prozessen ermöglicht wurde.
Harmonisierung statt Standardisierung
Bewusst außerhalb des Rahmens der Europäischen Union initiiert, verzichteten die Initiatoren absichtlich auf Top-down-Regulierung und setzten statt einer Standardisierung von Strukturen auf eine Harmonisierung im Sinne einer graduellen Annäherung der Systeme. Dabei wurde in Kauf genommen, dass es dadurch – gerade bei zentralen Aspekten wie der Dauer des ersten und zweiten Studienabschlusses, den Modulgrößen oder der Gliederung des akademischen Jahres – nicht zu einer Angleichung, sondern eben nur zu einer Annäherung kam. Wie leicht und wie effektiv wäre es aus technokratischer Sicht gewesen, diese Aspekte zentral zu regeln, aber dies wäre eben nicht vereinbar gewesen mit der Bildungshoheit der teilnehmenden Nationalstaaten und den ausgeprägten, tief in die Studienstrukturen eingravierten kulturellen Besonderheiten ihrer Hochschulsysteme, die niemand antasten wollte.
Informelle Bindungswirkung
Insofern hatten die Initiatoren bewusst auf die informelle Bindungswirkung eines formal freiwilligen Prozesses gesetzt. Entsprechend waren die Anpassungsprozesse in den unterschiedlichen Teilnehmerstaaten im hohen Maße von Pfadabhängigkeiten geprägt. Wahrgenommene Trends entfalteten normative Wirkung, wie bei der Etablierung eines in den Bologna-Dokumenten so nicht festgelegten dreijährigen Bachelor- und darauf folgenden zweijährigen Masterstudiengangs.
Große Anziehungskraft
Gleichzeitig entfaltete der Bologna-Prozess eine so große Anziehungskraft, dass die Anzahl der Unterzeichnerstaaten von den ursprünglich vier Initiatoren der Vorläufererklärung an der Sorbonne 1998 (Frankreich, Deutschland, Italien und das Vereinigte Königreich) auf heute 49 angewachsen ist. Der so entstehende Europäische Hochschulraum reicht auch geografisch weit über die Europäische Union hinaus und umfasst heute sämtliche Mitglieder des Europarats bis auf Monaco. Belarus war das einzige Land, das ausnahmsweise aufgenommen wurde, ohne Mitglied des Europarats und Unterzeichner der Europäischen Kulturkonvention zu sein. Belarus und Russland wurden im Frühjahr 2022 infolge der russischen Invasion der Ukraine wieder ausgeschlossen.
Agenda ein "moving target"
Darüber hinaus war die Agenda des Bologna-Prozesses selbst ein "moving target", das sich im zunächst zweijährigen, später großräumigeren Rhythmus der Bologna-Folgekonferenzen stetig weiterentwickelte, indem schon früh die Tradition etabliert wurde, dem ambitionierten Zielkatalog mit jeder Folgekonferenz weitere Absichtserklärungen hinzuzufügen, die immer umfassenderen Charakter annahmen, wie gegen Ende die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit.
Mehrere klassische Zielkonflikte – wie zwischen kultureller Vielfalt und Vergleichbarkeit, zwischen Wettbewerb und Kooperation – wurden in der Bologna-Erklärung und ihren Folgedeklarationen nicht aufgelöst, sondern stehen gelassen und ließen breite Interpretationsspielräume zu.
Selektiv zu bedienen
Dies schuf Raum für Akteure in den nationalen Hochschulsystemen, sich der internationalen Agenda des Bologna-Prozesses durchaus selektiv zu bedienen, um Veränderungsdruck in den Bereichen zu kreieren, die ihnen besonders wichtig waren. Sie gaben dabei verschiedenen Elementen der europäischen "declaration of intent" ihre jeweils eigene Betonung und Interpretation. Umgekehrt konnten Reformgegner Mythen von einer angeblich absichtlichen Ökonomisierung des Hochschulsystems mithilfe des Bologna-Prozesses verbreiten.
Insofern basieren Vorstellungen einer etwaigen "Implementierung von Bologna-Verpflichtungen" auf irrigen Annahmen. Ein de facto verpflichtender Charakter für die Hochschulen wurde erst durch die jeweilige Umsetzung in nationale – beziehungsweise in Deutschland länderspezifische – Vorgaben erreicht.
