Studierende mit einem Mentor in der Mitte eines Klassenraums
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Bildung
"Bildung braucht vor allem Bindung"

Sowohl analog als auch digital scheitert Bildung am Lustverlust. Wie bleiben Neugier und Lust am Lernen erhalten? Plädoyer für eine sinnliche Bildung.

Von Stephan A. Jansen 03.10.2019

Streitschriften zur Bildung haben die Qualität der Serie – mit vielen Cliffhangern und weniger Erfolg als Netflix. Streitschriften zur Digitalisierung der Bildung könnten polarisierender nicht sein, ob zu viel oder zu wenig – und am eigentlichen Thema der Bildung vorbei. Wenn Bildung scheitert, liegt es immer am Lustverlust – egal ob in analogen oder virtuellen Klassenräumen. Jedes Kind möchte sich bilden – und muss es naturgemäß. Neugier ist eine anthropologische und neurowissenschaftliche Konstante: Wenn unser Gehirn nicht andauernd neue Anregungen bekommt, werden wir lethargisch und depressiv. Daher ist das "Neue" – selbst im Bewusstsein von manipulativen Neuheits-Simulationen – noch immer der alte Evergreen der Marketing-Kommunikation. Wir wollen das Neue, wir brauchen es, wir begehren es, wir gieren danach.

"Bildung gelingt, wenn sie dem Bildenden sein Tempo, seine Tiefe und seine Medienpräferenz ermöglicht."

In meiner "Schönschrift" der Bildung wird sich wieder in das Gelingen verliebt und eine sinnliche Bildung für die Neugier in Zeiten der Digitalisierung ausgearbeitet: Bildung gelingt, wenn sie Selbst-Entfaltung ist. Bildung gelingt, wenn sie dem Menschen die natürliche Lust an der Neugier nicht dermaßen professionell verhindert, sondern sie fördert. Bildung gelingt, wenn sie dem Bildenden sein Tempo, seine Tiefe und seine Medienpräferenz ermöglicht. Bildung gelingt aber – vor allem in Zeiten der Digitalisierung – durch Bindung. Denn alles andere können Alexa, Youtube, Tedtalks, Gamefication und sonstige non-formale digitale Inhalte.

Bindung ist Voraussetzung für das Noch-Nicht-Wissbare

Das Kind, das das (für ihn beziehungsweise sie) Neue zu lernen beginnt, hat keinen festen Boden unter den Füßen, sondern Bindungen, die ihm Halt geben. Hilde Domins Zeilen "Ich setzte den Fuß in die Luft, / und sie trug" benennen beim Kind keinen Ausnahmezustand, sondern eine elementare Erfahrung. Das Kind bewegt sich voller Zuversicht in der freien Luft des (Noch-)Nichtwissens, weil es von Hemmnissen wie dem Wunsch nach festem Boden unbelastet ist; weil es seinen Halt in den Personen hat, bei denen es sich geborgen fühlt.

Auf diese elementare Erfahrung baut gelingende Bildung in jeder Lebensphase auf. Dass Bildung Bindung ist, gilt auch für Schülerinnen, den "Auszubildenden", Studierende wie Doktorandinnen, Senioren-Studierenden bis hin zum Demenz-Erkrankten. Und es gilt nicht nur in die eine Richtung, sondern ebenso für diejenigen, die Bildung vermitteln beziehungsweise beim Sich-Bilden helfen sollen – vom Erzieher in der Kita über die Lehrerin bis zur Hochschuldozentin.

Machen wir einen kleinen Test: Können Sie sich an Momente der wirklich gelingenden, also wahrhaftig begeisternden Bildung in Ihrer eigenen Schul- oder Lehrzeit oder im Studium erinnern? An die Gänsehaut mit leichtem Wahnsinn des neuen "Sehvermögens"? Ich wage die These, dass es sich um Bildungs-Erlebnisse handelt, die Sie mit einer anderen Person, einem Gegenüber verbinden. Erlebnisse, die die Bindung zu einer inspirierenden Person zum Zentrum hatte, zu einer bisher ungekannten Riskanz im eigenen Denken. Personen, die im engeren Sinne Zu-Mutungen produzieren, provozieren, also hebammengleich die eigenen Gedanken zur Welt brachten.

Und dies belegen auch Alumni-Studien aus der Glücksforschung zur Frage, was nachhaltig glücksstiftend an dem Universitätsstudium war: Nicht das Prestige der Uni-Marke, nicht die überlegenen Theorien und Methoden, die sich in Praxis bewährt haben, sondern der Austausch mit inspirierenden Professorinnen und Dozenten, die ihre eigenen Fragen in die Seminare mitbrachten.

