

Barrierefreiheit
Eine Hochschule für alle?
Eine "Hochschule für Alle" forderte die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) 2009 und kritisierte, dass die Belange von Studierenden mit Behinderungen noch nicht ausreichend berücksichtigt würden. Wie ist es 15 Jahre später um die Barrierefreiheit bestellt? Nach aktuellen Zahlen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) geben knapp 16 Prozent der Studierenden eine studienerschwerende Beeinträchtigung an, davon "haben rund 27 Prozent beeinträchtigungsbezogene Anforderungen an Bau und Ausstattung der Hochschule oder Unterstützungsbedarfe". Die konkreten Anforderungen variieren dabei mit den Beeinträchtigungsarten: Neben der baulichen Barrierefreiheit gibt es einen Bedarf an technischer Ausstattung, etwa Großbildschirme für sehbeeinträchtigte oder störungsarme Umgebungen für hörbeeinträchtigte Studierende.
Weit entfernt von einer barrierefreien Hochschullandschaft
Insbesondere im Hinblick auf die räumliche Barrierefreiheit habe sich in den letzten Jahren einiges getan, hält Matthias Anbuhl, Vorstand des Deutschen Studierendenwerks, fest: "Gesetzliche Vorgaben haben einen klaren Rahmen geschaffen: Neubauten und große Um- oder Erweiterungsbauten sind barrierefrei auszuführen." Dennoch sei man noch weit entfernt davon, von einer barrierefreien Hochschullandschaft sprechen zu können: "Viele der alten Gebäude sind nicht barrierefrei, hier geht es auch nur schleppend voran. Der Sanierungsstau im Hochschulbau macht auch vor der Barrierefreiheit nicht halt. Auch fehlt es an Ruheräumen, in die sich Studierende mit Beeinträchtigungen zurückziehen können, um in einer reizarmen Umgebung ausruhen zu können. Obwohl der Bedarf seit vielen Jahren bekannt ist, tut sich leider zu wenig."
Auch die HRK weist auf den großen Bestand an alten, teilweise denkmalgeschützten Gebäuden hin: "Hier in der Breite etwa schwellenarme Zugänge zu schaffen, ist aufgrund deutlich zu knapp bemessener Sanierungs- und Modernisierungsmittel vielfach kaum möglich."
Während die baulichen Gegebenheiten den Gestaltungsspielraum der Universitäten einschränken, sollten sich digitale Barrieren leichter abbauen oder am besten von vornherein vermeiden lassen. Das sei – trotz eines Innovationsschubs durch die Corona-Pandemie – aber nicht grundsätzlich der Fall:
"Bei der Anschaffung oder Entwicklung neuer Software oder IT-Lösungen werden die Anforderungen der Barrierefreiheit häufiger nicht berücksichtigt. In vielen Hochschulen fehlt es an Kompetenzen und klaren Prozessstandards bei der Beschaffung", bemängelt Anbuhl. Standards der Barrierefreiheit würden aus Unwissenheit nicht eingehalten.
Er sieht die Hochschulen in der Pflicht, entsprechende Ausbildungsinhalte verstärkt in den relevanten Fächern zu berücksichtigen. "Hier sind auch die Länder gefordert, den Kompetenzaufbau in den Hochschulen und hochschulübergreifende Initiativen zu unterstützen. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gibt es nicht zum Nulltarif."
Vielschichtigkeit und Kleinteiligkeit von Barrierefreiheit
Trotz wahrnehmbarer Fortschritte mangelt es also oft an umfassenden Konzepten – und nicht zuletzt an einer ausreichenden Sensibilisierung der Entscheidungsträgerinnen und -träger für die Vielschichtigkeit und Kleinteiligkeit einer barrierefreien Hochschule: Micah Jordan etwa, Dozentin am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel, benötigt als Rollstuhlfahrerin vor allem stufenlos erreichbare Räume. Aber was nützen entsprechende Vorkehrungen, wenn die Uni am Wochenende den Aufzug aus Energiespargründen abstellt, so wie sie es während ihres Studiums erlebte? Grundbedürfnisse – ein zugängliches WC im gleichen Gebäude – würden nicht immer mitbedacht.
Rainer Schliermann, Professor für Erziehungswissenschaften und sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg, ist als stark sehbeeinträchtigte Person vor allem auf visuelle oder akustische Orientierungshilfen angewiesen – insbesondere bei Kongressteilnahmen an anderen Universitäten: "Es kommt regelmäßig vor, dass Beschilderungen völlig unzureichend gestaltet sind, also vor allem mit deutlich zu kleiner Schrift und ohne guten Kontrast", stellt Schliermann fest. "Somit kann ich oft nur äußerst erschwert bestimmte Räume finden, Personen ansprechen oder mein Essen in den Mensen zielsicher ansteuern."
Um Barrieren abbauen zu können, muss man um sie wissen. Jordan und Schliermann engagieren sich deswegen beide für Verbesserungen auf dem Campus. "Es gibt mittlerweile schon einige wirklich gute Leitfäden und Checklisten, an denen man sich orientieren kann", sagt Jordan. "Letztendlich sind sie aber nie abschließend." Bei der Organisation einer großen Tagung hätten mehrere Kolleginnen mit verschiedenen Handicaps zusammengearbeitet und die Hindernisse im Rahmen einer Ortsbegehung aufgespürt.
