Studierende
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Hochschulsystem
College sucht Campus

Mit der Einrichtung von Colleges sind andere Länder den Universitäten in Deutschland voraus. Ein Reformvorschlag für eine neue Studiengestaltung.

Von Harro Müller-Michaels 05.02.2019

Das College liegt im Zentrum der Stadt, nicht weit von der Nordsee entfernt. Das Hauptgebäude ist das wiederaufgebaute alte Rathaus aus dem 15. Jahrhundert, Reste eines Klosters sind noch sichtbar, die Residenzen der Studenten liegen in erreichbarer Nähe, Wege und Plätze verbinden Gebäude der Wissenschaften und des Lebens.

Der Dean schreibt in seiner jüngsten Message: Students come to the city, "because they love learning, have a broad range of interests, don’t mind working hard, thrive in an international environment and have an open, critical mind." Ein Student aus Deutschland berichtet von seinen enttäuschenden Erfahrungen mit einer "impersonal and mono-disciplinary German public university" und schreibt: "I believe that the critical thinking and multidisciplinary view gained here are an investment for life and master applications".

Die Rede ist vom University College Roosevelt der Universität Utrecht in Middelburg. Die Debatten um die Reform der Universitäten haben in Europa zeitgleich Anfang der neunziger Jahre begonnen; mit der Errichtung von Colleges an Universitäten sind die Niederlande den Ländern der Bundesrepublik wieder einen Schritt voraus.

"Studium Generale" zum Studienbeginn stärken

Zwar haben die Universitäten, teilweise noch vor dem Bologna-Beschluss 1998, beachtliche Anstrengungen unternommen, um Auftrag, Inhalte und Strukturen des Studiums mit der Einführung des Bachelor-Abschlusses neu zu ordnen: Das wiederentdeckte Studium Generale ist als Academic Core, Komplementär-, Ergänzungs- oder Optionalbereich in die traditionellen Studiengänge integriert und mit hinreichenden Credit Points ausgestattet, aber es läuft doch weitgehend beziehungslos neben dem Hauptfachstudium her.

"Solange Kompetenzraster Bildung ersetzen, würde sich auch nichts ändern, wenn die Gymnasialzeit wieder von acht auf neun Jahre erhöht wird." Harro Müller-Michaels

Die Veranstaltungen fördern eher die Entwicklung von Soft Skills als eine allgemeine wissenschaftliche Grundbildung. Es gilt aber, das Studium Generale von den Rändern in das Zentrum der Lehrangebote zu holen und mit einer modernen Version der Artes Liberales in die erste Phase des Studiums zu starten. Universitäten in Österreich haben mit dieser Studieneingangs- und Orientierungsphase (Steop) Ernst gemacht.

Unabweisbar wachsen die Probleme im tertiären Bildungssektor. Die Gymnasialzeit ist vielerorts auf acht Jahre gekürzt und damit auch die Vorbereitung auf die Hochschulreife, der Anteil der Abiturienten an einem Jahrgang erreicht inzwischen 60 Prozent, in den Bachelor-Studiengängen gibt es Abbrecherquoten bis zu 33 Prozent, die Fächervielfalt an den Hochschulen nimmt stetig zu (knapp 20.000 Studiengänge wurden bundesweit gezählt), die Komplexität der Forschung wächst mit jeder Studie, ohne dass die Ergebnisse sich immer hinreichend elementarisieren lassen, der Entscheidungsdruck für die Achtzehnjährigen wird größer, ohne dass die Orientierungsmöglichkeiten in ihrem Umfeld  wachsen. Was tun mit dem gewonnenen Jahr?

Die Antwort auf diese Frage wird seit 200 Jahren unter dem Stichwort des Studium Generale verhandelt. Generalisierung der Fragen vor Spezialisierung auf komplexe Antworten. Im Gymnasium ist keine Zeit mehr für die seit Humboldt in seinem Bericht an den König 1809 vorgeschlagene Verlagerung der Wissenschaftpropädeutik in die Höheren Schulen.

Die von der Politik seit den ersten PISA-Befunden geforderte, von den pädagogischen Wissenschaften unter Anleitung der Experimentellen Psychologie exekutierte Kompetenzorientierung mit ihren vorformulierten Antworten auf Prüfungsfragen hat den selbsständigen Zugang zu den Sachen, kreative Lösungen, fächerübergreifendes Denken, freie Diskussion von Ergebnissen in den Oberstufen verbaut. Zwar gewinnt die Gesellschaft eine höhere Zahl von Abiturienten, aber die Universitäten verlieren die notwendige wissenschaftliche Bildung für den Start in das Studium. Solange Kompetenzraster Bildung ersetzen, würde sich auch nichts ändern, wenn die Gymnasialzeit wieder von acht auf neun Jahre erhöht wird.

