KI-Zugänge
Die KI-Pioniere sitzen in Niedersachsen
Die Hochschule München gilt als Vorreiter beim Verteilen von Werkzeugen auf Basis generativer Künstlicher Intelligenz (KI) an Forschende und Studierende. Schon vor einem Jahr stellte die Hochschule das "neue Wunderwerkzeug" ChatGPT (generative pre-trained transformer) zum Schreiben von Haus- und Examensarbeiten zur Verfügung – und das gratis. Am 30. Juli 2024 dann der Schreck: Die Hochschule schloss den Zugang zu ChatGPT. Der Grund: Es wurde zu teuer, die KI umsonst anzubieten.
Die Vollbremsung in München ist bezeichnend für den Umgang mit großen Sprachmodellen – Large Language Models (LLM) – an Deutschlands Hochschulen. Bislang gibt es viele kleine Projekte, aber keinen bundesweiten niedrigschwelligen Zugang zu LLM für Studierende. Die Hochschulrektorenkonferenz hat laut Anfrage keinen Überblick. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fühlt sich nicht zuständig, wie eine Sprecherin mitteilte. Und der quirlige KI-Campus, eine Lernplattform für Künstliche Intelligenz, bietet zwar eine Vielzahl kostenloser Fortbildungen und kollaborativer Workshops. Aber eigene KI-Zugänge – das kann das Projekt, das vom BMBF gefördert und vom Stifterverband sowie zahlreichen weiteren Partnern entwickelt wird, nicht leisten.
KI-Pioniere in Niedersachsen
Die Hochschulen sind von einer Grundversorgung ihrer knapp 3,5 Millionen Forschenden und Studierenden mit generativer KI weit entfernt. Wovon die Academia zehrt, sind drei Projekte in Niedersachsen, wie eine Recherche für Forschung & Lehre zeigt. Sie sind die derzeit wichtigsten Adressen für KI-Zugänge deutscher Hochschulen: das "KI-Servicezentrum für sensible und kritische Infrastrukturen", kurz KISSKI, in Göttingen; die Kunsthochschule HAWK in Hildesheim, Holzminden und Göttingen; schließlich ein privates Modell namens Educa-AI, das de facto eine Ausgründung aus den Hochschulen Göttingen und Clausthal-Zellerfeld ist. Kurz: Die Chief Information Officers (CIO) der deutschen Hochschulen sind alle in Niedersachsen.
Diese drei Projekte bieten für ganz Deutschland direkte (teils kostenlose) Zugänge zu verschiedenen LLM (KISSKI), implementierbare Interfaces (HAWK) oder Einbettungen in Lernmanagementsysteme wie Moodle (Educa) an. Alle anderen Projekte, etwa der Versuch, ein bwGPT für Baden-Württemberg zu bauen, das BayernGPT oder das KI-Projekt "KI:edu.nrw" mit Sitz in Bochum, kooperieren entweder mit den Niedersachsen oder sind von real nutzbaren KI-Zugängen noch weit entfernt.
Ein Blick in die niedersächsischen Labore offenbart ein deutsches Dilemma: Es gibt an den Hochschulen nicht wenige KI-Pioniere. Aber die von Gremien geprägte Organisation Hochschule bremst die Absorption der Technologie.
Ein Prototyp ersetzt 100 Gremiensitzungen
"Ein Prototyp ersetzt Ihnen 100 Gremiensitzungen", nennt Stefan Wölwer vom Fachbereich Gestaltung der "Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst" (HAWK) den Reiz des "einfach machen". Es ist die Grundidee des "Interaction Design Lab", das Wölwer gegründet hat. Dort ist jene KI-Schnittstelle entstanden, die jede Hochschule kopieren kann.
Gleichzeitig beobachten Mitarbeitende aller drei Pilotprojekte Brems-Effekte: "Es muss halt alles bürokratisch seinen Weg gehen", sagt einer der KI-Mitarbeiter. "Die Leute kommen nicht voran, obwohl sie seit drei oder vier Monaten an der Implementierung arbeiten – weil so viele Gremien es erst absegnen müssen."
Julian Kunkel leitet das Projekt KISSKI, das vom Hochleistungsrechenzentrum der Uni Göttingen und der Max-Planck-Gesellschaft betrieben wird. "Wir hatten ziemlich schnell einen Prototypen – aber es hat ein halbes Jahr gedauert, bis die Datenschutzfragen und die IT-Sicherheit geklärt waren", berichtet der Professor für Hochleistungsrechnen. "Universitäten sind typischerweise langsam in der Adaption von neuen Technologien, weil es viele Organe und eine komplizierte Steuerung gibt."
"Wir hatten ziemlich schnell einen Prototypen – aber es hat ein halbes Jahr gedauert, bis die Datenschutzfragen und die IT-Sicherheit geklärt waren."
