Eine verknotete Leitung im Vordergrund und eine Weltkarte im Hintergrund
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Austauschstudenten in Deutschland
No idea what the professor expects

Die deutsche Hochschullehre hat von außen betrachtet eine Reihe höchst besonderer akademischer Praktiken. Das sollte in der Lehre bedacht werden.

Von Gundula Gwenn Hiller Ausgabe 5/17

Überraschenderweise wird selten diskutiert, welche Folgen die in vielen Studiengängen deutlich zugenommene kulturelle Diversität für den Lehr- und Prüfungsalltag hat. Dabei berichten Lehrende in entsprechenden Workshops von multiplen Problemstellungen, und Studien verweisen auf signifikante kulturelle Unterschiede von Lehr-Lernpraktiken. Diese haben manchmal negative Auswirkungen für alle Beteiligten: Während sie für Lehrende oft Stress oder Mehrarbeit bedeuten, kann bei internationalen Studierenden der Studienerfolg gefährdet sein.

Statistiken zeigen regelmäßig, dass deutlich mehr internationale als deutsche Studierende am hiesigen System scheitern. Dies ist ein gewichtiges Argument gegenüber dem Einwand, unterschiedliche Lehr-Lernpraktiken gebe es auch zwischen Fachkulturen, Hochschultypen und nicht zuletzt aufgrund individueller Dispositionen.

Deutschland: Wiege der ersten modernen Forschungsuniversität

Aus der Perspektive interkultureller Hochschulforschung stehen jedoch nationalspezifische wissenschaftliche Praktiken im Vordergrund, die – zumindest in Europa – auf die in der frühen Moderne entwickelten akademischen Modelle zurückgehen und bis heute fortbestehen. So gilt Deutschland als die Wiege der ersten modernen Forschungsuniversität. Deshalb weisen die hierzulande gängigen Lehr-Lernpraktiken andernorts unbekannte Eigenheiten auf, die auf ein spezifisches Verständnis von Studium und Lehre zurückzuführen sind.

Auch wenn man also in den einzelnen Bildungssystemen eine große Bandbreite an Lehr-Lernpraktiken findet, so lassen sich auf empirischer Basis Praxisfelder identifizieren, die auf unterschiedliche akademische Sozialisation in nationalen Lernkulturen zurückzuführen sind. Eine interkulturelle Analyse von Lehr-Lernpraktiken systematisiert diese mit Blick auf ihre Divergenzen und gibt gleichzeitig Aufschluss über unterschiedliche Bildungsideale, daraus resultierende Bewertungssysteme, aber auch wichtige Unterschiede in der Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden. Beispiele für häufig genannte Problemstellungen sind:

  • Hausarbeiten internationaler Studierender erfüllten besonders häufig "in keinster Weise Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens".
  • Lehrenden fällt auf, dass sie es bei Prüfungsleistungen internationaler Studierender oft mit "Plagiaten" zu tun haben.
  • Lehrende berichten von Unterrichtssituationen, in denen internationale Studierende sich nicht an den Diskussionen beteiligen.
  • Lehrende haben Ärger mit internationalen Studierenden, die die Benotung "unfair" finden, da die Kriterien nicht im Vorfeld kommuniziert wurden.
  • Lehrende erhalten E-Mails von internationalen Studierenden, deren Länge und Inhalte sie unangemessen finden.

 Solche Unterschiede lassen sich verstehen, wenn man Lernkulturen in Anlehnung an Bourdieu als soziale Felder begreift, die durch routinisierte soziale Praktiken strukturiert sind, welche, historisch bedingt und kulturspezifisch, weitgehend implizit bleiben. Eine praxeologische Analyse zielt darauf ab, das hochspezifische implizite Wissen innerhalb des sozialen Felds "universitäre Lehre" zu erschließen, mit dem Ziel, praktisches Wissen zu generieren. Die Ergebnisse können einerseits Lehrende zur Reflexion der eigenen und bestenfalls zu einem wohlwollenderen Verständnis anderer Praktiken anregen, andererseits direkt in die Entwicklung von hochschuldidaktischen Fortbildungen und Handreichungen einbezogen werden.