Forschende als Sidekicks statt Welterklärer

Der Schulmeister oder die Professorin, die scheinbar alles wissen, mögen uns imponieren. Viel stärkeren, nachhaltigeren Eindruck aber hinterlassen Lehrende, die selbst Fragen haben und diese auch offenlegen. Denn sie leben uns forschende Bildung vor. Und wo sie uns mitnehmen auf ihrem Weg des Fragens und uns damit zugleich auf unserem eigenen Weg des Fragens begleiten, entsteht die Art von Bindung, in der Bildung gelingt.

Eine sehr anregende Radikalisierung dieser Konstellation legt der französische Philosoph Jacques Rancière in Gestalt des "Maître ignorant", des "unwissenden Lehrmeisters", vor. Rancière schreibt über den exilierten Revolutionär Jean Joseph Jacotot, der im frühen 19. Jahrhundert "Panik im gelehrten Europa" verbreitete. Jacotot sollte Studenten der Universität Löwen Französisch beibringen, konnte selbst aber kein Niederländisch. Es gelang! "Lehren, worin man unwissend ist, bedeutet ganz einfach Fragen zu stellen dazu, worin man unwissend ist. Man braucht kein Wissen, um derartige Fragen zu stellen."  Der "unwissende Lehrmeister" tritt nicht als Besserwisser und Spielverderber, nicht als herablassender Welterklärer oder als trübe Emanation der Erziehungs-Bürokratie auf – sondern er stellt sich als "Sidekick" neben ihn.

Nicht für die Schule, für die Gesellschaft lernen wir

Der uns als "afrikanische Weisheit" überlieferte Spruch "Um ein Kind zu er­zie­hen, braucht es ein ganzes Dorf", bringt die soziale Dynamik von Bildung und Bindung auf den Punkt. Denn Bildung durch Bindung heißt zweierlei: dass die Selbst-Entfaltung im anspornenden Austausch gelingt; und dass sie den Schutz- oder Abschottungsraum der Bildungseinrichtungen überschreiten muss.

"Nicht für die Schule, sondern fürs Leben…" Ein Anspruch, der zum Spruch verkommen ist, weil er sich so wenig deckt mit der Wirklichkeit derer Institutionen, an denen er unermüdlich zum Besten gegeben wird.  Friedrich Nietzsche hatte bereits 1872 in seiner Baseler Vorlesungsreihe "Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten" das Studierendenleben außerhalb der Orte des maximalen Zuhörens (Audimax) klar beschrieben: "Wenn er (der Student) spricht, wenn er sieht, wenn er gesellig ist, wenn er Künste treibt, kurz, wenn er lebt, ist er selbständig, das heisst unabhängig von der Bildungsanstalt." Die Bindung im Innenraum des Bildungsprozesses muss einhergehen mit einer Bindung des Bildungsprozesses an die Außenwelt.

"Bildung gelingt nur als Zwillingspaar 'Privileg und Verantwortung'."

Denn indem wir unserer Neugier folgen, setzen wir den Fuß ja nicht in einen luftleeren Raum, sondern in die Luft der Welt, die uns umgibt. Bildung gelingt nur als Zwillingspaar "Privileg und Verantwortung"  und zeigt, dass Schüler und Hochschülerinnen Konzepte wie "service learning" oder "community based research" schätzen – bei denen man für andere lernt und forscht, also wirksames Wissen in Rückbindung zur Gesellschaft erzeugt.  

Was nach der Digitalisierung übrig bleibt

Man kann sieben – zwingend verbundene – Sinnespaare benennen, die man für gelingende Bildung besser beieinander haben sollte: Also den Eigen- und Gemeinschaftssinn, den Orientierungs- und Irritationssinn, den Realitätssinn und (Musilschen) Möglichkeitssinn, den Orts-, Körper- und Mediensinn, den Froh- und Wahnsinn wie den Freiheits- und Verantwortungssinn und den Gerechtigkeits- und Geschäftssinn. Und das vermittelt sich vermutlich nicht durch Algorithmen, Wikipedia, Videos und Spielen allein. Denn diese Sinnstiftung wird in einer neuen Arbeitsteilung zwischen digitalisierten Formaten einerseits und präsenten Bindungsformanten andererseits erfolgen, die uns befreien wird. Es braucht wohl in beiden Dimensionen – Digitalisierung wie Präsenz – etwas mehr Dramatisierungskompetenz als bisher. Aber das wird schon gelingen.

"Die Befreiung der Bildung" von Stephan A. Jansen mit Michael Ebmeyer, ist im Nicolai Verlag, Berlin, im Herbst 2018 erschienen.