Das Foto zeigt Gunther Hirschfelder, Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.

Standpunkt
Biografiedesign

Die Welt der Universität ist für Studienanfänger Neuland. Ihre Erwartungen mit denen der Alma mater zusammenzubringen fordert beide.

Von Gunther Hirschfelder 31.10.2018

Die jüngere Bildungsgeschichte kann man als Erfolgsgeschichte lesen. Nie gab es mehr Studierende, mehr Publikationen, mehr Universitäten. Sind wir etwa bildungshungriger geworden? Vielleicht. Aber es geht ja nicht nur um Bildung, sondern auch um Sozialkapital. Ein akademischer Abschluss verspricht immer noch Prestige und Ansehen. Zumindest aus der Perspektive der meisten Studierenden ist das logisch.

Wer aus bildungsfernerem Milieu stammt, kann schon mit einem Bachelor in seinem sozialen Nahbereich punkten; wer aus einem Akademikerhaushalt kommt, erfüllt zumindest die in ihn oder sie gesetzten Mindesterwartungen. Daher gehört das als obligatorisch wahrgenommene Studium heute zum Biografiedesign. Die Universität wird hier bisweilen zum Dienstleister degradiert, wo Studierende sich als Kunden und ihren Abschluss als Trophäe empfinden – eine logische Reaktion auf die subjektiv erlebten sozioökonomischen Bedrohungsszenarien der Gegenwart.

Zudem macht es die moderne Massenuniversität den Studierenden leicht: Sie nimmt fast alle auf, die über eine formale Zugangsberechtigung verfügen. Dann schicken wir sie allerdings ohne oder fast ohne Individualbetreuung ins Bologna-Labyrinth. Eine große Chance für jene, die auf ihr Studium vorbereitet sind, die Herzblut, Begabung und Fleiß mitbringen. Sie fühlen sich von Beginn an pudelwohl.

Nun hat die Politik seit den Reformen der alten BRD praktisch alle für bildungs- wie auch studierfähig erklärt und damit eine fast imperativische Leitperspektive entwickelt: Das Studium ist erste, andere Ausbildungen zweite Wahl. Folglich strömen auch jene an die Uni, die nach hektischer G8-Schulzeit mit Sorge in eine unsichere globale und faktisch neoliberale Zukunft blicken. Der berechtigte Anspruch, nach einer hinreichenden Orientierungsphase mit Gründlichkeit und Bedacht ein Studium zu absolvieren, gilt als naiv, denn rascher Erwerb von Leistungspunkten und Praktika sind en vogue.

Ein Umfeld, das vor allem jene überfordert, die ihr Abitur an einer durchschnittlichen Schule erlangt haben, die bereit sind, sich zu engagieren, wenn ihnen der Weg gewiesen wird, die aber keine außerordentlichen Begabungen im MINT-Bereich mitbringen, mithin die Masse. Sie entscheiden sich für die Geisteswissenschaften, oft auch für Recht oder Wirtschaft, hangeln sich von Semester zu Semester und sind frustriert, weil die Curricula für Grundfragen keinen Raum bieten: Welche Aufgabe hat die Wissenschaft in der modernen Gesellschaft? Was soll sie leisten, was diskutieren und was verhindern? In welcher Welt wollen oder sollen wir leben? Möchte man lieber reich werden oder die Welt verändern (Standardantwort der Studierenden: „beides“)?

Gerade auch diese Studierenden fair aufzunehmen, das ist die Aufgabe, die Gesellschaft und Politik der Universität stellen. Dass in der Lehre bisweilen nur eine begrenzte Schnittmenge zwischen wissenschaftlichem Verständnis und inhaltlichem Bedürfnis hergestellt werden kann, weil Oberstufenstoff nachzuholen ist, muss mit Studierenden kommuniziert werden – aber die Situation fundamental zu verbessern (nicht nur duch mehr Geld, sondern durch bessere Strukturen und mehr Dialog), das muss die Universität von der Politik und der Gesellschaft einfordern – nachdrücklich, selbstbewusst und unaufgeregt. Denn Deutschland mit weniger Wissenschaft und weniger Studierenden wäre die schlechteste aller Lösungen.