Schwierige politische Willensbildungsprozesse
Die Anpassungen der überlieferten Studienstrukturen und Studienkulturen mussten in den einzelnen Teilnehmerstaaten in schwierigen politischen Willensbildungsprozessen zwischen den jeweiligen hochschulpolitischen Akteuren ausgehandelt werden, die sich je nach Verfasstheit der nationalen Hochschulgovernance stark unterschieden. Dabei dominierte die Innensicht; der Blick auf die gleichzeitigen Reformbemühungen der europäischen Nachbarn – geschweige denn auf den in Entstehung begriffenen gemeinsamen Europäischen Hochschulraum – ging nur zu oft verloren.
Dieser Blick wurde erschwert dadurch, dass es bis auf die Trends Reports der "European University Association" (EUA) keine öffentliche Finanzierung für eine umfassende empirische – geschweige denn wissenschaftliche – Begleitung der umfassenden parallelen Reformprozesse in nunmehr 49 teilnehmenden Hochschulsystemen gab – und auch bis heute nicht gibt.
Konvergenz durch Problemdruck
Die Frage nach der Konvergenz der europäischen Hochschulsysteme im Zuge des Bologna-Prozesses kann daher auch nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Vorhandene Evidenz spricht dafür, dass es ähnlicher Problemdruck war, der die verschiedenen europäischen Hochschulsysteme zu ähnlichen Reformen veranlasste und die Systeme in eine ähnliche Richtung weiterentwickeln ließ. Zu diesem Problemdruck trugen eine steigende Studienberechtigtenquote mit damals steigenden Studierendenzahlen, hohe Studienabbrecherzahlen, der Ruf nach einer stärkeren Arbeitsmarktrelevanz von Studienabschlüssen und die Sorge um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulsysteme bei.
Während die Annäherung der Studienstrukturen im Mittelpunkt des Bologna-Prozesses stand, kam es im Zuge der Reformen zu einem weit darüber hinausgehenden Wandel der europäischen Hochschulsysteme, der sich bis zur Finanzierung und Governance von Studiengängen, dem Verhältnis der Hochschularten, von Hochschule und Berufsbildung sowie von Hochschule und Arbeitsmarkt erstreckt – und der nicht zuletzt auch die Art zu studieren veränderte.
Bachelor und Master
Im internationalen Vergleich zeichnete sich Deutschland durch eine vergleichsweise zögerliche nationale Politikformulierung zu den Bologna-Zielen aus. Während die Möglichkeit zur versuchsweisen Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen den Hochschulen schon im Hochschulrahmengesetz (HRG) 1998, also im Vorfeld der Bologna-Erklärung, eingeräumt wurde, blieben die neuen Abschlüsse noch im HRG 2002 optional.
Es überwog die Idee, es dem "Markt" zu überlassen, welche Studienabschlüsse sich durchsetzen würden. In manchen Bundesländern wurden die traditionellen und die neuen Bachelor- und Masterabschlüsse noch bis 2010 parallel geführt; Jura und Medizin sind bis heute weitestgehend ausgenommen geblieben.
Claude Allègre hatte damals insbesondere Spitzenstudierende mit Bachelorabschluss aus dem asiatischen Raum im Blick und das Ziel, diese anzuziehen und ihre Talente für die europäischen Forschungs- und Innovationssysteme nutzbar zu machen. Das Potenzial, diese Schnittstelle auch für unkomplizierte Studierendenmobilität zu nutzen – innerhalb von und zwischen Hochschulsystemen Europas, aber auch zwischen Fachrichtungen –, ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.
Wer sich nach drei Jahren Studium umorientieren möchte, muss sein Studium nicht abbrechen, sondern hat nach dem Bachelorabschluss vielfältige Möglichkeiten der fachlichen Ergänzung, des Aufbaus oder des Spurwechsels. Wer relativ schnell in den Arbeitsmarkt eintreten möchte, kann dies in vielen Bereichen mit einem Bachelorabschluss tun – und nach einigen Jahren Berufserfahrung für einen Master an eine Hochschule zurückkehren.
