Fenster einer Universität
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Praxisorientierung
Wenn die Gestaltung der Curricula zum Problem wird

Universitäten werden zunehmend Orte der Ausbildung für den globalen Arbeitsmarkt. Sollte das so sein? Ein kritischer Blick in die Hörsäle.

Von Volker Ladenthin 14.01.2020

Grundschullehrer beklagen oft, dass sie Kurse im Fach Mathematik belegen müssen, deren Inhalt sie nie unterrichten werden. Umgekehrt wären Studierende der Medizin sicher nicht so ganz begeistert, wenn man ihnen eine klausurbegleitete Vorlesung über Verfahren von Honorarordnung, Buchführung und Steuererklärung anbieten würde – obwohl sie genau davon später leben werden. Ein Zukunftsparadox, weil man Zukunftsfähigkeit an Inhalten aus der Gegenwart bemessen möchte.

Die Professionsforschung geht das Paradox an und will dasjenige Wissen und Können beforschen, das vermutlich auch noch in zehn oder zwanzig Jahren in einem Beruf gebraucht wird. Eine Falle liegt allerdings im Wort "vermutlich". Nun ist dieses Paradox speziell an Universitäten gut zu lösen, wenn man die Lehre an die stets zukunftsoffene Forschung koppelt: Nicht die Berufspraxis wäre das Problem, sondern die innerszientifische Systematik eines Faches das Regulativ für Auswahl und Methode akademischer Lehre. Ausbildung an der Universität hieße dann – Ausbildung zum fachwissenschaftlichen Arbeiten.

Kompetenztheorien zur Gestaltung von Curricula

Die derzeit von der Administration favorisierten Kompetenztheorien erstellen handlungsorientierte Curricula für die universitäre Lehre. Sie implementieren dabei (wenn sie mehr sein wollen als neues "wording" für altbekannte Absichten) das systematische Defizit formaler Bildungskonzepte an der Universität: Wer im Studium lediglich "zentrale methodische Verfahren der Erkenntnisgewinnung" studiert hätte, könnte das Examen ohne Sachkenntnis bestehen: Denn Inhalte lassen sich kompetenztheoretisch nicht beschreiben.

Inzwischen unterscheiden die KMK-Zielangaben:

  • "Die wissenschaftlich/künstlerische Befähigung,
  • die Befähigung zur Ausübung einer qualifizierten Berufstätigkeit,
  • die Befähigung zum zivilgesellschaftlichen Engagement und
  • die Persönlichkeitsentwicklung."

Berufsorientierung, Engagement und Persönlichkeitsentwicklung sollen die fachbezogene Ausbildung erweitern. Doch welchen Begriff von Persönlichkeit setzt man (wissenschaftlich begründet) voraus – den bürgerlich-traditionellen, den sozial-kommunikativen oder den postmodern-multiplen? Wie werden die vier oben genannten Aspekte in der Endnote gewichtet? Hier wird etwas über das Fachstudium gestülpt, was vom Thema ablenkt.

"Praxis kann man nur in der Praxis lernen. Studieren aber kann man nur Theorie."

Im Konzept der berufsorientierten universitären Ausbildung erfährt zudem eine wichtige Differenzierung kaum Beachtung. Sicher haben Handlungs- oder Professionsorientierung einen technischen Aspekt. Im Kurs "Gynäkologie und Geburtshilfe" erfahren angehende Mediziner alles Wesentliche über Schwangerschaft und Geburt: Wie aber eine Geburt in einer Notsituation mit unzureichenden Instrumenten durchzuführen sei, kann man theoretisch nicht lernen, weil man die Extremsituationen nicht antizipieren kann. Es ist dies das Problem der technischen Applikation von Wissen und Können, die Urteilskraft verlangt. Urteilskraft kann man nur üben, nicht lehren. Praxis kann man nur in der Praxis lernen. Studieren aber kann man nur Theorie.

Von technischen Problemen zu unterscheiden sind ethische Probleme. So muss der praktizierende Gynäkologe während der Geburt entscheiden können, ob er die krebskranke Mutter oder ihr Frühchen am Leben erhalten soll, das einen angeborenen Herzfehler haben wird. Dieses Einzelschicksal steht nicht im Lehrbuch. Dem Arzt hilft auch keine "gängige Praxis". Hier ist das verantwortungsvolle, sittliche Urteil einer Einzelperson gefragt. Wo hat sie das sittliche Urteilen systematisch gelernt?

Was meint nun "praxis-orientierte" Ausbildung? Nur die technische Applikation oder auch die ethische Praxis? Vor lauter Praxisanforderungen könnte man nicht mehr das Fach studieren. Das Studium würde verwässert und endlos. Universitäten wurden aber einst notwendig, um methodisch gesichertes Wissen zu suchen, das man noch nicht in der Praxis vorfindet, das vielmehr demnächst in der Praxis helfen soll.

Wenn berufsorientierte Ausbildung an der Universität dazu führt, dass Spitzenforschung und Spitzenabsolventen zur Ausnahme werden, stellt dieses Konzept eine Gefahr für die internationale Bedeutung deutscher Universitäten dar. Moderne Gesellschaften brauchen einen Ort, an dem Lehre und Forschung ihrer eigenen Logik folgen können. Andernfalls können deutsche Universitäten nicht mehr weltweit wissenschaftlich relevante Themen setzen. Sie verlören sogar recht bald den Anschluss an die internationale Entwicklung.

