Zwei junge Ingenieure arbeiten mit einem Touchscreen
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Studiengestaltung
Das Ingenieurwesen stellt sich neu auf

Das Studienangebot in den Ingenieurwissenschaften wird immer differenzierter. Gerhard Müller berichtet, welche Überlegungen die Hochschulen leiten.

Von Katrin Schmermund 28.02.2019

Forschung & Lehre: Herr Professor Müller, welche Fähigkeiten müssen Ingenieurinnen und Ingenieure heutzutage mitbringen?

Gerhard Müller: Die Ingenieurwissenschaften waren bislang stark an Produkten und Produktionsmethoden orientiert, die Ausbildung hatte konkrete Anwendungsbereiche im Fokus. Nehmen wir die Mobilität: Die Bauingenieurinnen und Bauingenieure kümmerten sich um die bauliche Infrastruktur, die Maschineningenieurinnen und Maschineningenieure um die Fahr- und Flugzeuge. Mittlerweile sind die Ingenieurwissenschaften immer interdisziplinärer geworden. Zum einen liegt das an den Entwicklungen in der Digitalisierung und der Informationstechnologie, die die Ingenieurwissenschaften immer stärker mit der Informatik verschmelzen lassen. Zum anderen wird immer deutlicher, wie wichtig die Zusammenarbeit mit Disziplinen wie den Geistes- und Sozialwissenschaften ist. Um nachhaltige gesellschaftliche Lösungen zu entwickeln, müssen wir breiter denken. Das bedeutet etwa für die Weiterentwicklung der Mobilität, die Perspektive hin zur übergeordneten Frage zu verschieben, wie das menschliche Bedürfnis nach Mobilität mit den heutigen technischen Möglichkeiten optimal erfüllt werden kann.

Ingenieurwissenschaften – die drei klassischen Disziplinen

  • Bauingenieurwesen

  • Maschinenbau

  • Elektrotechnik

 

Anzahl der aktuell angebotenen Studiengänge : 3694

  • Bachelor: 1936

  • Master: 1686

 

Quelle: HRK-Hochschulkompass

F&L: Wie zeigt sich das in der Studiengestaltung?

Gerhard Müller: Wir haben sowohl die Studienangebote als auch die Lehrformate interdisziplinärer gestaltet. Beispiele sind die Studiengänge "Medizintechnik und Assistenzsysteme", "Communication Engineering" oder "Green Electronics", die auf gesellschaftliche Entwicklungen und spezifische Wechselwirkungen zugeschnitten sind. Für eine stärkere Einbindung der Sozial- und Politikwissenschaften haben wir unter anderem das "Munich Center for Technology in Society" gegründet. An das Center sind zwei Master-Studiengänge gekoppelt: "Science and Technology Studies", und "Responsibility in Science, Engineering and Technology".

F&L: Wie setzen Sie die Interdisziplinarität in der Lehre um?

Gerhard Müller: Dafür gibt es ganz unterschiedliche Formate. Am zielführendsten ist das projektbasierte Lernen. Studierende müssen beispielsweise ein Großprojekt mit seinen komplexen Wechselwirkungen mit der Umwelt und der Gesellschaft planen und dabei politische oder auch ethische Faktoren mitberücksichtigen. Gute ergänzende Formate zum regulären Studienbetrieb sind Sommerschulen oder mit Blick auf Informatik-Kenntnisse Hackathons, bei denen Studierende auf spielerische Weise lernen können. Besonders talentierte und engagierte Studierende können sich für die "TUM Junge Akademie" bewerben: Im Austausch mit Mentorinnen und Mentoren soll dieses Förderprogramm Studierende schon früh an knifflige Fragestellungen heranführen, die nur über interdisziplinäre Teams behandelt werden können, und sie lernen, sich mit anderen Fachkulturen, Denkmustern und Fachsprachen auseinanderzusetzen.

