Das Foto zeigt eine Studentin hinter einem Bücherstapel, die in die Kamera schaut.
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Literaturwissenschaften
Risiken und Nebenwirkungen

Belegen immer mehr Studierende Literaturwissenschaften, die kaum lesen? Der Autor ist davon überzeugt und formuliert einen Gewissensspiegel.

Von Wolfgang Braungart 16.03.2019

Seit vielen Jahren unterrichte ich Studierende der Literaturwissenschaft und der Germanistik und berate auch Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II. Ich glaube nicht, dass ich mich täusche: Mehr und mehr werden diese Fächer von Studierenden belegt, die keinerlei literarisch-ästhetische Interessen haben und die nur wenig und ungern lesen.

Die politisch gewollten und forcierten Veränderungen in der Lehrerausbildung leisten dem konsequent Vorschub. In NRW z.B. mussten sich bis 2016 möglicherweise erst 17 Jahre alte Abiturienten, der Schule noch nicht wirklich entronnen, schon festlegen, ob sie einmal Lehrer werden wollen. Dann hatten sie nämlich vor dem obligatorischen Orientierungspraktikum, das im ersten Studienjahr absolviert werden muss, ein Eignungsspraktikum mit Eignungsberatung an einer Schule abzuleisten. Das war in der Regel also vor dem Studium der Fall. Konkret hieß das: Im Juni/Juli bekamen sie ihr Abiturzeugnis, im August aber standen sie schon wieder in der Schule, nun als Praktikanten. Kein Wehrdienst, kein verbindliches soziales Jahr dazwischen. Keine Chance, zur Schulzeit etwas Abstand zu gewinnen. Aus der Schule in die Schule.

Inzwischen wurde dieses vorgelagerte Eignungspraktikum durch ein kombiniertes Eignungs- und Orientierungspraktikum ersetzt. Am Problem ändert sich damit nicht viel. Das Studium: eine Bildungsphase aus eigenem Recht? Das war vielleicht einmal. Jetzt ist es, gerade in den Lehramtsstudiengängen, nur noch Mittel zum Zweck. Das kann und wird nicht gut gehen.

Ein literaturwissenschaftlicher "Gewissensspiegel"

Der folgende literaturwissenschaftliche "Gewissensspiegel" ist Gebrauchsliteratur, hoffentlich mit Risiken und Nebenwirkungen. Geben Sie ihn ruhig weiter, wenn Sie Schülerinnen oder Schüler haben, die mit sechs oder sieben Punkten im Leistungskurs Deutsch und mit sehr eingeschränktem literarisch-ästhetischem Interesse glauben, für ein literaturwissenschaftliches Studium oder ein Germanistikstudium ‚auf Lehramt‘ reiche es schon noch.

1. Ist mir wirklich klar, dass die Literaturwissenschaft zuallererst die Wissenschaft von der Literatur ist?

2. Bin ich überhaupt bereit und willens, mich der Literatur auszusetzen und die damit verbundenen Anstrengungen auf mich zu nehmen? Will ich, kann ich lesen? Auch lange Texte? Auch Lyrik?

3. Suche ich vor allem Sicherheit, also: historische und biographische Zuordnungen, Ableitungen, allgemeine Strukturen? Liegt für mich alles literaturwissenschaftliche Heil in der ‚Epoche‘?

4. Oder will ich und kann ich literarische Individualität wahrnehmen und anerkennen? Kann ich auch das Schwierige, Abweisende und Besondere gelten lassen? Will ich mir für das Individuelle überhaupt Zeit nehmen? Will ich und kann ich mich auf andere Stimmen konzentrieren als auf meine eigene?

5. Kann ich die unvermeidliche Unsicherheit ästhetischer Erfahrung ertragen? Die Herausforderung, dass Begriffe nur annäherungsweise erfassen, was in der Begegnung mit einem Kunstwerk geschieht? Habe ich eine Ahnung davon, was das sein könnte: das Poetische? Macht es mich neugierig?

6. Will ich wahrnehmen, dass die Geschichte der Literatur durchaus erheblich länger dauert als meine eigene Lebensgeschichte und dass sie auch in mir fernen Zeiten und Epochen komplex ist? Oder genügt es mir z.B., auf ein Gedicht des 17. Jahrhunderts das Etikett ‚Vanitas, Memento Mori, Dreißigjähriger Krieg’ zu kleben oder ein Gedicht als ‚typisch romantisch‘ zu identifizieren?

7.  Halte ich aus, dass Literatur mich unweigerlich zur Selbstreflexion auffordert und mich sogar so herausfordern kann, dass ich mich auch mit mir selber auseinandersetzen muss und unsicher werde?
Nachbemerkung

Der suggestive, polemische Ton ist natürlich Absicht. Aber die Fragen sind sehr ernst gemeint. Es geht mir nicht um ritualisiertes Gejammer. Ich suche die Diskussion, die es aus meiner Sicht viel zu wenig gibt: die zwischen Lehrenden und Lernenden an Schule und Universität, die in der Universität selbst (Was sollen aus universitärer Sicht künftige Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer können?), die fachlich-inhaltliche Diskussion in den Schul-Kollegien, nicht nur die technisch-organisatorische, verwaltungsmäßige. (Von Wissenschaftspropädeutik – sie sollte einmal Aufgabe der Sekundarstufe II sein – wollen wir lieber ganz schweigen.) Ich freue mich auf Reaktionen; und ich packe auch das Reiseköfferchen, wenn es nötig ist!

In einer etwas veränderten Fassung sind die Thesen bereits veröffentlicht worden in: Wolfgang Braungart: Standard: Literatur. Die Kunst, das Individuelle und Günter Eichs Himbeerranken. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF, Bd. 65, 2015, S. 63-77, hier S. 76 f.