Studierende Häftlinge sitzen in der Studienabteilung der Justizvollzugsanstalt Würzburg an Rechnern.
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Studienangebote für Strafgefangene
Studieren hinter Gittern

Manche Straftäter machen während der Haft einen Hochschulabschluss. Einen typischen Studentenalltag haben sie nicht, profitieren aber von Vorzügen.

18.03.2023

Wenn sich andere Studierende bis mitten in der Nacht am Küchentisch der Wohngemeinschaft unterhalten, ist für Stefan, Jackie und Jan schon fast Zeit aufzustehen. Um 6.00 Uhr werden sie geweckt. Nicht von ihrem Handywecker, sondern von einer Lautsprecherdurchsage und Männern in Uniform. Denn die drei sind Inhaftierte in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Würzburg. Die meisten ihrer Mitgefangenen gehen morgens zur JVA-internen Arbeit, etwa in die Schlosserei oder Spielwaren zusammenstecken. Doch Stefan, Jackie und Jan zieht es in den Hörsaal.

Nun ja, ein Saal ist es eigentlich nicht, aber die drei nennen ihn so. Eigentlich ist es nur ein Raum mit acht Computern – eine ehemalige Haftzelle. Hier wälzen sie Studienunterlagen, verfolgen Vorlesungen am Bildschirm und schreiben Hausarbeiten. Stefan studiert Wirtschaftsinformatik, die anderen beiden Wirtschaftswissenschaften. In Regalen stehen Kant, Statistikbücher und "Der Wohlstand der Nationen" von Adam Smith. "Ich bin froh, hier etwas Sinnvolles zu tun", sagt Stefan. Das Studium läuft über die Fernuniversität in Hagen.

Bis 20.30 Uhr können sich die Studenten auf ihrer Station – also ihrem Flurbereich – frei zwischen Haftraum, Hörsaal und Gemeinschaftsküche bewegen. Am Eingang klebt ein Schild: "Studentenstation". Die Atmosphäre ist recht freundlich: hell gemauerte Wände, viel Licht. Der Hörsaal unterscheidet sich kaum von Büros in Freiheit. Im Flur hängt eine "Wall of Fame" mit bisherigen Studenten und ihren Abschlüssen. Daneben ein Schild: "Alle sagten, das geht nicht. Da kam einer und hat es einfach gemacht."

Doch überall sind Gitter. Am Ende des Flurs ist ohne Schlüssel Schluss. Nur eine Stunde Hofgang pro Tag haben Stefan, Jan und Jackie. Ihre Familie und Freunde dürfen sie zwei Stunden pro Monat sehen. Da bleibt mehr als genug Zeit zum Studieren.

Wenig Kontakt zu Kommilitonen, viel pädagogische Unterstützung

Lesen, lernen, Prüfungen absolvieren – das eint die drei mit Studierenden draußen. Aber Kontakt zu Kommilitonen gibt es kaum. Zwischen ihnen liegen dicke Mauern und Stacheldraht. Auch digital können sie sich kaum austauschen. Jede E-Mail kann mitgelesen werden. Auf den Computern gibt es nur wenige Programme und kein freies Internet. Chats sind nicht erlaubt. "Wenn ich etwas nicht verstehe, kann ich nicht einfach Kommilitonen fragen", erzählt Stefan. "Draußen studieren ist klar schöner, aber hier drinnen bin ich froh, dass ich studieren kann", sagt Jackie.

Stefan ist bereits 55 Jahre alt und hat früher in einer Bank gearbeitet. Er wurde wegen Betruges verurteilt. Auch dem 32-jährigen Jan, der selbstständig in der Veranstaltungsbranche tätig war, wurde Betrug zur Last gelegt. Der 41-jährige Jackie sitzt wegen Drogenhandels. Alle drei heißen eigentlich anders.

Einer, der in ihnen nicht nur Straftäter sieht, ist Arnd Bartel. Der 56-jährige Pädagoge – gekleidet in Zivil mit Jeans, Hemd und Weste – begleitet die Gefangenen zusammen mit einem Kollegen durch Immatrikulation, Vorlesungsverzeichnisse und Prüfungen. "Als Pädagoge bin ich froh, wenn ich Gefangene entdecke, in denen ich Potenzial sehe", sagt er. Mit einem Studenten habe er beispielsweise lange über den Schuldbegriff bei Hannah Arendt diskutiert.