Prof. Dr. Gerhard Müller
Professor Dr. Gerhard Müller ist Inhaber des Lehrstuhls für Baumechanik an der Technischen Universität München. privat

F&L: Gibt es andere Länder, an denen Sie sich in der Gestaltung der Lehrangebote orientieren?

Gerhard Müller: Natürlich schauen wir laufend, was in anderen Ländern passiert. Ein Land hervorheben kann ich nicht. Wir sammeln "Best-Practice-Beispiele", eine 1:1-Übernahme bringt selten etwas; dafür ist jedes Land zu verschieden. Grundsätzlich kann man sagen, dass diejenigen in der Entwicklung neuer Formate erfolgreich sind, die sich trauen, tradierte Wege zu hinterfragen und weiterzuentwickeln oder wo nötig komplett zu verlassen. Oft stecken wir in engen Machbarkeitsrahmen fest, zum Beispiel durch Fachqualifikationsrahmen oder enge juristische Vorgaben bei der Gestaltung von Studienangeboten, die mit der Entwicklung der Disziplinen nicht Schritt halten. Gegen unnötige Einschränkungen müssen wir arbeiten.

F&L: Bleibt bei der interdisziplinären Ausrichtung denn noch genug Zeit für die klassischen ingenieurwissenschaftlichen Grundlagen?

Gerhard Müller: Auf jeden Fall. Grundlagen einer ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung wie höhere Mathematik, die naturwissenschaftlichen Fächer und die Kernelemente der Disziplin müssen zwingend fest im Bachelorcurriculum verankert sein. Darüber hinaus bietet das Masterstudium vielfältige Möglichkeiten der fachlichen Spezialisierung. Gleichzeitig muss es den Hochschulen gelingen, Studierenden Einblicke in andere Disziplinen zu vermitteln und sie darauf vorzubereiten, bereichs- und fächerübergreifend zusammenzuarbeiten. Die spezifischen Talente der Studierenden sollten sie dabei identifizieren und fördern. Wir brauchen sowohl diejenige, die sich begeistert in die Lösung technischer Probleme stürzt, als auch denjenigen, der für die Moderation technikgetriebener Veränderungsprozesse in die Gesellschaft sorgt. Eine solch individualisierte Ausbildung ist durch digital unterstützte Methoden wie "blended learning" als Ergänzung zu klassischen Lehrformaten gut möglich.

F&L: Viele Studierende brechen das Studium schon nach kurzer Zeit wieder ab. Mit einem "Eignungsfeststellungsverfahren" wollen Sie das an der TUM verhindern – was wird dabei getestet?

Gerhard Müller: Wir stellen dabei einzelne fachliche Fragen, z.B. um zu sehen, ob Bewerberinnen und Bewerber abstrakt denken können oder ein räumliches Vorstellungsvermögen haben. Grundsätzlich wollen wir aber auch wissen, ob sie sich ernsthaft mit dem Studienfach auseinandergesetzt haben. Das Studium muss von ehrlichem Interesse getragen sein. Seit der Einführung dieser Verfahren haben wir deutlich niedrigere Abbruchquoten als andere Hochschulen, aber ich will nicht von Quoten sprechen – es geht darum zu verhindern, dass junge Menschen erst wertvolle Zeit investieren, um dann festzustellen, dass sie eigentlich nicht dem nachgehen, was sie interessiert und motiviert.

Abbruchquoten in den Ingenieurwissenschaften

Bachelor: 35 Prozent (Durchschnitt aller Fächer: 32 Prozent)

Master: 15 Prozent (Durchschnitt aller Fächer: 19 Prozent)

Quelle: DZHW (2018)

F&L: Woran hapert es, dass trotz der zugeschnittenen Angebote und dem Bewerben der MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik in Schulen händeringend nach  Ingenieurinnen und Ingenieuren gesucht wird?