Professor Julian Kunkel, KISSKI-Projektleiter
Alle befragten KI-Pioniere spüren zwei Seelen in ihrer Brust. Sie finden die Einbeziehung aller Mitglieder der Hochschulen über ihre Organe wichtig. Aber sie weisen zugleich darauf hin, dass die rasante Entwicklungsgeschwindigkeit der KI auf Gremien keine Rücksicht nehme. "Niemand von uns hat erwartet, dass die Leistungsfähigkeit der großen Sprachmodelle so schnell steigen würde", sagt etwa Julian Kunkel, der das größte der KI-Projekte leitet. Große Sprachmodelle, anfangs als technische Spielerei gesehen, gelten inzwischen als kritische Infrastruktur für die Hochschulen im Land des Exportweltmeisters.
13.000 versus 100 Millionen Einzelnutzer
Kein anderes digitales Tool erreichte so schnell so viele Menschen wie ChatGPT –100 Millionen in drei Monaten. An deutschen Unis gleicht der Prozess eher einem langen ruhigen Fluss. Das KISSKI verzeichnet 130 institutionelle Kunden, dazu gehören 50 Universitäten, der Rest sind Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Die HAWK wiederum zählt über 30 Hochschulen, die ihr Interface bei GitHub heruntergeladen haben. Sie kommen ebenfalls aus ganz Deutschland.
Nimmt man die Gesamtzahlen zum Maßstab, erkennt man, wie lang der Weg noch ist. 13.000 Einzelnutzerinnen und Einzelnutzer registriert etwa KISSKI – bei drei Millionen Studierenden. Studierende müssen sich die neue Technologie also selbst kaufen. Zwei Drittel der Studentinnen und Studenten sagen in Umfragen, dass sie das Tool bereits fürs Studium nutzen. Sie geben sich dabei als rechtstreue Bürger. Im persönlichen Gespräch wird klar, dass sie die fixen Textgeneratoren für so ziemlich jeden Schreib- und Recherchevorgang einsetzen. An vielen Hochschulen ohne jede Regel, geben vier von zehn Studierenden an.
"Auch didaktisch verändert sich viel durch generative KI."
Vincent Timm, Leiter Interaction Lab, HAWK
Wie problematisch das ist, weiß Vincent Timm zu berichten. Er leitet das Interaction Lab der HAWK. In den Hochschulen reiße die KI alle Dämme ein. Lernformate, Prüfungen, Technologie – alles wird auf den Kopf gestellt. "Auch didaktisch verändert sich viel durch generative KI", erzählt Timm, der sich vor allem nach Feierabend um die KI kümmert. Alle wüssten, die Prüfungsformen müssten sich ändern. Aber wie genau, das wisse keiner. Timm warnt davor, sich auf dem Schreiben von KI-Leitfäden auszuruhen. Die guten und die kritischen Folgen der Einführung, sagt er, "findet man nur im Prozess raus, wenn man die Sprachmodelle konkret implementiert und umsetzt. Nur theoretisch darüber zu reden – das macht keinen Sinn."
BMBF: Programm "Digitale Hochschule" gestrichen
Die Politik erweckt derweil nicht den Anschein, als habe das Thema Priorität. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte zwar gerade, er wolle mehr Geld für Bildung und Digitalisierung ausgeben. Seine Parteifreundin und Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger hat er damit offenbar nicht erreicht. Ein Bundesprogramm "Digitale Hochschule", im Koalitionsvertrag versprochen, wurde gestrichen. Auch im KI-Aktionsplan von Stark-Watzinger findet sich kein Hinweis auf die Bereitstellung generativer KI für alle Forschenden und Studierenden – von einem großen Forschungs- und Bildungs-LLM mit kuratierten Inhalten ganz zu schweigen.
Vincent Timm macht deutlich, wie wichtig die Geldfrage bei generativer KI ist. "Keine Hochschule in Deutschland, außer vielleicht die TU München oder die RWTH Aachen, hat die finanziellen Mittel, um Forschenden und Studierenden den Zugang zu dieser kritischen Technologie zu ermöglichen."
Florian Rampelt vom KI-Campus ist ein stets fröhlicher Manager von Netzwerken der Hochschul-Digitalisierung. Der universitäre Schlendrian mit der Schlüsseltechnologie LLM macht ihn nachdenklich. "Es ist eine Ressourcenfrage", sagt Rampelt. "Wenn wir den Kreativpool der Republik, nämlich drei Millionen Studierende, endlich mit großen Sprachmodellen spielen und experimentieren lassen wollen, dann müssen wir Geld in die Hand nehmen – und die Tools freigeben."
Die Hochschule München (HSM) wird den Zugang zu großen Sprachmodellen für ihre Studierenden übrigens nach den Semesterferien wieder öffnen. Dann allerdings mit der Bitte, ChatGPT & Co nur mit akademischen Fragen zu konfrontieren. Wer sich nicht daran hält, wird gedrosselt.
Und woher hat die HSM ihre Schnittstelle? Von Vincent Timm, einem der Feierabend-CIOs der deutschen Hochschulen.