All diese Möglichkeiten vollumfänglich zu verwirklichen, verlangt aber auch von den Hochschulen den Ausbau entsprechender (inter- und transdisziplinärer sowie weiterbildender) Studienangebote und einer ganzheitlicheren Kompetenzbeurteilung beim Zugang zum Master.
25 Jahre Bologna-Prozess: Schwerpunktthema
Die Juniausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt dem Bologna-Prozess nach dessem Start vor 25 Jahren.
Die Beiträge:
- Johanna Witte: Versandeter Prozess? Auf dem Weg zu einem Europäischen Hochschulraum
- Im Gespräch: Holger Burckhart
Treiber und Getriebene: Möglichkeiten, verpasste Chancen und Fehlentwicklungen der europäischen Hochschulreform - Aus der Redaktion: Ziele verfehlt? Aktuelle Zahlen zur Umsetzung der Bologna-Reform
- Im Gespräch: Claudia Noack | Volker Ladenthin
Freiheitsräume: Über das Studium vor und nach der Bologna-Reform
Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – einige Artikel sind auch bereits online zu lesen!
25 Jahre nach der Initiierung des Bologna-Prozesses überwiegt in vielen Staaten Europas wieder die Innenschau; nationale Bildungssysteme sind überwiegend mit sich selbst beschäftigt – natürlich mit positiven Ausnahmen wie den European Universities alliances und vielen weiteren internationalen Partnerschaften und Initiativen. Nach einer anfangs euphorischen Integration Mittel- und Osteuropas in den Bologna-Prozess und darüber mobilisierter Reformdynamiken versandete der Prozess im Bewusstsein der hochschulpolitischen Öffentlichkeit in immer vageren zusätzlichen Zielsetzungen, oftmals delegiert an für die Berichterstattung zum Reformfortschritt zuständige Ministerialbeamte. Gleichzeitig wurden Elemente des Bologna-Prozesses – Modularisierung und das ECTS und neue Formen der Qualitätssicherung – zum selbstverständlichen Bestandteil der neuen Studienwirklichkeit, ohne notwendigerweise eine spürbare Stärkung der europäischen Dimension des Studiums zu bewirken.
Die Schaffung eines von den Hochschulen getragenen gemeinsamen Europäischen Hochschulraums, der seinen Namen verdient, dieses visionäre Ziel ist 25 Jahre nach seiner Formulierung aktueller denn je.
Aktuelle Zahlen zur Umsetzung der Bologna-Reform
Aktuelle Zahlen der Bundesregierung aus dem "Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses 2021 bis 2024" zeigen, inwieweit an deutschen Hochschulen die Ziele umgesetzt werden konnten.
Spitzenwert bei internationalen Erstsemestern in Deutschland:
92.952 Personen kamen zum Semesterstart 2022/2023 aus dem Ausland zum Studieren nach Deutschland. Das entspricht einem Anteil von rund 23 Prozent. Vor etwa 25 Jahren waren es im Wintersemester 1998/1999 noch circa zehn Prozent weniger.
Wachsender Anteil ausländischer Studierender und Forschender:
Im Wintersemester 2022/2023 waren insgesamt knapp 458.000 internationale Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Das entspricht einem Anteil von 15,7 Prozent. Hinzu kommen 75.223 wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeitende mit ausländischer Staatsangehörigkeit (2021), darunter 3.700 internationale Professorinnen und Professoren.
Bachelor- und Masterstudiengänge überwiegen:
Bachelor- und Masterstudiengänge machen mittlerweile 91,2 Prozent der Studiengänge in Deutschland aus. Studiengänge, die in Deutschland bisher nicht zu einem Bachelor- oder Masterabschluss führen, sind insbesondere Jura, Medizin oder Pharmazie.
Anzahl der Auslandssemester zu niedrig
Das Ziel, eine höhere Mobilität deutscher Studierender zu erreichen – mindestens 50 Prozent sollten Auslandserfahrungen sammeln – ist verfehlt worden. Dieser Anteil liegt nur bei 23 Prozent.
(Auszug aus der Printausgabe 6/24)