Gerhard Müller: Das grundlegende Problem ist in meinen Augen, wie in anderen Disziplinen auch, der demografische Wandel. Wenn nun eine Generation in die Arbeitswelt startet, die halb so groß ist wie diejenige, die in den Ruhestand geht, ist es logisch, dass Fachkräfte fehlen. Ansonsten sind wir auf einem guten Weg, den wir weiter verfolgen müssen. Wir müssen junge Menschen aktiv über Ingenieurwissenschaften informieren, weil in der Gesellschaft noch immer ein Bild vorherrscht, das der Wertschöpfung unserer Disziplinen nicht gerecht wird. Ohne Ingenieurinnen und Ingenieure würde in der Gesellschaft von Wasser über Energie bis zum Verkehr kaum etwas funktionieren. Die Selbstverständlichkeit der dahinterliegenden komplizierten technischen Systeme lässt die Bedeutung des Ingenieurwesens mitunter aus dem Blickfeld rücken. Gleichzeitig gilt es, weiter daran zu arbeiten, Studiengänge interessant und praxisrelevant zu gestalten. Diejenigen, die sich damit am besten auseinandersetzen, werden auch am meisten Erfolg haben, junge Menschen anzuziehen – auch aus dem Ausland.

F&L: …weil der Fachkräftemangel sonst nicht in den Griff zu bekommen ist?

Gerhard Müller: Genau. Selbst wenn künftige Generationen wieder mehr Kinder bekommen sollten: Deutschland ist stark exportabhängig. Die Ingenieurwissenschaften werden immer auf internationale Arbeitskräfte sowie starke weltweite Kooperationen und Botschafter in der Welt angewiesen sein. Wir müssen uns weltoffen zeigen. Die zunehmende Zahl an englischsprachigen Programmen erleichtert auch internationalen Bewerberinnen und Bewerben den Zugang zu unserem Hochschulsystem und unserem Arbeitsmarkt.

F&L: Gerade die Technik spielt in der Schule meist keine große Rolle. Müsste sich das aus ihrer Sicht ändern?

Gerhard Müller: Das würde ich nicht sagen, nein. Ich bin der Meinung, dass es richtig ist, in den Schulen für eine solide Grundausbildung in der Mathematik und den Naturwissenschaften zu sorgen. Man darf nicht unterschätzen, welche Bedeutung das abstrakte Denken für die spätere Entwicklung hat. Das sollte nicht zugunsten von Anwendungswissen für bestimmte Bereiche vernachlässigt werden. Die Informatik ist sicher ein Themenfeld, bei dem man in den schulischen Curricula nachjustieren muss. Das sehen wir auch an der Nachfrage nach Studiengängen, die sich an der Schnittstelle zwischen Ingenieurwissenschaften und Informatik bewegen. Junge Menschen interessieren sich dafür und erkennen, dass es ein wichtiges Querschnittsthema ist.

F&L: Eine Schieflage besteht noch immer zwischen Männern und Frauen. Gibt es bei den neuen Studiengängen solche, von denen sich vor allem Studentinnen angesprochen fühlen?

Gerhard Müller: Das ist zum Beispiel beim Umweltingenieurwesen der Fall, das sich aus dem Bauingenieurwesen entwickelt hat. Der Frauenanteil ist in diesem Studiengang doppelt so hoch wie bei anderen Lehrangeboten. Vielleicht auch aufgrund des Perspektivwechsels, weg vom Produkt "Bau" hin zur Zielsetzung und Herausforderung "Umwelt". Trotzdem haben wir weiterhin das Problem, dass Frauen häufig ein falsches Bild vermittelt wird. Film und Fernsehen leisten hier ihren Beitrag: Die Disziplin des Bauingenieurs symbolisiert oft noch immer der kräftige Mann auf dem Gerüst oder an der großen Betonmischmaschine. Mit solchen Stereotypen müssen wir aufräumen. Wir haben beispielsweise ein Programm aufgelegt, bei dem Schülerinnen und Schüler ein halbes Jahr lang eine Studentin oder einen Studenten im Uni-Alltag begleiten können. Dadurch werden Ingenieurstudentinnen zu ganz konkreten Vorbildern.