Bei fast jedem Satz merkt man dem gelernten Lehrer an, wie sehr ihm die Studenten am Herzen liegen. Über seine bisherigen Schützlinge sagt er Dinge wie "sympathischer junger Mann", "ein ganz toller Typ", "hochintelligent", "reizend" und "goldig". Dabei betreut Bartel Drogenhändler, Sexualstraftäter, Gewaltverbrecher.

Dem Engagement Bartels ist es auch zu verdanken, dass die Würzburger JVA die bayernweit einzige Hochschul-JVA ist. Möchte ein Insasse aus einem anderen Gefängnis einen Bachelor oder Master machen, muss er sich nach Würzburg verlegen lassen. Bartel ist ein Fan der Zentralisierung. Dadurch sei die Betreuung besser.

Keine Massenuni: Vorteile des Studierens im Gefängnis

Die Beziehung zwischen den Studenten und den Pädagogen ist eng. Das liegt auch daran, dass die Hochschule hinter Gittern alles andere als eine Massenuni ist. Gerade mal 34 Gefangene haben hier seit 2011 ein Studium begonnen, fünf einen Abschluss gemacht. Aktuell sind fünf Studenten da. Von einer so engen Betreuung können manche Studierende "draußen" nur träumen.

Auch ansonsten hat das Studieren im Knast Vorteile gegenüber dem Studieren in Freiheit. "Ich bekomme alles all-inklusiv serviert", sagt Stefan. Einkaufen, Wäsche waschen, quer durch die Stadt Literatur holen, Wohnungssuche – um all das müssen sich Stefan, Jackie und Jan nicht kümmern. Außerdem bekommen sie fürs Studium Geld und erwerben Ansprüche auf Arbeitslosengeld. "Das gelingt keinen anderen Studierenden in unserem Land", sagt Volker Zersch, Ansprechpartner für studierende Inhaftierte an der Fernuni Hagen. Von dem Lohn bezahlen die Studenten unter anderem ihre Studiengebühren.

Nach einer Straftat studieren und dafür noch Geld bekommen – mancher Bürger mag sich darüber aufregen. Aber im Vordergrund steht die Resozialisation. Stefan beispielsweise studiert Informatik, da er bei Banken keinen Job mehr bekommen wird. "Aus- und Weiterbildung sowie die Arbeit der Gefangenen sind entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Resozialisierung", heißt es auch vom Bayerischen Justizministerium.

Wie ein Studium die Gefangenen verändert

Bartel berichtet von einem Straftäter, der im Knast Philosophie studierte und dadurch ein anders Weltbild bekommen habe, weg vom bisherigen "Money-Fokus". Inzwischen arbeite er im Sozialen. "Ein anderer kam in psychisch desolatem Zustand und hat sich stabilisiert, nachdem sein Gehirn im Mathestudium Futter bekommen hat", so Bartel.

Bei der Wahl des Studienfachs sind die studierenden Straftäter fast so vielfältig wie ihre Kommilitonen draußen. Längst nicht jeder will Jura studieren, um sich früher aus dem Knast zu boxen. "Jura kann ich den meisten inzwischen gut ausreden", sagt Bartel. Schließlich gingen die Jobaussichten da mit Vorstrafe gegen Null. Theoretisch sei in Würzburg aber jedes Studienfach möglich – auch Informatik. Das lässt laut Fernuni Hagen nicht jede JVA zu, aus Angst, dass die Studierenden das IT-System unterwandern könnten.

Stefan, Jan und Jackie sind dankbar, während ihrer Haft studieren zu dürfen. Neid von anderen Gefangenen erleben sie nach eigenen Angaben nicht. Auch von ihren Kommilitonen draußen spürten sie keine Ablehnung – trotz mancher Vorteile, die das Studieren im Knast hat. "Mit uns tauschen möchte niemand", sagt Jackie.

Vanessa Köneke (dpa)