Häuserfront
dpa-Report

Interview mit Prof. ­Dr. ­Michael Wolffsohn
Sisyphos als glücklicher Mensch

Der Hochschullehrer des ­Jahres ist sensibler Beobachter des Zeitgeschehens. Mit dem Projekt "Atlantic" tritt er auch als Gestalter auf.

Von Friederike Invernizzi Ausgabe 3/17

Forschung & Lehre: Die Idee der Gartenstadt mit grünen Höfen hatte der Architekt Rudolf Fränkel in den 20er Jahren in Berlin realisiert. Was hat für Sie den Anstoß gegeben, sich um den Wiederaufbau und die Restaurierung der heruntergekommenen Bauten zu kümmern?

Michael Wolffsohn: Groß-Goethe brachte es auf den Punkt: "Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen". Die Gartenstadt Atlantic ist Teil meiner Familiengeschichte. Sie spiegelt auf der Mikroebene die deutsch-jüdische Makro-Geschichte. Ich schildere das in meiner Familiengeschichte "Glückskinder", die im Mai erscheint. Im Jahre 2000 erbte ich die Wohnanlage. Familien-, fach- und allgemeinethisch war mir klar: Du musst versuchen, Theorie und Praxis sowie die "Lehren" aus der Geschichte zu verbinden.

F&L: Welche Idee vom "innerstädtischen Wohnen" hat Sie dabei geleitet?

Michael Wolffsohn: Die Menschen sollen sich wohl fühlen. Die Wohnungen seien schön und bezahlbar,  die Anlage gepflegt, der Vermieter-Service gut. Kommunikationsmöglichkeiten sind unverzichtbar. Sie erzeugen ein Wir-Gefühl und ermöglichen die Balance zwischen Individualität und Gemeinschaft, also die Voraussetzung, dass nicht jeder gegen jeden "Krieg" führt. Das gilt nicht nur fürs innerstädtische Wohnen. Die Häuser sind aus Stein. Wenn die Herzen der Hausbewohner nicht versteinern sollen, muss man den Steinen Seele einhauchen, konkret: Kultur und Bildung als Zusatzangebot.

F&L: Die "Gartenstadt" gilt als deutsch-türkisch/muslimisch-jüdisches "Vorzeigeprojekt". Warum? Was sind die Erfolgsgaranten, die dieses Projekt gedeihen lassen?

Michael Wolffsohn: Wir betreiben Kultur, Bildung und Integration vornehmlich für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – nicht paternalistisch, schulterklopfend, sondern auf Augenhöhe. Unser Koordinator sowie viele unserer Lehrkräfte, allesamt Spitzenkräfte, sind in der Offenen Gesellschaft angekommen. Sie gehören zu uns, zu unserem Wir und schließen so die bislang Ausgeschlossenen in unser Wir mit ein. Ohne den landesüblichen Phrasen-Sirup. Deutsch-jüdisch ist unsere Familiengeschichte. Man muss über den eigenen Tellerrand hinausschauen. Ergo: Deutsch-jüdisch reicht längst nicht mehr. Es werde deutsch-jüdisch-muslimisch.

F&L: Sie sind für Ihr Engagement um die Gartenstadt zum Hochschullehrer des Jahres gewählt worden. Ist das einem Vielgeehrten wichtig?

Michael Wolffsohn: Und wie! Gerade vor dem Hintergrund, dass ich von anderen in den vergangenen Jahrzehnten auch viel Prügel eingesteckt habe. Über das Persönliche hinaus signalisiert die Wissenschaftler-Jury: Wissenschaft darf und soll auch unbequem sein. Ich wünsche mir, dass junge Wissenschaftler dadurch ermutigt werden, ihren eigenen Weg zu gehen, gerade wenn dieser abseits der ausgetretenen Pfade liegt. Noch ein Signal gibt die Jury: Erfolgreiches Machen bedarf des vorherigen Denkens. Daher Riesenfreude und -dankbarkeit.

F&L: Sie seien Professor geworden, weil das von "profiteri" komme – von "Bekennen", haben Sie einmal gesagt. Zu was bekennen Sie sich?