Da der Rahmen der Bildungspolitik unabänderlich festgesetzt und es für die Lebensplanung der jungen Menschen durchaus sinnvoll ist, einem großen Teil von ihnen die Option für ein Studium offenzuhalten, müssen die Universitäten die Propädeutik der Wissenschaften wieder in die eigene Hand nehmen und in die notwendige Richtung steuern – eventuell mit Unterstützung von Lehrenden der Gymnasialen Oberstufen, die mit den vorgefertigten Unterrichtseinheiten, die auf  erwartbare Kompetenzen zulaufen, bei ihrer durch das Studium zweier Fachwissenschaften erworbenen Qualifikation häufig unterfordert sind.

Fächerübergreifende Grundsatzfragen reflektieren

In einem revidierten Modell des Studienanfangs beginnt das Studium nicht mit der Einführung in ein Fach ("mono-disciplinary"), sondern mit Problemen, Methoden, Grenzüberschreitungen, Normen, Framing der Wissenschaften allgemein.

Hundert Jahre nach seiner Einführung im September 1918 ist der Projektgedanke, wie schon einmal in den sechziger Jahren, für das Studium neu zu entdecken: Problem- vor Systemorientierung mit der Behandlung von Fragen, die mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden gemeinsam zu lösen versucht wird: Was ist Leben? Wozu Kultur? Werte einer Zivilgesellschaft? Unter Edge.org finden sich seit zwanzig Jahren Fragen des Jahres, die zu bearbeiten sinnvolle Herausforderungen für den Studienbeginn sein können: zum Beispiel What question are you asking yourself? (1998), What's your law? (2002), What are you optimistic about? Why? (2007).

Vielleicht lässt sich der Gedanke zuspitzen: Ein zentrales Ziel des Studiums ist, angemessene Fragen (bis zur Dissertation) stellen zu lernen, nie aufzuhören zu fragen, die Fragen der anderen und der Wissenschaften ernst zu nehmen und zur eigenen Sache zu machen. Durch forschendes Lernen werden die induktiven Methoden mit den selbstständigen Entdeckungen gegenüber den deduktiven Verfahren mit der Vermittlung notwendiger Wissens- und Methodenbestände gestärkt. Auf den Unterschied von Verfügungswissen und Orientierungswissen hat Jürgen Mittelstraß immer wieder aufmerksam gemacht.

Inhaltlich bewegt sich das Studium Generale im Feld der aktualisierten Artes Liberales mit hinreichender Weite und Tiefe der Fragestellungen. Einige der notwendigen Gegenstände (nicht unbedingt sieben) seien angedeutet: Allgemeine Bildung in zwei von drei Fächern aus den weiten Feldern der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften (einschließlich Jura, Ökonomie) mit Grundlegung und exemplarischen Forschungsthemen.

Wissenschaftspropädeutik: Denken in Modellen, Methoden des Erklärens und Verstehens, eine Typologie der Diskurse: explikativ, deskriptiv, normativ, Tatsachenerhebung vs. Wertentscheidung.
Rhetorik des wissenschaftlichen Schreibens und Redens mit Bauformen mündlicher und schriftlicher Äußerungen, Schreibprozesse, Argumentationsmuster, Wissenskonstruktion und Ergebnisdiskussion.

Fachübergreifende Problemstellungen, wie etwa Ethik der Forschung und Lehre, mit Reflexion von Reichweite, Grenzen, Aussagekraft des Forschungsdesigns, auch am Beispiel von Fälschungen und Betrug. Disziplinübergreifend ist auch das Feld der Big Data mit dem Wechselspiel von analogem und digitalem Denken. Dabei käme es weniger darauf an, mit Studierenden die Nutzung der neuen Medien zu üben als vielmehr zu kritischer Reflexion und Problembewusstsein anzuleiten.

Der interkulturelle Auftrag der Wissenschaften macht auch das Erlernen neuer und das Vertiefen vertrauter Fremdsprachen nötig. Vor allem aber gehört den Künsten ein angemessener Raum: Musik, Theater, Bildende Kunst und Sport. In künstlerischer Arbeit und Rezeption machen die jungen Menschen Entdeckungen in der Welt, die auch die Wissenschaften befördern wollen.

Campusleben erweitert Horizont

Jedes der genannten Problemfelder lässt sich ausbauen, in eine Komplexitätsstufung und geänderte Gewichtung für drei oder vier Jahre bringen, die Colleges können Profile entwickeln und besondere Verbindungen zum Hauptfachstudium (Medizin, Jura, Sciences) anbieten, aber immer stehen die Liberal Arts and Sciences (LAS) am Beginn des Studiums.

