Psychische Gesundheit
Studierende zwischen Sinnfragen und allgemeinen Unsicherheiten
Forschung & Lehre: Sie sind seit 2011 Leiter der Zentralen Studienberatung an der Universität Hamburg. Was hat sich in Ihrer Beratungsarbeit seither verändert?
Ronald Hoffmann: Was sich sukzessive und dann mit der Corona-Pandemie radikal verändert hat, ist ein verbreitetes Erleben von Überforderung. Studierende berichten viel stärker als zu Beginn meiner Arbeit hier an der Universität, dass sie sich überfordert fühlen und aus diesem Stress eigentlich kaum noch rauskommen. Immer mehr Studierende mit depressiven Symptomen kommen zu uns. Durch die Corona-Pandemie hat das stark zugenommen, insbesondere die Schwere der Symptome hat zugenommen. Früher kamen Studierende mit depressiven Verstimmungen oder auch leichten bis mittleren depressiven Symptomen zu uns, seit der Corona-Pandemie schildern Studierende verstärkt mittlere bis schwere depressive Symptome.
Psychische Erkrankungen treten häufig erstmalig in der Pubertät zwischen 14 und 18 Jahren auf. In der Vergangenheit berichteten uns Studierende, dass sie Depressionen und soziale Ängste bereits aus der Schulzeit kannten. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen Studierende, die noch nie zuvor damit konfrontiert waren. Auch erwachsene Menschen waren während der pandemiebedingten Isolation mit Depressionen konfrontiert, aber sie sind gefestigtere Persönlichkeiten als Studierende. Was da ausgelöst wurde, ist neu, und wir beobachten aktuell, dass sich die Situation für die Studierenden nicht wesentlich zu entspannen scheint. Die Anmeldezahlen für die psychologische Beratung steigen noch leicht auf einem sehr hohen Niveau.
Wir erklären uns das mit der großen Unsicherheit in der Welt. Themen wie der Klimawandel beschäftigen junge Menschen, insbesondere Studierende, die neugierig sind und sich für viele Themen interessieren. Aber auch die Kriegssituationen weltweit, die wirtschaftliche und damit verbundene soziale Situation für viele Menschen im eigenen Land besorgt Studierende.
F&L: Welche Art Krisen im Lauf des Lebens kann man gut bewältigen und welche eher nicht?
Ronald Hoffmann: Krisen sind eine Chance, aber sie sind auch immer ein Risiko. Die klassischen Krisen im jüngeren Lebensabschnitt sind Erlebnisse von Trennung, Abschied und von Scheitern. Das betrifft zum Beispiel den Abschied von der klassischen Eltern-Kind-Situation, wenn die Eltern sich trennen. Nicht bestandene Prüfungen sind eine typische Scheitern-Situation, vielleicht auch die, den Studienplatz nicht zu erhalten. Und natürlich Liebeskummer. Auch der Ortswechsel am Beginn eines Studiums bedeutet Abschied und kann krisenhaft sein. An diesen Krisen kann man jedoch wachsen.
Schädliche Krisen sind die, wo es nur sehr eingeschränkte eigene Handlungsoptionen gibt. Das gilt aber nicht nur für junge Menschen, sondern auch für Ältere. In der Corona-Pandemie zum Beispiel waren die eigenen Handlungsoptionen eine Zeit lang sehr gering. Wir wussten alle nicht, was wir tun sollten, und das konnte uns auch niemand sagen. Eine solche Situation kann insbesondere für junge Menschen eine Krise auslösen; sie kann fast traumatisch erlebt werden.
Bei den übergeordneten Krisen wie der Klimaveränderung geht es nicht mehr darum, dass junge Menschen nicht wissen, wie sie es hinbekommen sollen, sondern um die Sorge, dass das Ganze nicht mehr funktioniert, dass wir in einen Zustand geraten, in dem man eigentlich nicht mehr leben kann.
F&L: Haben sich Identitäts- und Sinnfragen von Studierenden verändert?
Ronald Hoffmann: Das Studium war schon immer eine Phase, die von großer Unsicherheit geprägt war. Man wusste nicht, was nach dem Studium eigentlich passiert. Für die meisten ist die Studienzeit eine Zeit, in der man auf der einen Seite bereits sehr erwachsen ist und auch stark auf die eigene Verantwortung hingewiesen wird, insbesondere an einer Universität. Andererseits befinden sich Studierende wirtschaftlich oft noch in einer abhängigen, fast kindlichen Position. Ein weiterer Punkt ist, dass gerade größere Hochschulen von einer gewissen Anonymität geprägt sind und der Umgang damit nicht jedem gelingt. Schließlich ist man in der späten Adoleszenz oder der frühen Post-Adoleszenz noch sehr stark mit Sinnfragen beschäftigt.
