Symbolbild mit Silhouette einer übergroßen Männergestalt, die im Schein einer Schreibtischlampe eine viel kleinere Silhouette einer Frau mit erhobenem Zeigefinger maßregelt.
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Geschichtswissenschaften
Empfehlungen gegen Machtmissbrauch an Hochschulen

Historische Seminare sollen angstfreie Orte sein. Das ist das Ziel des neuen Leitbilds des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.

16.06.2025

Das neue Leitbild soll helfen, Fälle von Machtmissbrauch in Zukunft zu verhindern und die Aufmerksamkeit für gute wissenschaftliche Praxis im Fach zu steigern und zu festigen, meldete der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) anlässlich der Veröffentlichung. Man wolle Machtmissbrauch und den zugrundeliegenden Strukturen entgegenwirken. "Mit dem Leitbild möchten wir einen Beitrag leisten zu einer Fachkultur, die von einem respektvollen Miteinander geprägt ist", erläuterte der Verbandsvorsitzende Professor Lutz Raphael die Ziele des Verhaltenskodex. 

Der Verband hatte nach eigenen Angaben eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um Antworten auf drängende fachethische Fragen zu finden sowie individuellem Fehlverhalten und strukturellen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. 

Vorangegangen sei im Winter 2024/25 eine Umfrage, die erstmals das Ausmaß des Machtmissbrauchs in der Geschichtswissenschaft systematisch erfasst habe. "Machtmissbrauch und wissenschaftliches Fehlverhalten finden nicht im Geheimen statt, oft wissen viele davon", fasst Professorin Antje Flüchter, Sprecherin der Gruppe, die Ergebnisse zusammen. 

Umfrageergebnisse zeichnen Bild eines übergriffigen Umgangs 

Rund 600 Personen, die beruflich in der Geschichtswissenschaft tätig sind, hätten an der Umfrage teilgenommen und so ein breites empirisches Fundament für die Auswertung der Arbeitsgruppe gelegt. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses hätten Handlungen gestanden, bei denen Personen ihre eigene Weisungsbefugnis gegenüber anderen oder die Abhängigkeit anderer von ihnen ausnutzten. 

Die Befragung habe ergeben, dass die Arbeitssituation befristeter Beschäftigung auch die Phase ist, in der die meisten Antwortenden (mehr als 70 Prozent) direkte oder indirekte Erfahrungen mit Machtmissbrauch beziehungsweise Fehlverhalten gemacht hätten. Anlass zur Sorge würden die Rückmeldungen über die Häufigkeit von Fehlverhalten, Übergriffen und Machtmissbrauch geben: 35 Prozent der Befragten hätten angegeben, dass sich solche Fälle mindestens mehrmals pro Jahr bis zu täglich ereigneten. Frauen seien dabei häufiger persönlich von Fehlverhalten im Arbeitskontext betroffen als ihre männlichen Kollegen. Zu den Personen, die Machtmissbrauch ausübten, gehörten laut 72 Prozent der Teilnehmenden häufig betreuende beziehungsweise vorgesetzte Personen. 

"Die persönlichen Schilderungen der Betroffenen in der Umfrage haben für uns das Ausmaß und die Formen greifbar gemacht."
Professorin Antje Flüchter, Sprecherin der VHD-Arbeitsgruppe

"Die persönlichen Schilderungen der Betroffenen in der Umfrage haben für uns das Ausmaß und die Formen greifbar gemacht: Beleidigungen und abfällige Bewertungen, wutentbranntes Ordnerwerfen, subtiles Unterdrucksetzen, Aneignung von Arbeitsergebnissen, körperliche Zudringlichkeiten bis hin zu sexuellen Übergriffen", so Flüchter. Ein wesentlicher Beitrag für das Erreichen eines Kulturwandels könne durch eine intensivere Kommunikation zwischen allen Beteiligten gewährleistet werden. 

Mehr Respekt für Promovierende, Postdocs und Mitarbeitende 

Im Leitbild ist die Rede von einem "Wandel der Fachkultur" hin zu "wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen, die sich durch gegenseitigen Respekt, transparente und faire Arbeitsbeziehungen und eine konstruktive Fehlerkultur auszeichnen". Dies setze die Anerkennung der prinzipiellen Gleichheit und Freiheit aller am wissenschaftlichen Prozess Beteiligten voraus. Es müsse ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Machtmissbrauch gute wissenschaftliche Praxis in Lehre und Forschung behindere. 

Im Einzelnen empfiehlt das Leitbild beispielsweise für Promotionen die Begrenzung auf maximal zehn aktiv Promovierende in der Betreuung, die Trennung von Betreuung und Begutachtung sowie zu Beginn der Betreuungsvereinbarung ein klärendes Gespräch bezüglich gegenseitiger Erwartungen. Zusätzlich zu universitätsweiten Ombudspersonen solle es fachnahe Vertrauenspersonen für die Promovierenden geben. Für die Postdoc-Phase wird unter anderem ein begleitendes Mentorat angeregt sowie Gesprächsformate zur weiteren Karriereplanung, die beispielsweise von außeruniversitären Forschungsinstituten im Verbund mit Universitäten entwickelt werden könnten. 

Darüber hinaus beschreibt das Leitbild konkrete Maßnahmen gegen Machtmissbrauch in wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen. Dazu gehören ein dokumentiertes Erwartungsgespräch zu Beginn der Arbeitsaufnahme, standardisierte Arbeitsverträge sowie der Aufbau von Tenure-Track-Strukturen für den Mittelbau. Bezüglich Begutachtungsverfahren werden einführende Schulungen für Gutachterinnen und Gutachter mit expliziten Hinweisen zu Risiken und Fehlerquellen in dieser Rolle nahegelegt. Im Hinblick auf Publikationen wird das Verfassen von Selbstverpflichtungen der Autorinnen und Autoren zur Benennung aller Beteiligten sowie die genaue Festlegung von Zeitanteilen für die Mitarbeit an der Publikation in den Arbeitsvereinbarungen vorgeschlagen. 

Als strukturelle Veränderungen regt das Papier Informationsveranstaltungen oder laufende Fortbildungen zu Themen mit ethischem Bezug wie Gewalt oder Mobbing durch Vorgesetzte (Bossing) oder Fehlerkultur an. Sinnvoll seien ebenso Awareness- und Sensibilisierungsmaßnahmen für alle Fakultätsmitglieder zur Förderung der Selbstreflexion und des Bewusstseins für das Phänomen Machtmissbrauch. An vielen Einrichtungen habe sich die Einführung eines sogenannten Code of Conducts als Verhaltenskodex bewährt, auf welchen man im Konfliktfall verweisen könne. Empfohlen wird ebenso die Einrichtung kostenloser juristischer Beratung für alle in der jeweiligen Institution Beschäftigten.

cva