Die Unterscheidung zwischen Ausbildung und Bildung ist alteuropäischen Ursprungs. Nachzuverfolgen ist sie bis hin zu Aristoteles' Überlegungen, ob allein die Athener Bürger oder auch (Skandal!) ihre Sklaven öffentlich qualifiziert werden sollen. Zur Lösung unterschied er zwischen Bildung für die Athener Bürger und Ausbildung für die Sklaven. Dabei erfasste er den Unterschied nicht in Menge oder Inhalten des Lernens, sondern in der Art der Betrachtung: "Kenntnisse in (alltäglichen Arbeitstechniken) bilden das Wissen eines Sklaven; die Wissenschaft des Herrn aber besteht darin, dass er die Sklaven zu gebrauchen versteht." (Pol. 1255b). Ausbildung bezieht sich auf das "was und wie", Bildung auf die Reflexion des "wozu". Die für die Antike typische Arbeitsteilung schwindet in der demokratischen Moderne. Jetzt kann es niemand mehr rechtfertigen, nur über die Ziele für andere nachzudenken und nicht zu wissen, wie man sie erreicht; wie umgekehrt derjenige, der Kompetenzen erwirbt, wissen sollte, wozu sie dienen. In der Demokratie entscheiden nämlich alle Bürger über alle Ziele, über deren Machbarkeit sie demnach beste Kenntnisse brauchen.

Ausbildung und Bildung müssen in der Moderne also gar kein Widerspruch sein, sondern sie bedingen sich vielmehr. Ausbildung meint Fachausbildung, gleichgültig, ob berufs- oder wissenschaftsorientiert, Bildung meint die schlichte aber entscheidende Frage: Wozu? Manche Fachleute reagieren allerdings auf diese Frage empört: Bei Technik- und Naturwissenschaften sei das doch evident, und wer heute nach neuen Speichertechniken für elektrische Energie forsche, müsse das doch nicht extra begründen. Doch muss stets geklärt werden: Was erforschen wir, und was zuerst? Alternative Energiegewinnung oder die Entwicklung globaler Märkte? Alles gleichzeitig geht nicht, weil das Geld nie für alle Forschungsvorhaben reichen wird. Woran beurteilen wir aber, was zuerst erforscht wird? Das ist nicht nur ein Finanzstreit zwischen den Fakultäten, es ist auch eine Debatte in einem Fach: Beforschen wir Aids oder stärker Krebs? Peter Handke oder Theobald Hock? Wie viel Geld investiert man in die jeweilige Forschung?

Wie aus Ausbildung Bildung wird

In der Moderne ist die Bedeutung von Wissen nicht evident. Wer ein Fach lehrt, muss daher begründen, wozu er es wie lehrt. Mit diesen Reflexionen wird aus der Ausbildung Bildung. Diese Bildungsfrage universitätsöffentlich zu stellen ist zudem eine Maßnahme zur Vermeidung von Studienabbrüchen: Wer schon anfangs weiß, was er wozu lernen wird, wird weniger von Theorieschock und Sinnkrisen befallen, als der, der nur evaluierbar tut, was man ihm sagt.

"Wer ein Fach lehrt, muss begründen, wozu er es wie lehrt."

Die Frage nach dem Wozu gehört sinnvollerweise in jede Veranstaltung des Lehrangebots, denn Bildung ist nicht ein weiteres, zusätzliches Thema im Reigen der Module, sondern eine ganz spezifische Fragestellung zu jedem systematisch anstehenden Thema – zu jedem. Dadurch ist gewährleistet, dass nicht Leerformeln und Allgemeinplätze diskutiert werden, sondern Studierende lernen, das Allgemeine an den einzelnen Inhalten des Faches zu reflektieren. Das schließt nicht aus, dass bildungstheoretische Veranstaltungen fachübergreifend angeboten werden – etwa in Kooperation von Fächern und Universitäten.

Grundfragen zur bildungstheoretischen Reflexion der Fachwissenschaften hatte bereits Wilhelm von Humboldt entwickelt. Um Ausbildung in Bildung zu veredeln, müsse man "die eigenthümlichen Fähigkeiten (...) schildern, welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntniss zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen; den ächten Geist, in dem sie einzeln bearbeitet, und die Verbindung, in die sie alle mit einander gesetzt werden müssen, um die Ausbildung der Menschheit, als ein Ganzes zu vollenden."

Die Fächer wären nicht so zu studieren, dass Studierende der Forschung nachlaufen, sondern so, dass sie schon beim Studium die Forschung sinnvoll erweitern würden. Das gewährleiste, dass Wissenschaft und Praxis durch superbe Ausbildung stetig erneuert werden. Fachstudium und Berufsausbildung dürften nicht vermischt werden, weil sonst beides "unächt" werde und zu kurz komme. Schließlich sollten andere Fächer zum Lehrfach ins Benehmen zueinander gesetzt werden, um zu reflektieren, wie Wissenschaft insgesamt der Humanität und Sittlichkeit dienen kann. Diese Reflexionen verwandelten Ausbildung in Bildung und nähmen zugleich das Bildungsinteresse als Motivation für exzellente Ausbildung. Denn wer über den Sinn einer Wissenschaft nachdenken will, muss sie bestmöglich kennen; um aber eine Wissenschaft authentisch kennenlernen zu können, muss man ihr einen überindividuellen Sinn unterstellen.