Lücke in einem Bücherregal
dpa-Report

Standpunkt
"Bereinigte Lehre wäre reine Leere"

Hochschulen müssen Räume der Freiheit sein. Debatten und neue Perspektiven sind gefragt. Daran dürfe nicht gerüttelt werden, schreibt unsere Autorin.

Von Caroline Fetscher 15.01.2020

Als zwei Nachbarinnen im Treppenhaus ans Plaudern kamen, vor vielen Jahren, reagierte die eine verblüffend brüsk auf eine Bemerkung der anderen. Sie hatte den Spruch "Man tut, was man kann!" zitiert. Die andere fuhr sie an: "Das will ich nie wieder hören! Mit dem Satz hat mich mal jemand sehr verletzt!" Heute würde man von einem "Trigger" sprechen.

Zahllose gesellschaftliche Gruppen haben Begriffe wie "Trigger" für ihre Zwecke entdeckt, zunächst an Hochschulen im angelsächsischen Raum. So wurde etwa an der Universität Cambridge wegen Szenen sexueller Gewalt vor der Lektüre von Shakespeares "Titus Andronicus" gewarnt. Inzwischen fordern auch in der Bundesrepublik Studierende immer öfter "Trigger-Warnungen" für Seminare und Vorlesungen, um potentiell belastende Inhalte meiden oder filtern zu können.

Literatur, Philosophie, Geschichte, Strafrecht? Bitte ohne drastischen Stoff! Der Wunsch entwirft die Universität als "safe space", als sicheren Raum, wie ein Therapiezimmer. "Triggern" kann da schon der Name "Kant". Dessen Philosophie der Aufklärung mutiert für manche zur Zumutung: "Er war ein weißer Mann und vertrat rassistische Ansichten." Doch wo führt das hin – und wo kommt der "Trigger" überhaupt her?

China: Befreiung der Hochschulen von "westlicher Irrlehre"

Unter einem Trigger versteht die Traumaforschung die reflexhafte Reaktion auf Reize, die Traumatisches wachrufen, etwa wenn jemand, der Krieg erlebt hat, beim Silvesterfeuerwerk in Panik gerät. Entkoppelt man den Begriff vom klinischen Kontext, wandelt er sich zum beliebigen Argument – und verharmlost schweres, psychisches Leiden. Wie die Nachbarin im Hausflur zeigte, kann fast alles unangenehme Erinnerung wecken – ein Spruch, ein Geruch, ein Bild, ein Geräusch. Nach solcher Logik der Tabuisierung lässt sich in Kultur und Bildung ein Säuberungssturm entfachen, etwa gegen Kunstwerke, die Unbekleidete zeigen, oder gegen Texte, die sich mit Gewalt befassen.

Hatten Studierende 1968 gefordert, die rosarote Brille abzusetzen und sich der Realität zu stellen, scheint heute teils das Gegenteil hoch im Kurs. Doch bereinigte Lehre läuft auf reine Leere hinaus. China versucht sich daran. Während dort der Turbo-Kapitalismus tobt, sind seit 2014 Kommunismus-Kurse an Unis verpflichtend. Hochschulen sollen, von "westlicher Irrlehre" befreit, quasi zu "safe spaces" der Ideologie werden. "Studentische Informationsbeauftragte" notieren, wo Lehrende dagegen verstoßen. Angst geht um.

Konstitutiv für das Ethos demokratischer Hochschulen ist es, dass sie Räume der Freiheit sind, eine offene Sphäre des Wissenserwerbs, der Debatten und Entwürfe. Diese Räume zu provinzialisieren, sie zu überwachten Schrebergärten zu machen, wäre fatal, es käme der Sabotage gleich an einem der besten, schönsten Angebote der Demokratie.