Michael Wolffsohn: Als Wissenschaftler und Hochschullehrer sollen wir  das Untersuchte zuerst erkennen, dann benennen und uns schließlich dazu – frei von Taktik und Opportunismus – bekennen.

F&L: Unter dem Begriff "autoritärer Charakter" fasste Erich Fromm in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ein bestimmtes Muster von Persönlichkeitseigenschaften zusammen, das unter anderem durch Vorurteile, Konformität, Destruktivität, Rassismus und Ethnozentrismus gekennzeichnet ist. Kann man heute von einem Erstarken dieser Charaktere sprechen?

Michael Wolffsohn: Vor, in und nach den 1930er Jahren ist der Mensch, was er immer war: Mensch, inklusive der Möglichkeit, Fähigkeit oder leider auch Willigkeit zur Unmenschlichkeit. Je nach bestimmten individuellen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen dominiert, individuell ebenso wie kollektiv, das Menschliche oder Unmenschliche im Menschen. Es ist an uns Wissenschaftlern, die Ursachen der negativen Voraussetzungen zu erkennen und zu benennen, um das Gegensteuern zu ermöglichen.  Dieses ist dann die Aufgabe der "Macher", die schon aus Zeitgründen eher selten zum Denken kommen. Ich warne vor dem häufigen Vergleich zwischen den 1930er Jahren und unserer Gegenwart. Partizipatorischen Gesellschaften – und unsere westlichen sind heute partizipatorisch – lässt sich ein totalitäres System wie "damals" nicht aufpropfen. Allerdings durchleben wir nicht erst seit gestern eine fundamentale Transformation beziehungsweise eine fünffache Revolution. Erstens eine demografisch-gesellschaftliche, zweitens eine politisch-ideologische, drittens eine nationale und staatliche, viertens eine wirtschaftliche und fünftens eine kulturelle, die sowohl militant religiöse als auch antireligiöse Züge trägt. In meinem Buch "Zivilcourage. Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt" habe ich das 2016 darzustellen versucht.

F&L: Wie kann die internationale Staatengemeinschaft miteinander ins Gespräch kommen und bleiben, um zunehmende Polarisierung und Terrorismus zu bekämpfen? Welche Rolle sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einnehmen?

Michael Wolffsohn: In meinem Buch "Zum Weltfrieden" versuche ich zu belegen, dass es eine Staatengemeinschaft als Gemeinschaft nicht gibt. Ein entscheidender Grund besteht darin, dass die meisten Staaten der postkolonialen Welt, teils auch europäische Staaten, Kunstprodukte sind. Kunstprodukte, weil von der Fiktion geleitet (nicht vom Faktum), dass die Bevölkerungsverteilung, also die Demografie der meisten Staaten, und ihre politische Geografie, das heißt ihre Staatsgrenzen, deckungsgleich, also "Nationalstaaten" wären. Tatsächlich wurde zu je einem Staat zusammengeflickt, was nicht zusammengehört: Multinationales, Multiethnisches, Multilinguales oder Multikonfessionelles. Die Machteliten jener Staaten wollen die Kunstprodukte erhalten, die Bürger wollen Trennung. Die Machteliten beteiligen zudem ihre Bürger nicht am politischen Prozess. Das alles wirkt hochexplosiv. Nach innen und außen. So schrecklich Krieg und Terror sind, sie sind Mittel zum politischen Zweck, nämlich der Realisierung des je eigenen Willens nach innen und/oder außen.  Diesen Willen muss man erkennen, wenn man ihn gegenstands- und vor allem gewaltlos umformen will. Daraus abgeleitet heißt (m)eine Friedensformel im inner- und zwischenstaatlichen Bereich "Frieden durch Föderalismus". Weil falsch gedacht, sind viele Staaten falsch gemacht, toben Terror und Krieg. Beides schwappt zu uns herüber. Das ist erst der Anfang. Als Wissenschaftler, als Denker, haben wir die Aufgabe, den "Machern" sowohl das richtig als auch das alternativ Gedachte und Denkbare vorzustellen. Meistens stellen sich die Macher taub. Albert Camus behauptet, man müsse sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. So gesehen sind wir Wissenschaftler glückliche Menschen. Ich bin es. Nicht zuletzt wegen dieser superlativischen Auszeichnung.