Aber es geht nicht nur um die Frage, ob es sinnvoll ist, dass ich das entsprechende Fach studiere. Die Sinnfrage ist inzwischen eine umfassendere, nämlich: Wie bekomme ich mein Leben organisiert? Ein Beispiel: Immer mehr Studierende kommen aus Familien mit alleinerziehendem Elternteil. Sie erleben, was es für eine Anstrengung ist, eine Familie über die Runden zu bringen und es gut zu machen.
Ein wichtiges Thema ist außerdem der schon immer vorhandene grundsätzliche Konflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit, der sich aber durch die sozialen Medien verstärkt hat. Wie sehr kann ich "ich" sein, meine Bedürfnisse, mein Leben entwickeln, wahrnehmen? Wie sehr will ich gleichzeitig in eine Gruppe eingebunden sein? Wie stark bin ich von einer Gruppe abhängig? Was muss ich tun, um zu dieser Gruppe dazuzugehören? In früheren Zeiten haben wir den Konflikt in einer überschaubaren Gruppe ausgetragen, zum Beispiel im Klassenverband. Das ist heute anders.
"Wir erleben die aktuelle Generation als eine Generation, der es sehr wichtig ist, Dinge richtig zu machen."
F&L: Welche konkreten Themen beziehungsweise Fragen stehen in der psychologischen Beratung im Vordergrund?
Ronald Hoffmann: Prüfungsängste gehören nach wie vor zu den klassischen Anfragen, auch wenn sich die Studierenden durch die Bologna-Reform zu kleinen "Prüfungsprofis" entwickelt haben, wie ein ehemaliger Kollege meinte, weil sie nach jedem Semester geprüft werden und nicht mehr, wie in einigen Studiengängen früher, nur zweimal im Studium. Aber auch Liebeskummer oder Stress mit der Familie führt Studierende zu uns. Daneben geht es immer auch um Zeit- und Selbstmanagementfragen, hierzu gehört insbesondere das Thema Aufschieberitis, also Prokrastination.
Wir erleben die aktuelle Generation als eine Generation, der es sehr wichtig ist, Dinge richtig zu machen. Viele legen einen sehr hohen Perfektionismus an den Tag. Studierende berichten uns beispielsweise als einen Sonderaspekt von Prokrastination, dass sie Aufgaben zwar erledigen, aber nicht abschließen. Nach dem Motto: Vielleicht könnte die Hausarbeit noch besser werden und ich muss noch mal drübergehen, ich kann sie also noch nicht abgeben, vielleicht fällt mir noch etwas Besseres ein. Das ist ein neueres Phänomen.
F&L: Wie groß muss der Druck sein, bis jemand zu Ihnen kommt? Mein Eindruck ist, dass heute offener über psychische Probleme gesprochen wird.
Ronald Hoffmann: Ich bin sehr froh, dass psychologische Beratung mittlerweile nicht mehr heißt, dass man eine Meise hat. Trotzdem haben sich Studierende, bevor sie sich anmelden, bereits eine Zeit lang damit beschäftigt. Es gehört zu dem bereits erwähnten Perfektionismus auch der Wunsch, das Problem selbst lösen zu wollen.
Nach der Corona-Pandemie haben wir Studierende der Universität Hamburg befragt, ob sie sich bei einem Problem an die psychologische Beratung gewendet haben, und wenn nicht, warum nicht. Als Antwort kam häufiger, dass sie es alleine schaffen wollten, unter anderem deshalb, weil sie das Gefühl gehabt hätten, es gehe anderen vielleicht noch viel schlechter als ihnen, und sie nähmen denen dann den Platz weg.
F&L: Welche Rolle spielen Konflikte zwischen Studierenden und Dozierenden in Ihrer Beratung? Kommen die Studierenden mit der hybriden Lehre gut klar?