Schon heute finden sich Elemente in den Optionalbereichen der Bachelor-Studiengänge der Universitäten. Worauf es aber ankäme, wäre, mit diesen Bausteinen (Modulen) mindestens das erste Jahr der gestuften Studiengänge an ausgewählten Standorten neu zu strukturieren: Grundlagen, Prinzipien, Denkmodelle der Wissenschaften und Reichweiten der Forschungsergebnisse kennenzulernen, bevor das Fachstudium beginnt.

"Auch jenseits der eigenen Fächer, mit Antworten zu experimentieren, gelingt am besten, wenn Studentinnen und Studenten auf dem Campus zusammen leben und arbeiten." Harro Müller-Michaels

Das University College Freiburg macht seit 2012 ein solches, englischsprachiges Angebot für LAS, das in theoretischem Anspruch und curricularer Struktur über die in den meisten Universitäten üblichen Ergänzungsstudien hinausführt. In die Lehre der gewählten Disziplinen sollten auch Fäden der historischen Entwicklungen eingezogen werden: Entfaltung der Methoden, aber auch Verfehlungen und Irrtümer; da gäbe es aus den letzten hundert Jahren für jedes Fach einiges zu erzählen.

Sich von den Künsten und Wissenschaften inspirieren zu lassen, Fragen zu diskutieren, auch jenseits der eigenen Fächer, mit Antworten zu experimentieren, gelingt am besten, wenn Studentinnen und Studenten auf dem Campus zusammen leben und arbeiten. Um noch einmal Mittelstraß zu zitieren: Wissenschaft wird zur Lebensform.

Die jungen Menschen lernen, ihr Denken und Handeln auf Rationalität zu gründen, sich dem Gemeinwohl verpflichtet zu fühlen, nach dem Allgemeinen hinter dem Speziellen zu suchen, aber auch das Allgemeine durch das konkrete Beispiel zu belegen, sich an universellen Normen der Ethik zu orientieren und sich von Kunst bewegen zu lassen.

Gespräche und Veranstaltungen auf dem Campus erweitern den Horizont, fördern die Selbstreflexion ebenso wie das Verständnis für die anderen und helfen, die Fähigkeit zu entwickeln, Konflikte zu kanalisieren und auszutragen. Die vielen Begegnungen sind jedenfalls das Kontrastprogramm zur Streichung von Präsenzpflichten und Ausweitung des E-Learning in der universitären Lehre.

Bachelor-Studium: Von der allgemeinen zur fachlichen Bildung

Wenn man mit großer Zustimmung beobachten kann, wie viele Universitäten, vor allem mit Exzellenzclustern in Natur- und Ingenieurwissenschaften, neue Gebäude für die Forschung bauen, dann ist nur schwer zu verstehen, wenn nicht auch versucht würde, einen Campus für ein College, wenigstens als Prototyp für die intensive Verbindung von Forschung und Lehre in ansprechender Architektur, anzulegen.

Ein historisches Beispiel ist die von Thomas Jefferson, nicht ohne seine europäische Erfahrung, geplante Anlage der University of Virginia in Charlottesville, eines der jüngsten Exemplare ist das University College Roosevelt der Universität Utrecht in Middelburg mit seinem historischen Umfeld. Auch Anlagen einzelner privater Colleges können Anregungen bieten.

Es bedarf nur des Beschlusses eines (oder gleich mehrerer) der 16 Ministerien für Wissenschaften, in Verbindung mit Hochschulallianzen, den Standort festzulegen und mit der Planung zu beginnen, zum Beispiel im Einflussbereich der Universitäts-Allianz Ruhr, des länderübergreifenden Verbundes der Universitäten Halle/Jena/Leipzig oder an einem Ort im Umfeld von Karlsruhe/ Stuttgart/Tübingen.

Struktur, Inhalte, Methoden des Lehrens und Lernens, der Verbindung von Wissenschaft, Gesellschaft, Leben werden alsbald abstrahlen auf die beteiligten Universitäten und zum Modell für den Umbau der Bachelor-Studiengänge: Von der allgemeinen zur fachlichen Bildung in den Wissenschaften. Das explizite Bekenntnis des neuen Präsidenten der HRK, Peter André Alt, für ein "Studium Generale für alle" in der "Süddeutschen Zeitung" vom 13. August 2018 stärkt die Zuversicht, dass aus einer alten Idee eine neue Wirklichkeit in Architektur und für die akademische Bildung werden könnte.

Wissenschaft zu begreifen als Form des Erkenntnisgewinns, der kontinuierlichen Selbstreflexion, der konsequenten, methodisch kontrollierten Recherche, der Auseinandersetzung in Gesprächen, des ständigen Zweifels und der anhaltenden Neugier ist und bleibt die beste Vorbereitung auf das gewählte Fach. Wie es ein Absolvent des Studium Fundamentale an der Universität Witten-Herdecke sagt: "Ich habe gelernt: Jedes komplexe Problem hat eine einfache Lösung und die ist falsch."