Umgang zwischen Lehrenden und Lernenden für ausländische Studierende ungewohnt

So kollidiert die deutsche Lehr-Lernkultur in vielen Aspekten mit den kommunikativen Routinen, Rollenerwartungen und Lerngewohnheiten internationaler Studierender: Kritische Diskussionen, wie sie – oft auf Augenhöhe – zwischen Lehrenden und Studierenden an deutschen Hochschulen stattfinden, sind für internationale Studierende schwer einzuordnen und oft auch einschüchternd. Die diskursive Wissensvermittlung in deutschen Seminaren ist für Studierende aus den allermeisten Bildungssystemen der Welt ungewohnt und stellt klassische Rollenverteilungen von Lehrenden und Studierenden in Frage. In vielen Lernkulturen, zum Beispiel auch west- und mitteleuropäischen, gehört es zur guten akademischen Praxis, von Professoren oder anderen Autoritäten vermitteltes Wissen zu reproduzieren.

Genau aus dieser Praxis heraus können Plagiatsproblematiken entstehen, die den Studierenden nicht bewusst und oft auch nicht verständlich sind. Auch das hohe Maß an Eigeninitiative, das hierzulande häufig verlangt wird, ist für viele internationale Studierende ungewohnt. Ihre Erwartung ist eher, dass Lehrende genaue Vorgaben machen, was sie erwarten bzw. was zu lernen ist, und dass sie engmaschiger betreuen, als dies im Allgemeinen in Deutschland der Fall ist.

Auch Erwartungen in Bezug auf Inhalte, die an Hochschulen vermittelt werden, können sehr unterschiedlich sein: Während in manchen akademischen Kulturen nach wie vor kanonisches Wissen vermittelt wird, lernen die Studierenden hierzulande in den meisten Fächern von Anfang an, analytisch zu denken, oft mit selbstgewählten Schwerpunkten und anhand von Einzelthemen. Heikel sind unterschiedliche Praktiken bei der Leistungsbewertung. So wird in manchen Hochschulkulturen explizit kommuniziert, welcher Stoff geprüft wird, was in anderen Kontexten, etwa in den deutschen Geisteswissenschaften als "extrem verschult" und als der akademischen Ausbildung nicht würdig angesehen wird.

Format "Hausarbeit" ist vielen unbekannt

Doch nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formaler Ebene ist internationalen Studierenden oft nicht klar, was von ihnen erwartet wird, etwa, was die "gute, alte Hausarbeit" angeht, die für sie in der Regel ein unbekanntes Format darstellt. Problematisch wird dies insbesondere, wenn Studierende schon in anderen Systemen akademisch sozialisiert wurden und denken, sie wüssten eigentlich, wie man zum Beispiel einen akademischen Text verfasst (etwa in ihrer Heimat erfolgsgewohnte französische Grande-Ecole-Studierende, die in Deutschland mit ihren Arbeiten durchfallen).

In interkulturellen Fortbildungen werden anhand von Case Studies Lösungsstrategien erarbeitet, um dieser Vielfalt konstruktiv zu begegnen. Dadurch entstehen Möglichkeiten, präventiv Stress durch interkulturelle Probleme zu vermeiden. Konkret kann es darum gehen, frühzeitig Erwartungen zu kommunizieren, vergleichbar den Syllabi in der angelsächsischen Hochschulkultur. Auch Hinweise auf Kontaktmöglichkeiten sind wichtig, denn erwiesenermaßen vermeiden viele internationale Studierende Sprechstundensituationen.

Andererseits gibt es didaktische Strategien, die Beteiligung oder Verständnissicherung fördern. So kann zum Beispiel gut begleitete Gruppenarbeit alle einbinden und die Differenzen untereinander für das gemeinsame Lernen fruchtbar machen. Nicht zuletzt führt erweitertes Wissen über andere Lernkulturen zu gelassenerem Umgang mit kultureller Diversität. Ein wichtiger Aha-Moment ist dabei für viele Lehrende zu erkennen, wie relativ und kulturgebunden das Konzept von "guter akademischer Praxis" ist.