Ronald Hoffmann: Die Schwierigkeiten mit oder die Ängste vor Lehrenden gab es immer und das hat sich auch durch Corona nicht verändert. Ich habe manchmal den Eindruck, die Lehrenden haben mehr Probleme mit der hybriden Lehre als die Studierenden. Dazu haben wir auch Befragungen durchgeführt. Die Studierenden waren, auch während des Lockdowns, mit der Möglichkeit des Kontakts zu den Lehrenden großteils zufrieden. Unser Eindruck ist, dass sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden diese Situation überwiegend hervorragend gemeistert haben. Beschwerden über Lehrende kommen grundsätzlich auch bei uns an, aber hier gibt es wenig Auffälliges zu berichten. Was sich feststellen lässt, ist eine Art Empfindlichkeit in bestimmten Bereichen, die als diskriminierend oder als belästigend erlebt werden, verbunden mit dem Anspruch, die Institution müsse das regeln.
F&L: Was meinen Sie hier konkret?
Ronald Hoffmann: Wenn es zu einem Konflikt zwischen Lehrenden und Studierenden kommt, wird schnell die Institution angerufen. Ich beobachte in dem Kontaktverhalten manchmal den Wunsch, dass doch jemand anderes es für einen klären möge, während ich sage, klärt das doch bitte selbst mit dem Lehrenden.
F&L: Eigentlich sollte gerade die Universität der Ort sein, an dem sich Studierende mit ihrem Gegenüber argumentativ auseinandersetzen.
Ronald Hoffmann: Richtig, das gehört zum Erwachsenwerden und ich mache den Studierenden Mut, es im geschützten Rahmen der Universität auszuprobieren. Studierende haben häufig die Sorge, dass sie von Lehrenden schlechter behandelt werden, wenn sie sie kritisieren. Das passiert aber in der Regel nicht.
"Ein nicht unerheblicher Teil der Krisen der Welt findet in den Herkunftsländern von internationalen Studierenden statt."
F&L: Die Heterogenität der Studierenden, verschiedene Herkunftsmilieus und Lebenssituationen, hat zugenommen. Verändert das die Beratung?
Ronald Hoffmann: Ein nicht unerheblicher Teil der Krisen der Welt findet in den Herkunftsländern von internationalen Studierenden statt. Das ist gerade in Verbindung mit der Entfernung von Familie und Freunden für viele Studierende sehr belastend. Verändert hat sich zum Beispiel, dass wir inzwischen psychologische Beratung in vielen Sprachen anbieten. Neben Deutsch und Englisch haben wir auch Französisch, Spanisch und Arabisch. Darüber hinaus gehen wir inzwischen das Thema Akkulturation, also den Schock, den man erlebt, wenn man in eine wirklich fremde Kultur kommt, stärker an. Und zwar sowohl was die Umgebung betrifft, also die Landeskultur, als auch die Lern- und Bildungskultur – und das dann noch in einer fremden Sprache. Das erleben wir aber weniger in der psychologischen Beratung, sondern in Workshops in den Studienberatungen oder im Sprachenzentrum.
Aus der Forschung wissen wir, dass Studierende, die als Nicht-Muttersprachlerin oder -Muttersprachler nach Deutschland kommen, ihre Sprachkompetenz zu Beginn des Studiums maßlos überschätzen. Für das Studium braucht es aber Deutschkenntnisse auf einem bestimmten Level. Die Universität Hamburg bietet hier präventiv Unterstützungsangebote an, diese sind aber nicht in der psychologischen Beratung angesiedelt. Die Menschen haben keine psychologischen oder psychischen Probleme, sondern Probleme, die sich aufgrund ihrer besonderen Situation erklären.
Durch den Nahostkonflikt besteht zudem ein erhöhter Beratungsbedarf im Bereich Diskriminierung. Studierende berichten zum Beispiel, dass sie sich aufgrund ihrer Herkunft in einer Seminarsituation oder auf dem Campus unwohl fühlen. Auch hier erleben wir den Wunsch, dass die Institution dafür Sorge tragen möge, dass die jeweils andere Position im Uni-Rahmen nicht offensiv vertreten wird. Hierzu ist anzumerken, dass wir ein berechtigtes Schutzinteresse selbstverständlich im Blick haben – gerade weil Universitäten in einer demokratischen Gesellschaft Orte des wissenschaftlichen Austausches und des akademischen Diskurses sind. Hier handelt es sich um Phänomene des jüngsten Zeitgeschehens.
Studium – Mini-Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"
Die September-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt dem Studium und seinen Herausforderungen. Die Beiträge:
- Ronald Hoffmann: Wachsende Überforderung: Studierende zwischen Sinnfragen und allgemeinen Unsicherheiten
- Christine Rummel-Kluge | Elisabeth Kohls | Juliane Hug: In der "Polykrise": Psychische Gesundheit von Studierenden
Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!