"Es zeigt sich, dass nur im Team nachhaltige Fortschritte hinsichtlich Barrierefreiheit und Inklusion erreicht werden können."
Rainer Schliermann
Schliermann arbeitet in seiner Funktion als Beauftragter für Inklusion und Ansprechpartner für Antidiskriminierung mit der Schwerbehindertenvertretung und der Beauftragten für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen zusammen. "Es zeigt sich, dass nur im Team nachhaltige Fortschritte hinsichtlich Barrierefreiheit und Inklusion erreicht werden können", so Schliermann. "Beispielsweise arbeiten wir aktuell an einem effektiven taktilen Leitsystem, damit blinde Personen und vor allem auch blinde Besucherinnen und Besucher unserer Hochschule gut und weitgehend selbstständig an zentrale Punkte unseres Campus finden."
Auch Jordan, die im Peer Counseling für Menschen mit Behinderungen ausgebildet ist, plädiert für Zusammenarbeit und Vernetzung: "Meine Empfehlung wäre, statt teurer Experten von außen Studierende und Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung ins Boot zu holen. Die wissen nämlich sehr genau, was benötigt wird. Der Bedarf an einer elektrischen Tür oder einem Leitsystem ist offensichtlich, anderes erfährt man aber eben erst durch den alltäglichen Gebrauch: was sich als zweckdienlich erweist und welche Lösungen sinnvoll sind."
"Meine Empfehlung wäre, statt teurer Experten von außen Studierende und Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung ins Boot zu holen."
Micah Jordan
An ihren Universitäten werde ihnen ein effektives Arbeiten ermöglicht, berichten Jordan und Schliermann übereinstimmend. Und so viel braucht es dafür auch gar nicht: Jordan benötigt vor allem etwas mehr Bewegungsraum rund um den Schreibtisch und in den Seminarräumen und einen Bürostuhl mit Armlehnen, in den sie sich umsetzen kann. Außerdem hat sie einen Sitzsack im Büro, um sich zwischendurch einmal auszustrecken. Bei Schliermann sind es im Wesentlichen eine spezielle Schreibtischlampe, um Textvorlagen optimal ausleuchten zu können, und ein portables Kamera-Lesesystem, das gedruckte Texte vergrößert und mit bestmöglichem Kontrast wiedergibt. Inzwischen tut es vielfach aber auch einfach das Tablet.
Wenig ausgeprägte Behinderungssensibilität
Verbesserungen im Hinblick auf Barrierefreiheit und Inklusion an den Hochschulen nimmt Schliermann durchaus wahr, diese würden seiner Wahrnehmung nach aber vielfach von der jeweiligen Hochschulleitung abhängen. Ohnehin sieht er als Problem, dass "die sogenannte Behinderungssensibilität insgesamt noch eher wenig ausgeprägt" sei. Es sei wichtig, "dass Studierende und auch Lehrende sensibel und selbstverständlich auf die Bedürfnisse von Menschen mit verschiedenen Behinderungen beziehungsweise Beeinträchtigungen eingehen können – ähnlich der vielleicht bekannteren sozialen Kompetenz oder emotionalen Intelligenz." Schliermann betreut gerade eine Doktorarbeit, die ein entsprechendes Messverfahren zur Erfassung einer solchen Behinderungssensibilität entwickeln soll.
"Menschen mit Behinderung werden unterschätzt", sagt Jordan und berichtet vom großen Engagement von Studierenden und Kolleginnen und Kollegen mit Behinderungen. "Die Behinderung sollte der beruflichen Verwirklichung nicht im Wege stehen. Sie ist schließlich nur ein Aspekt von mir."
„Pflicht der staatlichen Hochschulen zur digitalen und räumlichen Barrierefreiheit“
Die Pflicht der staatlichen Hochschulen zur digitalen und räumlichen Barrierefreiheit findet ihre rechtliche Grundlage insbesondere in der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 9 UN-BRK), im Grundgesetz (Art. 3 III 2 GG) und in dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (Bund als Träger der Hochschule) bzw. in den Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder (Land als Träger der Hochschule). Auch die Hochschulgesetze der Länder verlangen teils selbst ausdrücklich die barrierefreie Ausgestaltung ihrer Angebote (z. B. § 5b II 3 HG Berlin; § 4 VI 2 HG Bremen; § 2 IV HG Rheinland-Pfalz; § 5 VII 3 Nr. 1 HG Thüringen).
Nach Art. 9 I UN-BRK trifft die Hochschulen die Pflicht, bestehende Barrieren festzustellen und zu beseitigen. Sie haben also zunächst die Barrieren, die beispielsweise in räumlicher und digitaler Hinsicht bestehen, zu ermitteln. Zugänglichkeit ist von den Hochschulen allerdings gem. Art. 4 II UN-BRK erst „nach und nach“ herzustellen. Führt jedoch die fehlende Zugänglichkeit des Angebotes der Hochschule dazu, dass dieses von einem*r Studierenden mit Behinderungen nicht wahrgenommen werden kann, entsteht die sofort umzusetzende Pflicht der Hochschule zur Gewährung von angemessenen Vorkehrungen. Wird diese mangelnde Zugänglichkeit nicht durch eine angemessene Vorkehrung kompensiert, liegt eine verbotene Diskriminierung vor (Art. 24 V iVm Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK).
(Jana Hövelmann und Prof. Dr. Jörg Ennuschat, Ruhr Universität Bochum)